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Experteninterview Wechseljahre als Chance sehen

Experteninterview: Eine Frau sitzt auf einem Sofa und Schaut lächeln Richtung eines Fensters
© wattana / Adobe Stock
Nichts als fiese Beschwerden, von Hitzewallungen bis Blasenschwäche? Nein, sagt die Gynäkologin Sheila de Liz: Die Wechseljahre sind eine echte Chance.

BRIGITTE: Sie haben vor Kurzem eine "Online-Klinik" ins Leben gerufen, um Frauen in den Wechseljahren zu beraten. Ist der Bedarf denn so groß, dass Sie ihn in Ihrer Praxis vor Ort nicht mehr decken können?

Dr. Sheila de Liz: Meine Praxis platzt aus allen Nähten und auch die Online-Praxis wird bereits überrannt. Wir sind dort fünf Ärztinnen und arbeiten jetzt an Lösungen, um noch mehr Frauen abzuholen, eventuell auch durch Gruppenberatungen. Es ist irre, wie enorm der Bedarf ist.

Mit welchen Beschwerden kommen die Frauen zu Ihnen?

Es ist ein Komplex an Symptomen: Es sind nicht nur die Hitzewallungen, sondern auch Schlafstörungen, der Verlust der Libido, Haarausfall, vaginale Probleme oder Harninkontinenz. Viele haben das Gefühl, sie haben die Kontrolle über ihr Leben verloren.

Das klingt alles andere als nach "fabelhaften" Wechseljahren, wie es im Untertitel Ihres Bestsellers "Women on Fire" heißt …

Fabelhaft ist, dass wir anfangen, den Fokus auf uns selbst zu stellen. Vorher sind wir dauerhaft regelrecht eingenebelt von Hormonen und deswegen auch in diesem Mindset drin, wir müssten uns um alle kümmern. In den Wechseljahren zwingt uns der Körper regelrecht dazu, uns zu fragen, was wir selbst wollen und brauchen. Und das ist toll.

Also eine echte Chance?

Absolut. Dieses Narrativ, ab Mitte 40 wirst du unsichtbar und gehörst zum alten Eisen, muss endlich aufhören. Wechseljahre sind nicht das Ende, es ist erst Halbzeit im Leben. Wir bestimmen, in welche Richtung es weitergehen soll. Man darf Frauen natürlich nicht im Regen stehen lassen, sie brauchen Begleitung.

Von vielen Frauen um die 50 hört man allerdings auch den Satz "Ich merk noch gar nichts".

Viele fangen schon in den 40ern an mit diversen Beschwerden, die sie aber nicht mit den Wechseljahren in Verbindung bringen: nachts wach liegen, neue Allergien, Autoimmunerkrankungen vor allem der Schilddrüse, Hautveränderungen, Herzstolpern. Wenn man zu Fachärzt:innen muss, bei denen man vorher noch nie war, etwa zum Orthopäden oder Kardiologen, lohnt es sich auf jeden Fall nachzuforschen, ob es nicht vielleicht an den Wechseljahren liegt.

Gibt es Symptomgruppen, für die manche besonders anfällig sind – zum Beispiel Frauen mit PMS für depressive Verstimmungen oder Frauen, die nach der Schwangerschaft einen schwachen Beckenboden haben, für Blasenschwäche?

Grob kann man das so einteilen. Wer eh schon ein sehr dehnbares Bindegewebe hat und damit auch einen schwachen Beckenboden, dessen Probleme können sich verstärken. Aber eine Harninkontinenz kann auch neu und ohne Beckenbodenprobleme auftreten durch einen Hormonmangel in der Vagina, denn die Haut an Harnblase und Harnröhre baut sich ohne Östrogen ab. Beckenbodenübungen sind, wenn sie richtig durchgeführt werden, immer Gold wert, weil der Beckenboden die Basis für die Stabilität unseres Körpers ist. Aber wenn der Verschluss der Harnröhre durch einen Hormonmangel geschwächt ist, helfen sie nur bedingt. Viele Frauen wundern sich dann, warum sie trotz des Trainings beim Husten oder Lachen immer noch Pipi verlieren. Eine genaue Diagnostik ist deswegen immer wichtig. Grundsätzlich gilt: So wie der Zyklus bei jeder Frau einzigartig ist, sind es auch die Wechseljahre.

Und sie sind wie ein Nach-Hause- Kommen, wie Sie mal gesagt haben. Was genau meinen Sie damit?

Vor der Pubertät hatten wir eine ungefähre Vorstellung, wenn auch eine kindliche, wer wir sind. Wir finden uns gut und unser Körper tut einigermaßen, was er soll. Aber dann kommt die Pubertät und wirbelt alles durcheinander. Die meisten Mädchen bekommen Probleme mit dem Selbstbewusstsein. Plötzlich wird man durch eine sexualisierte Brille gesehen, wird an anderen gemessen, muss sich die Frage stellen, was die Welt Frauen bietet außer schlecht bezahlten Jobs, gefährlichen Situationen und dem Zwang, sich zwischen Kind und Karriere entscheiden zu müssen, um nur einige der Herausforderungen zu nennen.

Man verliert sich durchaus in diesen Wirrungen, weil man versucht, alle zufriedenzustellen. Die Wechseljahre sind dann wie eine Passage, an deren Ende wir wissen, was wir nicht mehr wollen und nicht mehr sein wollen. Bei vielen Frauen stabilisiert sich das, was sie hatten, bevor sie mit der Pubertät in Schieflage gerieten. Sie sagen, ich bin jetzt wieder mehr ich. Das ist schon so ein Gefühl von Nach-Hause-Kommen: Ach, da bist du ja, die Person, die ich mal war. Jetzt darfst du wieder sein, wie du bist.

Sheila de Liz ist Frauenärztin, Autorin, u. a. des Wechseljahrs-Ratgebers "Women on Fire" (Rowohlt) und beratende Expertin von "Always Discreet".

Podcast- Tipp

Sheila de Liz ist auch zu Gast im BRIGITTE WOMAN-Podcast "Meno an mich". Die Folge und viele weitere mit Fachfrauen zu den Themen Frauengesundheit, Psychologie und Gesellschaft gibt es überall, wo es Podcasts gibt.

Brigitte

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