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Lebensmittel Was ist unser Essen noch wert?

Lebensmittel: Fleischtomaten
© Artorn Thongtukit / Shutterstock
Skandalöse Zustände in Fleischbetrieben, Lebensmittelpreise, die das befördern... Der Gastrosoph Dr. Harald Lemke plädiert für mehr kulinarische Intelligenz – und den Aufbruch ins Zeitalter des Genusses.

Verkaufsschlager während des Lockdowns waren Brotmischungen, Dosenravioli, Trockensuppen und Frischhefe. Was sagt das über uns?

HARALD LEMKE: Unser Kaufverhalten zeigt, wie divers unsere Gesellschaft beim Essen ist. Brot backen ist grundsätzlich super und eine Fertigmischung ein erster Schritt, vielleicht irgendwann ein Brot aus frischen Zutaten zu backen. Dosenravioli und Trockensuppen sind für die Food-Analaphabeten unter uns, und davon gibt es sehr viele in unserer Gesellschaft. Und Frischhefe - ein Lebensmittel für die Foodies, Brot als Inbegriff von Selbermachen, Sinnlichkeit und Esskultur.

Plötzlich waren die Regale leer.

Viele haben während des Shutdowns zum ersten Mal eine Art Lebensmittelknappheit erlebt - Mehl, Nudeln, Linsen gab's nicht mehr. Wir mussten Schlange stehen, bevor wir in den Laden durften ...

Ja, die Supermarktkulisse, die das kapitalistische Versprechen des Schlaraffenlandes transportiert, hat Risse bekommen. Plötzlich waren Regale leer, wir mussten warten - die tägliche Lust im Supermarkt fiel weg, die uns sonst ein gutes Gefühl gibt und uns hilft, Frust im Alltag zu kompensieren. Das hat deutlich gemacht, wie systemrelevant und wichtig Essen ist.

Bewusst wurde auch: Auf Spargelhöfen und in Großschlachtereien schuften viele Menschen aus dem Ausland, teils unter menschenunwürdigen Bedingungen.

Ja, die Spargelthematik hat die Produktionsverhältnisse in den Fokus gerückt: Dieser unsinnige, logistische Aufwand, Arbeiter aus dem Ausland kommen und unsere Spargel stechen zu lassen - weil der Lohn nicht stimmt, oder wir es nicht mehr selber können, obwohl wir zu Hause sitzen. Das zeigt die Absurdität unseres Systems. Und dann die Schlachthöfe, in denen Schwerstarbeit geleistet wird. Das alles schärft den Blick und stellt die Wertfrage neu: Wollen wir wirklich, dass unsere Lebensmittel so produziert werden? Das müssen wir jetzt als Gesellschaft diskutieren.

Haben wir aus Ihrer Sicht während des Lockdowns anders gegessen als vorher?

Corona hat die Funktionen des Essens wieder mehr in unsere Köpfe gerückt: die Gemeinschaft, das Strukturgebende. Viele haben sich mehr Zeit genommen, öfter zusammen gekocht und gegessen. Die Mahlzeiten haben dem Tag einen Rhythmus gegeben. Schaut man in der Philosophie, was ein wirklich gutes Leben ausmacht, dann stößt man durch alle Kulturen hindurch immer wieder auf kollektive Mahlfeier. Dass wir diese vermeintlich triviale Alltagspraxis wieder mehr wertschätzen, hat Corona ein Stück weit geschafft. Wir sind genießende Wesen, und genießende Intelligenz macht uns menschlich. Das unterscheidet uns von Robotern.

Für viele war die ganze Kocherei nicht nur Lust, sondern auch Frust. Spiegelt Essen im Krisenmodus die Bruchstellen – zwischen Menschen, die frisch kochen, und denen, die lieber Fertiges kaufen?

Ich glaube nicht, dass Corona die Situation verschärft, sondern eher verdeutlicht hat, wo wir stehen: dass da Gräben sind, zwischen arm und reich, zwischen gebildet und weniger gebildet. Die größte Katastrophe mit Corona aber war, dass die Krise gezeigt hat, in welchem Ausmaß Dinge politisch möglich sind.

Wie meinen Sie das?

Plötzlich ist da ein politischer Wille, ein starker Staat, viel Geld. Das zeigt: Wenn man wirklich wollte, hätte man schon lange vor Corona Dinge ändern können! Wenn es politisch opportun wäre, könnten beispielsweise die Lebensmittelpreise, die ja nicht den realen Kosten entsprechen, sondern durch niedrige Löhne und ausgebeutete Ressourcen künstlich niedrig gehalten werden, von einem auf den nächsten Tag umgestellt werden.

Leider hat auch der Verbrauch von Einwegplastik in den vergangenen Monaten zugenommen, weil wir viel "to go" gegessen haben. Und pro Jahr wirft jede*r von uns im Schnitt 85 Kilo Lebensmittel weg.

Wir leben in einer Wegwerfgesellschaft. Und der eigentliche Wegschmeißer sind die Haushalte, also wird. Und warum können wir wegwerfen? Weil Lebensmittel so billig sind. Es tut uns nicht weh. Essen hat keinen Wert. Ich sehe es bei meiner Mutter, die Sachen in den Müll tut, weil sie glaubt, mit dem abgelaufenen Haltbarkeitsdatum sei das Produkt ungenießbar. Solche Gewohnheiten werden von der Industrie unterstützt, denn unser tägliches Essen ist eine der größten Einnahmequellen der Wirtschaft.

Der Bewusstseinswandel wird dauern.

Wie können wir den Wert des Essens wieder mehr schätzen lernen?

Indem wir Zusammenhänge verstehen. Die Schlaraffenlandkulisse, die uns die Supermärkte vorgaukeln, triggert den uralten Traum, in einem Land zu leben, in dem Milch und Honig fließen. Und wir sind jetzt in der historisch einmaligen Situation, dass viele Menschen ein solches Schlaraffenland ganz real erleben können. Das System zu verändern, neue Strukturen für Landwirtschaft und Produktion, Einkaufsverhalten, Esskultur, Bildung und so weiter einzuführen, weil unser jetziger Lebensstil den Planten und die Menschheit zerstören wird, muss man gesellschaftlich wirklich wollen. Dieser Bewusstseinswandel wird dauern, und zwar eher Jahrzehnte als Jahre. Wir müssen noch Geduld haben.

Was glauben Sie: Was bleibt von Corona?

Vielleicht ist Covid-19 ein Tropfen, der die Bereitschaft erhöht, etwas zu verändern - hin zu einem nachhaltigeren Lebensstil. Wir müssen noch viel mehr reden, uns gegenseitig überzeugen, dass wir gastrosophischer leben wollen. Oder anders gesagt: Wir müssen uns bewusst werden, dass unser tägliches Essen ein gesellschaftspolitisches Thema ist, und uns daran beteiligen, in diesem Bereich ethisch zu handeln.

Brauchen wir ein viel schlechteres Gewissen, damit wir dieses Umdenken endlich hinbekommen?

Nein, wir brauchen gar kein schlechtes Gewissen, sondern Lust auf Alternativen. Das Einfach und gastroethisch Gute beim Essen kann genussvoll sein, kann schmecken, kann Spaß machen. Nicht mehr fliegen zu dürfen und stattdessen das Boot nehmen zu müssen, wäre eine wirkliche Entbehrung, weil es unbequem ist und länger dauert. Sich für kein oder weniger Tierprodukt zu entscheiden, ist zwar für einige auch ein Verzicht. Aber wenn ich lerne, dass ich einen ähnlichen kulinarischen Genuss erleben kann, ohne dass dafür Tiere getötet werden müssen, dann ist das doch prima. Was Kochkunst ausmacht, ist heute immer mehr eine Frage der Kreativität und des Tierwohls. Eine Kombi aus Ästhetik und Ethik.

Entscheidend ist nicht moralischer Rigorismus, sondern das Zusammenspiel von gutem Geschmack und gutem Gewissen.

Müssen wir dafür auf Fleisch verzichten?

Viele Probleme entstehen aus unserer fantasiearmen Fleischküche: das Leid der Tiere in den Fleischfabriken, die Zerstörung der Regenwälder für den Anbau von Futterpflanzen, die prekären Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen, die Skandale in der Fleischindustrie, die Gesundheitsschäden durch zu viel Wurst- und Fleischkonsum. Eine rein vegane Diät scheint mir allerdings zu dogmatisch. Entscheidend ist nicht moralischer Rigorismus, sondern das Zusammenspiel von gutem Geschmack und gutem Gewissen. Ich selber bin Flexitarier.

Was muss jetzt als Nächstes passieren?

Wir müssen all die Themen, die in der Corona-Krise aufgepoppt sind, zusammendenken: die Sicherheit der Lieferketten, die Gesundheit, die Arbeitsbedingungen, das Tierwohl, den Klimawandel, den genussvollen Alltag. Als gesellschaftspolitische Herausforderung ist die Ernährungswende weit größer, als die in Angriff genommene Energiewende, weil jeder jeden Tag isst. Nur gibt es dafür immer noch keine politische Agenda. Wir stehen in der Diskussion zur Ernährungswende da, wo wir bei der politischen Energiewende in den 1980ern waren: ganz am Anfang.

Brauchen wir ein Fukushima?

Vielleicht. Corona hat das Zeug dazu nicht gehabt. Wäre der Ursprungsort der Pandemie kein Wildtiermarkt, sondern ein Schlachthof gewesen, hätte das vielleicht einen Unterschied gemacht. Wir sammeln ständig Erfahrungen, die zeigen, wie notwendig die Ernährungswende ist - und ich bin sicher, sie wird kommen. Das geht gar nicht anders, wenn wir als Menschheit nachhaltiger leben und unsere planetarischen Lebensgrundlagen erhalten wollen. Wir müssen die Wirtschaftsstrukturen transformieren, wir brauchen andere Rahmenbedingungen wie eine andere Subventionspolitik in der Landwirtschaft. Aber in der Ernährungsfrage ist nicht nur die Politik, sondern auch jeder Einzelne gefragt - im Supermarkt, bei jeder Kaufentscheidung. Essen ist etwas Politisches, jeder Essakt ein weltschaffender Akt, denn Lebensmittel müssen vorher produziert, beworben, transportiert, verkauft werden.

Was die Erde braucht, ist ein Zeitalter des Genusses.

Haben Sie eine Vision von der Zukunft?

Wir befinden uns in einer epochalen Phase, vieles steht infrage. Business as usual ist gerade nicht angesagt, sondern große Fragen wie: Was machen wir mit dem Planeten? Eine Antwort könnte lauten: Uns Menschen ist eine kulinarische Intelligenz zu eigen - lasst uns diese einzigartige Fähigkeit weiterentwickeln und nicht mehr das Arbeitsleben, auch nicht die digitale Gesellschaft, sondern die Tischgesellschaft und das Mahlfeiern mehr ins Zentrum stellen - den täglichen Feierabend. Die moderne Gesellschaft hat genug gearbeitet die letzten 200 Jahre. Nun gilt es, nicht länger das gute Leben in die Zukunft zu vertagen. Was die Erde braucht, ist ein Zeitalter des Genusses.

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