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Gym Shaming Woher kommt eigentlich unsere Angst vor dem Fitnessstudio?

Frau macht Sport
© (JLco) Julia Amaral / Adobe Stock
Schon mal was von Gym-Shaming gehört? Ein ziemlich überflüssiges Phänomen. Heide Fuhljahn weiß, wie blöd es sich anfühlen kann.

Neulich habe ich eine komplett neue Erfahrung gemacht, erstaunlich im fortgeschrittenen Ü40-Alter. Mein Leben als Freiberuflerin passte nicht zu meinen üblichen Kampfsport-Trainingszeiten, also beschloss ich, spontan an einem Pilates-Kurs teilzunehmen. Klarer Fall von Selbstüberschätzung: Ich mache regelmäßig Sport, das wird schon klappen, dachte ich. Wie schwierig kann diese spezielle Gymnastik auch sein?

Ziemlich. Der Kurs fand in einem Loft statt, durch die Dachfenster glomm das letzte Licht des Tages. Die dritte Übung war die Standwaage. Ich kippte um. Das Gleichgewicht halten konnte ich nie gut. Danach: das rechte Knie bis zum Bauchnabel hochziehen, kurz halten und dann das Bein lang nach vorn strecken. Ich fiel wieder um. Aus dem Vierfüßlerstand sollten wir in einen 3-D-Twist übergehen: den linken Arm erst waagerecht zur Seite strecken und dann zur Decke, der Oberkörper dreht sich, der Blick folgt der Hand. Es gelang nicht mal ansatzweise. Um es kurz zu machen: Ich erlebte 60 beschämende Minuten lang, wie wenig geschmeidig und standfest ich bin. Zumal alle anderen die Übungen konnten und schlanker und jünger waren als ich. Mit einer Scham, die bis in meine Haarspitzen glühte, schlich ich nach Hause.

Seitdem kenne ich das Phänomen Gymshaming oder auch Gym Anxiety, von dem man viel in den sozialen Netzwerken liest: die Angst, sich im Fitnessstudio zu blamieren – und sich deshalb gar nicht mehr hinzutrauen. Sie ist größer als der Impuls, dort mehr oder wieder Sport zu machen. Die einen fühlen sich durch mangelndes Wissen eingeschüchtert: Wie trainiert man die Faszien, wie funktionieren die Geräte? Andere wiederum fürchten, dass sie zu dick, zu alt oder zu unsportlich sind – für Fitnessstudios genauso wie übrigens für Sportvereine, Tanzflächen, Schwimmbäder oder Yoga-Studios. Ich zum Beispiel mag mir die Übungen nicht gerne von jungen Leuten erklären lassen, die wie Leistungssportler:innen aussehen, während ich selbst in Form einer Birne daherkomme.

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Die Scham vor dem Fitnessstudio kommt oft aus der Kindheit

Natürlich fühlen sich auch einige Männer unwohl beim Training, auch sie sind dem Druck ausgesetzt, dass ein trainierter Körper heute als Statussymbol gilt. Dennoch sind besonders Frauen von dieser Sport-Scham betroffen. "Beim Training kommt es oft zu einer Diskrepanz: Zwischen dem realen Körper und dem inneren Idealbild, das aus der Kultur und Sozialisation entsteht. Es gibt vor, wie man aussehen muss" erklärt Prof. Jens Kleinert vom Psychologischen Institut der Deutschen Sporthochschule Köln. "Wenn ich diesem Attraktivitäts-Selbst aber nicht entspreche oder mich als nicht leistungsfähig genug erachte, entstehen oft Ängste oder eben Scham. Wie alle frühen Lernerfahrungen sind diese Gefühle extrem schwierig zu verändern."

Die Ursachen zu verstehen, hilft. Die Scham vor dem Fitnessstudio ist oft die Fortführung einer Erfahrung, die viele Frauen im Kindesalter erleben: Ihr Körper wird abgewertet – und Sport dient als Erziehungsmaßnahme, um ihn zu ändern. "Meine Eltern sagten mir früh, dass ich zu dick sei, und in der Schule erlebte ich den Klassiker: Ich wurde beim verhassten Völkerball als letzte in eine Mannschaft gerufen", sagt die Soziologin Janine Berg-Peer. "Wenn ich beim Turnen nicht auf das Pferd kam, meinte die Lehrerin, dass ich weniger essen und mir mehr Mühe geben sollte. Das Lachen der Mitschüler:innen war ihr sicher. Seitdem hasse ich Sport. Das Merkwürdige ist: Wenn ich heute Fotos aus meiner Schulzeit angucke, sehe ich vielleicht etwas kräftig aus, aber keinesfalls dick."

Das Problem dabei: Diese frühen, beschämenden Erfahrungen fühlen sich oft individuell an, persönlich. Dabei sind die Lehrbücher von Sportsoziolog:innen, Geschlechterforscher:innen und Sportwissenschaftler:innen voll mit ähnlichen Beispielen. Das erfahren Frauen aber erst als Erwachsene – und bis dahin hatte die Scham Zeit, sich im Gehirn zu verankern. "In der Grundschule war ich richtig gut im Schwimmen, schneller als die Jungs", sagt Stefanie Opel, Bankbetriebswirtin. "Doch meine Menstruation begann, als ich neun wurde, ich hatte als Erste weibliche Rundungen und wurde als ‚Öltanker‘ beschimpft. Jetzt leide ich am Lipödem, Schwimmen würde mir guttun, aber ich wage mich nicht ins Schwimmbad. Ich fühle mich den Blicken ausgesetzt, und hinter meinem Rücken habe ich Rentner mal böse tuscheln hören."

Was wir dagegen tun können

Gut, dass sich zumindest langsam was ändert. Denn heute ist das Wissen darüber in der Welt und verändert die Rahmenbedingungen. Es gibt spezifische Kurse nur für Frauen, nur für Ältere, nur für Übergewichtige oder nur für Beeinträchtigte, das Schlagwort heißt: sicherer Raum. Für manche ist der zu Hause, beim Online-Sport, der inzwischen immer öfter auch von Frauen angeboten wird, die keinem Ideal entsprechen: wie die Yogalehrerinnen Jessamyn Stanley (@mynameisjessamyn) und Sophie Schwarz (@sophies_safespace). "In meinen Kursen soll die Hemmschwelle so niedrig wie möglich sein", sagt die 33-jährige Schwarz. "Meine Teilnehmerinnen müssen online nicht mal ihre Kamera anmachen. Ich will vermitteln: In meinem Safe Space ist es egal, wie ich aussehe, wie beweglich ich bin oder welche Kleidung ich trage. Die meisten Menschen mit Mehrgewicht haben eine ähnliche Geschichte und Schmerz. Das verbindet."

Jens Kleinert empfiehlt, der Scham aktiv entgegenzuwirken: "Ich kann auf meinen Körper stolz sein, gerade wenn er anders ist. Ich sehe nicht aus wie alle, ich bin besonders. Das Selbstbild zu ändern, geht nicht von jetzt auf gleich, nur ein rationaler Zugang reicht nicht. Aber ich kann mir ein Anderssein zugestehen", so der Arzt.

Ich arbeite daran schon seit vielen Jahren, es hört nie auf. Ich trainiere, um Kraft, Kondition und Bewegungsfreiheit zu gewinnen. Für den nächsten Pilates-Kurs muss ich noch Anlauf nehmen, bis dahin gehe ich zum Ju-Jutsu und zum Aqua-Gym. Auch, weil da keine Spiegel sind. Aber vor allem, weil ich mir den Spaß am Sport nicht nehmen lasse.

Buch: Allein unter Dünnen
Heide Fuhljahn erzählt in ihrem neuen Buch noch mehr darüber, was sie in einer Welt im Schlankheitswahn erlebt: "Allein unter Dünnen" (304 S., 18 Euro, Knaur).
© PR
Brigitte

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