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Alkoholismus: Eine neue Therapie gegen die Sucht?

Brandyflasche und Glas vor betrunkenem Mann
© Vaclav Mach / Shutterstock
Der Arzt Dr. Olivier Ameisen war früher selbst alkoholabhängig. Durch Zufall hat er eine einfache Therapie gegen Alkoholismus entdeckt - vielleicht eine Hoffnung für viele.

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Vor fünf Jahren gab es weltweit nur einen einzigen Fall. Bis 2008 waren es acht oder zehn. Als das Buch in Frankreich und den USA herauskam, wuchs ihre Zahl schnell auf 300: schwerste Alkoholiker, die sich nach wenigen Monaten als geheilt bezeichneten. Dieser Tage erscheint Dr. Olivier Ameisens Bericht über eine neue, simple Therapie gegen Alkoholismus auch in Deutschland. Es ist das autobiografische Protokoll eines hochbegabten Musikers und Mediziners, der am Alkohol zugrunde geht - bis er ein Medikament findet, das ihn rettet.

Das klingt zu schön, um wahr zu sein, aber Ameisen beschreibt seinen Werdegang nachdenklich und differenziert. Seit der Kindheit, so erinnert er sich, litt er an irrationalen Ängsten - was angesichts seiner Familiengeschichte leicht erklärbar schien: Mutter und Vater waren polnisch-jüdische Holocaust-Überlebende. Seine Geschwister aber gingen viel unbekümmerter durchs Leben. Olivier Ameisen wächst in Frankreich auf, überspringt zwei Klassen, wählt zwischen einer Laufbahn als Konzertpianist und der Medizin und beginnt mit 16 zu studieren. Zügig macht er Karriere in der Kardiologie, geht 1983 nach New York, wird aber nie seine Panikattacken los. Anfangs bekämpft er sie mit Medikamenten.

Nach der Gründung seiner eigenen Praxis laufen die Ängste, die er bislang als "Hintergrundgeräusch" seines Lebens empfand, aus dem Ruder: Ständig leidet er unter dem "überwältigenden Gefühl, dass etwas Schreckliches geschehen wird". Und das einzige Medikament, das dagegen noch wirkt, ist Alkohol.

Heute ist Ameisen sicher, dass viele Süchtige unter ähnlichen Grundstörungen leiden: "Es ist wie ein körperlicher Schmerz - der unstillbare Drang nach Alkohol. Man weiß einfach, dass man sich mit einem Drink besser fühlen wird... und das stimmt auch! Alkoholiker sind schließlich keine Idioten."

Alkoholismus: Eine neue Therapie gegen die Sucht?
© PR

Ameisen kämpft gegen die Sucht. Er gibt seine Tätigkeit als Arzt auf, geht in teure Entzugs-Einrichtungen, nimmt alle verfügbaren Medikamente, wird Mitglied der Anonymen Alkoholiker. Doch was ihm für Monate das Leben rettet, kann den Rückfall nie lange verhindern: "Abstinenz ist ein Fulltime-Job. Man verbringt den ganzen Tag damit, sich zu sagen: 'Ich werde nicht trinken, ich darf nicht trinken.' Das ist kein Leben!"

Zufällig erfährt er von einem Patienten, der entdeckt hat, dass ihm das Medikament Baclofen gegen die Kokainsucht hilft. Und beginnt zu recherchieren: Baclofen ist eine schon seit den 60er Jahren gebräuchliche Substanz zur Behandlung von Muskelkrämpfen. Und offenbar auch ein Medikament für die Psyche. "Baclofen wirkt an ganz bestimmten Andockstellen, den GABA-B-Rezeptoren im Gehirn, die beruhigend wirkende Botenstoffe ausschütten", weiß Prof. Andreas Heinz, Direktor der Psychiatrie an der Berliner Charité.

Im Gegensatz zu vielen anderen Beruhigungsmitteln, die an einem anderen Rezeptor (GABA-A) wirken, macht das Medikament aber nicht abhängig. Ameisen probiert es aus, er ist Arzt, kann sich das Mittel selbst verschreiben. Und findet nach und nach heraus: Wenn er die Dosis dramatisch erhöht, wird ihm Alkohol plötzlich gleichgültig. Ängste und Unbehagen verschwinden, er fühlt sich zum ersten Mal richtig wohl. Die Nebenwirkungen: bis auf eine anfängliche Müdigkeit keine. Er nimmt das Medikament bis heute, jedoch in wesentlich geringerer Dosis. "Mir wurde anfangs von vielen Leuten dazu gratuliert, dass ich es geschafft habe, mit dem Trinken aufzuhören", erzählt er, "aber mit Baclofen hat mir das überhaupt keine Mühe gemacht."

Er beschließt, sich als alkoholabhängiger Arzt zu outen und seine Erfahrung in einer internationalen Fachzeitschrift zu veröffentlichen. Und er beginnt darum zu kämpfen, dass seine Entdeckung in klinischen Studien geprüft wird. Die Pharmaindustrie hat wenig Interesse: Das Patent für Baclofen ist ausgelaufen, mit der Substanz ist nicht viel Geld zu verdienen. Und die meisten Experten reagieren ablehnend auf Ameisens biologische Erklärung: Er glaubt, dass ein zu geringer Spiegel der Substanz GHB im Gehirn für Ängste, Unbehagen und Sucht verantwortlich ist. Baclofen ist für ihn das perfekte Mittel, um diesen Mangel zu beheben.

So sind es zunächst nur Einzelne, die durch Zufall auf seine Entdeckung stoßen. Etwa Noni Thiesen aus Montana: Die Mutter von zwei erwachsenen Söhnen ist seit Jahrzehnten schwer alkoholkrank. Die Fünfzigjährige hat neun Therapieversuche hinter sich, ist verzweifelt, von Scham und Schuldgefühlen zerfressen und dem Selbstmord nahe, als ihr Mann im Internet auf Ameisens Artikel stößt. Noni Thiesen nimmt den Bericht mit zu ihrem Neurologen, macht Versuche mit steigenden Dosierungen - bis sie plötzlich keinerlei Verlangen mehr nach Alkohol verspürt. Seit drei Jahren, so berichtet sie euphorisch, halte diese Wirkung an: "Für mich hat ein vollkommen neues Leben begonnen."

Solche Berichte klingen nach Wunderheilung. Aber inzwischen horcht die Fachwelt auf: "Die ersten kleineren Studien und individuellen Fallberichte sind sehr positiv. Entscheidende große doppelblinde Studien fehlen aber noch", weiß der Berliner Psychiater Heinz. Hilft Baclofen besser gegen die Sucht als ein Placebo? In zwei Jahren werden erste wissenschaftliche Therapiestudien Ergebnisse zeigen.

Auch andere Suchtmediziner auf der ganzen Welt beginnen mit Baclofen zu experimentieren und berichten von verblüffenden Erfolgen. Noch sind es Einzelfälle, oft Menschen, die hoch motiviert sind, sich selbst um die Behandlung bemühen und ihr Leben in den Griff bekommen, wenn es nicht mehr unter dem Diktat der Sucht steht. Niemand, nicht einmal Ameisen, behauptet, dass das Medikament die Probleme aller Süchtigen auf einen Schlag lösen könnte. Aber auch wenn es nicht die erhofften 90, sondern nur 10 oder 20 Prozent der Alkoholkranken wären, denen Baclofen hilft, wäre das schon eine Sensation.

Wer betroffen ist und es ausprobieren will, kann diesen Weg auch in Deutschland gehen. "Im Rahmen eines individuell ärztlich verantworteten Heilversuchs ist die Verordnung von Baclofen möglich", erklärt Prof. Andreas Heinz, "da das Medikament aber für diese Indikation nicht zugelassen ist, müssen besonders sorgfältig alle Risiken und möglichen Nebenwirkungen mit dem Arzt besprochen und die Kostenübernahme mit den Krankenkassen geklärt werden."

Dr. Olivier Ameisen ist nicht in seinen Beruf als Kardiologe zurückgekehrt. Er widmet sein Leben jetzt ganz dem Kampf um die weitere Erforschung seiner Entdeckung. Für die alte Ärzteweisheit "Wer heilt, hat recht" hat er seine eigene Wendung: "Der Beweis für den Pudding ist sein Geschmack."

Text: Irene Stratenwerth ein Artikel aus der BRIGITTE 19/09

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