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Allergiekranke Kinder: "Zu viel Fürsorge macht krank"

Allergiekranke Kinder: Kind beim Allergietest
© YAKOBCHUK VIACHESLAV / Shutterstock
Immer mehr Mädchen und Jungen leiden an Neurodermitis und Allergien – behandelt werden müssten allerdings auch die Eltern, sagt der Kinderarzt Dr. Peter Liffler.

Sie behandeln in Ihrer Klinik Kinder mit sogenannten ato­pischen Leiden, also Neuro­dermitis, Asthma oder Allergien wie Heuschnupfen. Und Sie schauen dabei auch auf deren Eltern. Warum?

DR. PETER LIFFLER: Viele der Kinder, oft auch schon Säuglinge, sind schwer krank. Sie haben starke Hautausschläge und kratzen sich ständig blutig. Natürlich sorgen sich die Eltern um sie. Ich habe aber festgestellt, dass die Mütter und Väter dazu neigen, zu klammern und ihre Kinder mit Fürsorge zu überschütten, was den Kindern nicht guttut.

Woran machen Sie das fest?

Die Kinder sind mehrere Wochen bei uns. Am Anfang haben die Eltern noch Probleme loszulassen: Sie tragen es ständig mit sich herum, lassen es in ihrem Bett schlafen, die Mütter stillen länger, als es für das Alter der Kinder angemessen ist. Wir zeigen den Eltern, warum es besser ist, ihren Kindern mehr Freiräume zu geben. Am Ende des Aufenthalts wirken viele der Mädchen und Jungen deutlich offener und fröhlicher, die Krankheitssymptome sind zurückgegangen. Parallel arbeiten wir natürlich auch mit den klassischen Therapiemethoden wie Hyposensibilisierung bei Allergien oder speziellen Cremes bei Neurodermitis.

Besteht da nicht die Gefahr, dass Sie die Familien zu sehr bevormunden?

Die meisten Eltern, die zu uns kommen, sind sehr froh, weil sie sehen, wie positiv sich ihr Kind verändert, nicht nur in Bezug auf die Krankheit. Sie haben die Chance, ihr Verhalten zu verändern, Routinen zu durchbrechen.

Einzusehen, dass ihren Kindern zu viel Liebe nicht guttut: Wie schwierig ist das für die Eltern?

Die erste Woche, in der die Familien bei uns in der Klinik sind, ist immer die schwierigste. Man muss die Eltern in Ruhe überzeugen. Und in 95 Prozent der Fälle gelingt uns das auch.

Sie sind ja der Meinung, dass übertrie­bene Fürsorge durch Mutter und Vater Einfluss auf den Krankheitsverlauf hat ...

Ich gehe sogar davon aus, dass dieses Verhalten den Ausbruch einer Krankheit begünstigt. Natürlich spielen dabei auch genetische Faktoren eine Rolle, viele der Eltern haben selbst atopische Beschwerden. Die Krankheit des Kindes ist häufig eine Stressreaktion: Es möchte sich entwickeln, sich ablösen, darf das aber nicht, weil die Eltern es dabei ausbremsen. Dieser Konflikt setzt das Kind erheblich unter Druck.

In einer Pilotstudie kommen Sie zu dem Schluss, dass Eltern, die selbst unter Neurodermitis, Asthma oder Allergien leiden, sensibler sind als andere Mütter und Väter. Oft sind sie weniger stressre­sistent, leichter erregbar, psychisch instabiler. Was bedeutet das für die Kinder?

Sind Eltern sehr sensibel, neigen sie dazu, sich ständig Sorgen um ihre Kinder zu machen, gehen oft symbiotische Beziehungen zu ihnen ein. Manchmal kann dann sogar eine psychotherapeutische Maßnahme sinnvoll sein, bei der Mütter und Väter nachhaltig lernen, mit ihrer Sensibilität besser umzugehen.

Stigmatisieren Sie hier nicht die Eltern?

Keiner soll sich durch unsere Studien angeprangert fühlen. Dass heute mehr Menschen unter Allergien, Neurodermitis und einer höheren Sensibilität leiden, hat für mich auch mit der größeren gesellschaftlichen Unsicherheit zu tun. Viele Partnerschaften zerbrechen, wer zum Mittelstand gehört, kann leichter in die Bedürftigkeit abrutschen als früher. Das Klima ist insgesamt rauer geworden.

BRIGITTE 10/2019

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