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Sportsucht: Wenn Bewegung zur Droge wird

Sportsucht: Wenn Bewegung zur Droge wird
© Frazer/Corbis
Kontrollverlust und Entzugserscheinungen gibt es nicht nur bei Alkohol oder Nikotin: Wer Tag für Tag bis zur Erschöpfung trainiert, hat die Grenze zur Sportsucht vielleicht schon überschritten.

Fit werden, gesund leben, einen Ausgleich zur Arbeit finden: Wir treiben aus durchaus sinnvollen Gründen Sport - und werden bei längerer Anstrengung mit wohligen Glücksgefühlen belohnt. Wenn allerdings das Fitnessprogramm zum zentralen Lebensinhalt wird, wir immer härter trainieren und der Körper auf das Nichtbewegen mit Entzugserscheinungen wie Unruhe, Lustlosigkeit, Kopf- oder Magenschmerzen reagiert, tun wir unserer Gesundheit keinen Gefallen mehr. Dann laufen wir buchstäblich Gefahr, eine Sportsucht zu entwickeln.

Zwar ist die Sucht nach Sport kein Massenphänomen, doch gerade unter Ausdauersportlern wie Läufern oder Triathleten sei dies ein größeres Problem als gemeinhin angenommen, sagt Wolfgang Maier von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), der auch die Uni-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Bonn leitet. "Vor 30 Jahren haben Sie beim Spazierengehen andere Spaziergänger getroffen. Heute werden Sie ständig von Läufern überholt." Auch Gewichtheben könne man exzessiv betreiben, aber bei Sportarten, die sich über einen längeren Zeitraum ausführen lassen, sei die Suchtgefahr größer. "Wenn der Gebrauch als positiv erlebt wird und verbreitet ist, gibt es Personen, die den Konsum nicht begrenzen können und in der Folge abhängig werden. Das ist ähnlich wie mit Nikotin oder Alkohol. Kontrollverlust passiert immer dort, wo ich Mengen zu kontrollieren habe."

Sportsüchtige vernachlässigen ihren Partner, ihre Freunde oder ihren Job

Die Grenze zur Sucht ist dabei schwer festzumachen - ähnlich wie bei anderen Verhaltenssüchten wie etwa der Sucht nach Arbeit, Sex oder Shoppen. Im Unterschied zu stoffgebundenen Süchten, bei denen dem Körper etwas Greifbares (z.B. Drogen) zugeführt wird, beschäftigt sich die Wissenschaft noch nicht lange mit Verhaltenssüchten. Entsprechend überschaubar ist auch die Fachliteratur zum Thema Sportsucht. Doch eine Studie der Universität Erlangen-Nürnberg untermauert Maiers Einschätzung des Problems. Von den mehr als 1000 zu ihrem Trainingsverhalten befragten deutschen Ausdauersportlern stuften die Forscher 4,5 Prozent als gefährdet ein.

Für das Immermehr und Immerweiter vernachlässigen Sportsüchtige ihren Partner, ihre Freunde oder ihren Job. Rennen auch nachts noch los, selbst wenn die Ferse wund oder die Achillessehne gereizt ist. Die positive Wirkung des Sports auf die Gesundheit stehe dabei nicht mehr im Vordergrund, so Maier. Vielmehr eiferten Betroffene dem nächsten Runners High entgegen, was durch die vermehrte Ausschüttung von Glückshormonen wie Endorphinen entsteht. "Wie bei allen Süchten kann man sich an diesen Kick gewöhnen. Man erlebt ihn dann weniger deutlich und muss mehr einsetzen, um den erstrebten glückhaft erlebten Moment, den Kick, zu erreichen", erklärt der Psychotherapeut die Negativspirale der Sucht.

Die vielen Fitness-Apps und Vermessungsgeräte, die die eigene Leistung vergleichbar mit anderen machen, sieht Maier dabei nicht als Hauptproblem. "Diejenigen, die exzessiv laufen, laufen in der Regel für sich. Das ist eher eine Form von angestrebter Selbstoptimierung" - ein Perfektionsdrang, der insbesondere bei jungen Frauen häufig mit Essstörungen einhergehe. Sport- und Magersucht basieren beide auf einer Körperschemastörung. "Der Wunsch, den Körper zu formen, weil man sich körperlich unzulänglich ausgestattet fühlt, kann auch zu einer erlebten Fehleinschätzung des Körpers führen", sagt Maier.

Ein überwachter Trainingsplan kann aus der Sportsucht helfen

Jeden Bissen möglichst schnell wieder abtrainieren - dieses Muster ist im Kontext von Anorexie schon lange bekannt. Es wurde aber lange nicht gesondert betrachtet. "Sportsucht wird erst jetzt als Problem erkannt", sagt Maier. Sie werde zu wenig in der Gesellschaft thematisiert, selbst Mediziner hätten sich kaum damit befasst. Daher gibt es auch nur in Verbindung mit einer Essstörung gezielte psychotherapeutische Hilfe.

Ob mit oder ohne Essstörung: Allein ist es schwierig, die Sucht zu überwinden. Betroffene sollten sich an einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie wenden, empfiehlt Maier. "Solch eine Therapie liegt zwar außerhalb der Leistungspflicht der Kassen - weil es sich um keine anerkannte Krankheit handelt -, doch zumeist stecken hinter einer Sportsucht andere Konflikte und Probleme, die Krankheitswert haben können." Und anders als bei einer Alkoholsucht, wo Abstinenz das Ziel ist, soll Bewegung auch weiterhin zum Alltag gehören - allerdings mit einem gemeinsam überwachten Trainingsplan.

Einen Trainingsplan verfolgen Sportsüchtige übrigens in der Regel nicht. Sie lassen sich vielmehr von ihren Impulsen treiben, statt auf ein bestimmtes Ziel hinzuarbeiten. In der Siegerliste eines Stadtlaufs oder eines Triathlons stehen also mitnichten lauter Sportsüchtige. Exzessiver Sport ist keine Krankheit - kritisch wird es erst, wenn mein Training mich und meine Umwelt deutlich beeinträchtigt.
 

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