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Die Lieblingssünde: Nachrichten ignorieren

Wir informieren uns. Wissen Bescheid, reden mit. Till Raether will von der Welt nichts mehr wissen und begeht: die Lieblingssünde

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Es hat immer wieder Phasen in meinem Leben gegeben, in denen ich alles Mögliche nicht gemacht habe: mich nicht bewegt, nicht gesund gegessen, nicht genug geschlafen, keine Briefe aufgemacht, nicht ans Telefon gegangen... Alles schon da gewesen. Sei's, weil ich zu faul, zu beschäftigt, zu verliebt oder zu sehr im Urlaub war. Eines aber habe ich nie unterlassen: mich zu informieren. Fernsehnachrichten machen mich eher nervös (wie viele Politikerinnen und Politiker, die mit dreistem Grinsen aus schwarzen Limousinen steigen, kann man sich anschauen, ohne verrückt zu werden?), aber die Tageszeitung und das Radio gehören zu meinem Leben wie Atmen und Fingernägelkauen. Sie erfüllen ein grundsätzliches Bedürfnis. Ich will wissen, was los ist. Und da ich mit Mitte dreißig zu einer Generation gehöre, deren prägende Jahre in die Zeit vor "Big Brother - Das Dorf" und "Sarah & Marc in Love" fielen, glaube ich an den "mündigen Bürger" und seine Pflicht, zu wissen, was im eigenen Land und in der Welt los ist. Seit kurzem aber beobachte ich an mir gewisse Verschleißerscheinungen. Wäre mein Leben nicht reicher, ursprünglicher, freier, wenn ich nicht tagaus, tagein Informationen in mich reinlassen würde, die am Ende der Woche bestenfalls Geschichte sind? Möglicherweise würde ich mich als unmündiger Bürger viel wohler fühlen, viel weniger genervt von der Welt, wie sie nun mal ist.

Was soll ich sagen: Schon am ersten Tag ohne Informationsaufnahme fühle ich mich, als würde ich die Welt, Guido Westerwelle und sämtliche Wirtschaftsweisen im Stich lassen, weil ich mich nicht mehr für sie interessiere. Ich habe das Gefühl, mich durch bloßes Nichtstun, Nichtslesen, Nichtshören aus dem viel beschworenen "Konsens der Demokraten" zu verabschieden. Kurz: Ich habe das Gefühl, eine Riesensauerei zu veranstalten, noch kürzer: Ich fühle mich prima. Bei allen Menschen, die ich kenne, laufen die Binnennachfrage, die Verfassungskrise der EU und der Nahe Osten als Nebengeräusch mit, ich genieße die Stille. Und male mir aus: Erst, wenn ich wieder eine Wahl-Benachrichtigung bekomme, gucke ich in der Zeitung nach und lasse mich überraschen, was sich so entwickelt hat in den letzten vier Jahren (oder drei oder zwei oder noch weniger, das geht ja heute schneller, als man denkt).

Heute, nach gut einer Woche, erfüllt mich eine große Leichtigkeit. Morgens beim Frühstück lese ich ein paar Seiten in einem guten Buch, und wenn Luise "Tagesschau" guckt, mache ich mir meine eigenen Gedanken. Gut, die sind jetzt auch nicht immer so wahnsinnig spannend, aber wenigstens kommt Wolfgang Kauder nicht drin vor. Die Zeit vergeht langsamer, seit ich das Verstreichen der Tage nicht mehr am Auftauchen neuer Steuerreform-Versionen bemesse. Mein Alltag fühlt sich an wie ein Spätsommerurlaub ohne Kiosk in der Nähe.

Dummerweise kann ich trotzdem nicht aufhören, mitzureden, wenn andere sich über Politik und Vermischtes unterhalten, dies ist naturellbedingt, und ich gebe keine gute Figur ab dabei. Aber das ist nicht der Grund, warum ich demnächst dann doch mal wieder in eine Zeitung schauen werde. Doch, mir fehlt was. Weniger die Gewissheit, meiner gesellschaftlichen Pflicht nachzukommen. Was mir fehlt, ist das Kontrastmittel. Das Grau der täglichen Informationen gibt einen guten Hintergrund ab, vor dem das eigene Leben in seinen schlechten Momenten nicht ganz so dunkel scheint – und in seinen guten umso bunter leuchtet.

Text: Till Raether BRIGITTE Balance 02/2005

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