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Angststörung Wie viel Angst ist normal?

Angststörung: Verängstigte Frau
© I.Dr / Shutterstock
Dieses Jahr hat viele von uns das Fürchten gelernt: vor dem Corona-Virus, der Gefahr, einen geliebten Menschen zu verlieren, pleitezugehen oder eine zweite Welle aushalten zu müssen. Wie viel Angst ist normal? Und wann braucht man therapeutische Hilfe?

Angst ist ihr Metier. Dr. Babette Renneberg ist Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Freien Universität Berlin. Ihr Forschungsschwerpunkt: Angststörungen. Die zählten schon vor Corona zu den häufigsten psychischen Störungen in Deutschland, haben aber seit der Pandemie eine neue Aktualität bekommen.

BRIGITTE WOMAN: Wie erleben Sie als Psychotherapeutin diese Zeit?

Dr. Babette Renneberg: Das Thema Corona beschäftigt uns alle immer wieder sehr – auch durch die teilweise immer noch intensive Berichterstattung. Auf gesellschaftlicher Ebene ist diese Art der Krisenkommunikation absolut notwendig. Auf persönlicher Ebene schürt sie bei vielen jedoch oft starke Ängste. Wir Menschen neigen von Natur aus dazu, uns auf bedrohliche Information zu fokussieren, das gilt sowohl für die Angst vor der Krankheit selbst als auch für deren mögliche Folgen wie Arbeitslosigkeit oder einen wirtschaftlichen Abstieg. Dabei kann man ganz klar sagen, dass das Risiko, an Covid-19 zu erkranken, nach wie vor sehr gering ist.

Deutlich niedriger als die Wahrscheinlichkeit, im Straßenverkehr tödlich zu verunglücken.

Richtig. Das ist das Problem, wenn die eigentlich eher beruhigende Statistik von einer dramatisierenden Berichterstattung in den Hintergrund gedrängt wird. Dann steigt die Gefahr, dass begründete Vorsicht in unverhältnismäßige Panik umschlägt. Unter Umständen sind Menschen daher über einen längeren Zeitraum in einer Art Alarmbereitschaft und streiten sich letztlich sogar um Toilettenpapier. Dabei sind die Symptome einer Infektion in den meisten Fällen mild. Bei mir war das übrigens auch so.

Wann braucht man bei Angst therapeutische Hilfe?

Wir unterscheiden zwischen Angst und Angststörungen. Angst ist nicht nur normal, sondern sogar lebenswichtig. Sie schützt uns vor dem Abstürzen an steilen Abhängen oder anderen Gefahren und, ja, auch vor Ansteckung. Medizinisch und psychotherapeutisch relevant wird Angst erst dann, wenn die oder der Betroffene durch sie einen starken Leidensdruck empfindet und der Alltag durch die Angst deutlich eingeschränkt ist.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Viele Menschen haben einen gewissen Ekel oder Furcht vor Spinnen. Das ist nicht unüblich. Wer jedoch vor Angst nicht mehr die Wohnung verlassen mag, dem würde ich empfehlen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen und im ersten Schritt mit der Hausärztin oder einer Psychotherapeutin darüber zu sprechen. Hier gilt: Je schneller, desto besser, damit die Angststörung sich nicht noch ausweitet. Interessant ist übrigens, dass Spinnen-Phobiker tatsächlich sofort eine vorhandene Spinne entdecken, wenn sie einen Raum betreten – im Gegensatz zu Menschen, die keine Probleme mit den Tieren haben. Das konnte in Experimenten nachgewiesen werden. Unsere Wahrnehmung verändert sich also mit unseren Ängsten, wir fokussieren uns stärker auf für uns unheimliche und unkontrollierbare Objekte – und werden leider genau deswegen häufiger fündig. Dies erhöht wiederum dauerhaft das Gefühl der Bedrohung und Angst.

Und dann?

Folgt in Angstsituationen oft eine starke körperliche Reaktion. Unser Hirn sorgt für die Ausschüttung von Stresshormonen wie Adrenalin, die Knie werden weich, oder jeder Muskel spannt sich an, um flüchten zu können. So kann eine Panikattacke entstehen – und mit ihr unter Umständen Symptome wie Atemnot, Herzrasen, Schweißausbrüche, Zittern, Übelkeit und starke Angstgedanken wie: Jetzt sterbe ich! So kann aus einem verhältnismäßig kleinen Impuls ein großes Problem werden, und zwar rasend schnell. Das kann so weit gehen, dass man den Notarzt ruft, nur weil sich der Herzschlag aus einem ganz banalen Grund verändert.

Wie meinen Sie das?

Wenn ich mich hinlege, verändert sich automatisch der Herzschlag, das machen wir uns im Normalfall gar nicht bewusst. Aber wer schon mal Probleme mit dem Herzen hatte, etwa einen Herzinfarkt, der nimmt diese Veränderung eventuell anders wahr. Wir sprechen von Attribution, also was wir einem Gegenstand oder einer Situation zuschreiben: Mit einem klopfenden Herzen verbindet der eine Verliebtsein, der andere aber unter Umständen ein ernstes gesundheitliches Problem. Und die Angstreaktion darauf – da ist bestimmt wieder was mit meinem Herzen! – kann eben solche starken körperlichen Reaktionen hervorrufen.

Kopfkino also.

Das Interessante ist, dass diese Kaskade theoretisch auch wieder über die Gedanken veränderbar wäre. Denn genau die haben ja auch die Reaktion in Gang gesetzt.

Sie sagen, theoretisch …

Ja, denn in der Praxis ist es schwer, sich in einer solchen Stresssituation selbst zu regulieren. Zwar haben die Gedanken zu dieser Belastung geführt. Sich im Umkehrschluss aber klarzumachen, dass beruhigende Gedanken wiederum zur Entlastung führen könnten, fällt verständlicherweise schwer. Wer bereits eine schwere Erkrankung oder einen Schicksalsschlag überstanden hat, tendiert möglicherweise in einer Krisensituation wie Corona eher zu einer schnellen Aktivierung der Angstreaktion als andere. Verallgemeinern kann man das trotzdem nicht, denn es gibt auch Menschen, die durch solche Situationen sogar krisenfester und weniger ängstlich werden – nach dem Motto: Das schaffe ich jetzt auch noch.

Was hilft gegen die Angst?

Empirische Studien belegen, dass Angststörungen besonders gut auf kognitive Verhaltenstherapien ansprechen, durchgeführt von ausgebildeten und approbierten Psychotherapeut*innen. Dabei geht es vereinfacht gesagt darum, sich über seine Gedanken, Einstellungen und Erwartungen klar zu werden und belastende Denkmuster zu verändern. Eine große Rolle spielt die Exposition, auch Konfrontationstherapie genannt. Man arbeitet mit der betroffenen Person dabei gemeinsam darauf hin, sich den Angstsituationen bewusst auszusetzen – mit dem Ziel, die Angst zu bewältigen. Etwa bei Höhenangst auf einen Turm zu steigen. Voraussetzung dafür ist zwingend eine gute Vorbereitung der Behandlungsschritte. Die Patientin muss sehr gut verstehen, wie und warum die Behandlung so durchgeführt wird.

Aber man kann sich ja nicht unter therapeutischer Aufsicht anstecken oder Pleite machen.

Nein. Aber es kann hilfreich sein, die Sorgen zu Ende zu denken. Schritt für Schritt. Was ist Ihre Angst? Dass ich am Virus erkranke? Die Wahrscheinlichkeit besteht. Sorgen Sie sich, am Virus zu sterben? Auch das kann keiner zu 100 Prozent ausschließen. Was wäre dann? Setzen Sie sich ruhig bewusst mit Ihren Ängsten auseinander, und fragen Sie sich am Ende: Ist diese Angst jetzt gerade hilfreich? Ändert sie etwas an der momentanen Situation? Was macht sie mit mir? Das Durchspielen dieses Szenarios kann beruhigen, selbst ganz ohne Therapie. Es geht auch darum, zu akzeptieren, dass eine hundertprozentige Kontrolle nicht möglich ist.

Wenn wir uns unseren Ängsten stellen, werden sie weniger, sie nutzen sich quasi ab – richtig?

Tatsächlich erleben viele genau das. Angst ist eine Kraftanstrengung für den Körper. Unsere Aufmerksamkeit wird hochgefahren, Stresshormone werden ausgeschüttet, das Anspannungslevel ist sehr hoch. Das kann unser Organismus nicht unbegrenzt leisten. Die Bereitschaft erschöpft sich, es gibt eine Art Rückkopplung. Dann hören zum Beispiel sogar Panikattacken auf. Das merkt man auch jetzt, da wir schon einige Monate mit dem Virus leben. Die Angst, schwer zu erkranken oder zu sterben, wird insgesamt geringer. Ich habe mal im Flugzeug schwerste Turbulenzen erlebt. Viele Minuten dachte ich, nur noch aus Angst zu bestehen. Dann plötzlich entspannte sich alles in mir. Das ist ein klassisches Beispiel. Wir bezeichnen diesen Moment als radikale Akzeptanz. Wenn wir begreifen: "Egal, was ich mache, ich kann an der Situation nichts ändern", setzt dieses Gefühl und eine gewisse Entspannung ein.

Welche Reaktionen von Angstpatienten erleben Sie nach einer erfolgreichen Therapie?

Häufig ist da große Erleichterung – und gleichzeitig oft tiefes Bedauern darüber, welche Einschränkungen sie lange hingenommen haben und was sie durch ihre Angst alles verpasst haben. Denken Sie nur an Menschen, die kaum noch das Haus verlassen, soziale Kontakte meiden oder wegen ihrer Flugangst noch nie weit gereist sind. Sie verspüren oft einen großen Freiheitsgewinn durch ihre zurückeroberte Kontrolle über ihr Leben.

Können abgebaute Ängste wieder aufflammen?

Ja. Wir können Ängste nicht grundsätzlich aus unserem Leben verbannen, eben weil sie auch wichtige Funktionen haben. Wer früher bereits von starken Ängsten betroffen war, ist anfälliger.

Woher kommt Angst überhaupt?

Unser Anspannungsniveau ist individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt. Wir bekommen eine biologische Ausstattung mit auf die Welt. Erkennbar schon an Neugeborenen: Die einen schreien viel, die anderen schlafen. In diesem Temperament ist zum Teil unser Umgang mit Angst angelegt. Gleichzeitig spielen auch unsere Erfahrungen sowie die jeweilige Umwelt, in der wir leben, wichtige Rollen – und unsere Erziehung.

Meinen Sie damit Helikopter-Eltern?

Ja. Eltern möchten ihre Kinder vor Gefahren schützen, das ist normal. Sehr ängstliche, überprotektive Eltern könnten ihren Nachwuchs allerdings darum bringen, wichtige Kompetenzen und Eigenständigkeit zu erlernen. Kinder müssen mal hinfallen oder Fehler machen, selbst wenn es auch die Eltern schmerzt. Aber daraus lernen die Kinder den Umgang mit echten Gefahren und eben mit Angst.

Was kann uns allen helfen, besser mit Ängsten umzugehen?

Wir sollten uns vor Augen halten, dass unsere Umwelt sicherer geworden ist – statt den Fokus darauf zu legen, alles noch sicherer zu machen. Jede Kleinigkeit als ganz schlimm zu bewerten macht eine realistische Einordnung immer schwieriger. Auch unsere gesellschaftliche Entwicklung ist paradox. Wir wünschen uns, dass unsere eigene Sicherheit immer stärker garantiert wird – ohne zu verstehen, dass wir längst sicherer leben als jemals zuvor. Die Kriminalitätsrate sinkt nachweislich. Gleichzeitig rüsten Menschen in Deutschland mit Alarmanlagen und kleinem Waffenschein auf. 1980 gab es in Deutschland noch über 13 000 Verkehrstote, heute etwa 3000. Da stellt sich schon die Frage, warum ich in Berlin einen panzerartigen SUV brauche.

Dr. Babette Renneberg beschäftigt sich nicht nur als Wissenschaftlerin mit Angst: Sie arbeitet nach wie vor auch als Psychotherapeutin, insbesondere mit Patient*innen, die an Angst- und Persönlichkeitsstörungen leiden.

Lesen gegen die Angst

"Angst ist nichts für Feiglinge: Mein Exit aus der Panik":

Die Journalistin Susanne Kaloff berichtet sehr persönlich und heiter von ihrer Angsterkrankung und wie sie es herausgeschafft hat (240 S., 16 Euro, Fischer).

"Keine Panik vor der Angst! Angsterkrankungen verstehen und besiegen":

Das Buch erscheint zwar erst am 9. November, ist aber weit vorn, was die Kompetenz der Autoren Andreas Ströhle und Jens Plag angeht: Die beiden Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie leiten die Angst-Ambulanz an der Berliner Charité (250 S., 20 Euro, Kailash).

"Angst, Panik und Sorgen":

Auf psychologische-coronahilfe.de (eine Initiative u. a. der Deutschen Gesellschaft für Psychologie) gibt es den Beitrag mit zahlreichen fundierten Infos und konkreten Tipps, wie man in der aktuellen Situation Gefühlskrisen vorbeugen kann.

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BRIGITTE WOMAN 10/2020

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