Anzeige

Intuitives Essen: So geht Essen nach Gefühl

Intuitives Essen: Burger
© guruXOX / Shutterstock
Jahrelang waren hippe Ernährungstrends ihr heimliches Hobby. Jetzt bekennt sich Christine Hohwieler offen zu Schnitzeln und Schokolade. Weil nichts so guttut wie die Lust am Essen.

Tortenphobie? Dann wenigstens echte Kuh auf dem Teller

4 Grundsätze des intuitiven Essens:

  • Iss, wenn du körperlich hungrig bist.
  • Wähle, was dir schmeckt und guttut.
  • Genieße langsam und achtsam.
  • Höre bei angenehmer Sättigung auf zu essen.

Es war noch dunkel draußen, als ich die Augen öffnete, aber die Stimme in mir war wach, und sie erteilte mir einen Befehl. Er lautete: Porridge mit Milch. Jetzt! Ich lief in die Küche und tat, wonach ich seit Tagen heimlich gelechzt hatte. Keinen ungesüßten, veganen Mandeldrink, sondern echte Kuh im Topf. Haferflocken dazu, Honig drauf – und los. Mit trotziger Begeisterung löffelte ich die heiße, süße Pampe, sie war unfassbar lecker. Als die Schüssel leer war, verspürte ich keinerlei Reue. Und ich wusste, ich will mehr davon: Essen, worauf ich Lust habe. Halbwegs gesund, aber ohne groß darüber nachzudenken. Schön blöd, dass ich auf die Idee nicht schon früher gekommen bin.

Die Sache mit dem Veganismus war nur eine kurze Episode in unserem Leben.

Mein 19-jähriger Sohn hatte die Netflix-Doku "The Game Changers" gesehen, in der Profi-Athleten ihre Leistungsfähigkeit noch steigern, indem sie ihre Ernährung auf pflanzenbasierte Kost umstellen. Er wollte das einen Monat lang durch­­halten, ich machte aus Ehrgeiz mit. Nach zwei Wochen hatte ich ein notorisch hohles Gefühl im Bauch, nach drei Wochen glich mein Gesicht einem antiken Wandteppich: fleckig, vergilbt, glanzlos. Die Vegan-Challenge hat mein Sohn gewonnen, doch für mich war sie ein Weckruf.

Auch ohne den kompletten Verzicht auf tierische Produkte gehöre ich seit Jahren zur Gesinnungsgemeinschaft der ernährungsbewussten Großstädterinnen. Im Hängeschrank neben unserem Kühlschrank, direkt oberhalb der knallvollen Obstschale, drängeln sich Tüten mit japanischen Bio-Halbschatten-Grüntees, Quinoa und Amaranth, Goldleinsamen und Flohsamenschalen. Dazu Getreideflocken und Nüsse – die Müslimotten in unserer Küche sind kraftvoll und potent. Ich esse kein Fleisch, nie Fertigpizza, wenig Brot, kaum Süßigkeiten. Salat und Gemüse gibt es täglich. Wenn ich abends nicht einschlafen kann, tippe ich "Rote Bete Inhaltsstoffe" oder "Brokkoli gesund" bei Google ein, und dann weide ich mich an den Mineralstoffen unserer letzten Mahlzeit mit der gleichen irren Wonne wie an den Schulnoten meiner Tochter oder den Saisontoren meines Sohnes:

Alles ist gut, uns kann nichts passieren, der Wirsing wird’s richten.

Wer sich eingesteht, dass er beim Essen eine Vollmeise entwickelt hat und sich nach einer unbefangeneren Art der Nahrungszufuhr sehnt, stößt schnell auf die "Intuitiv Essen"-Bewegung. Es gibt Bücher, Blogs und Podcasts zu dem Thema, auf Instagram finden sich knapp eine Million Beiträge unter dem Hashtag #intuitiveeating. Im Kern dreht sich intuitives Essen darum, bei der Ernährung nicht auf irgendwelche Diätregeln zu achten, sondern auf die Bedürfnisse des eigenen Körpers zu hören. Frei von Selbstoptimierungszielen ist das Konzept nicht, Ratgebertitel wie "Intuitiv essen: aktiviere dein natürliches Schlankheitsprogramm" oder "Intuitiv abnehmen" lassen keinen Zweifel daran, worum es hier auch geht.

Tatsächlich existiert der Ansatz schon seit ein paar Jahrzehnten. Bereits 1995 haben die kalifornischen Ernährungstherapeutinnen Elyse Resch und Evelyn Tribole ihr erstes Buch über Intuitives Essen veröffentlicht, nachdem sie bei ihren Klientinnen beobachtet hatten, was laut wissenschaftlicher Studien fast unvermeidbar ist: dass sich die durch Diäten weggehungerten Kilos in kürzester Zeit wieder auf dem Körper breitmachen. Der berüchtigte Jo-Jo-Effekt.

Figur ist nicht mein vorrangiges Thema, ich wiege seit dem letzten Abstillen vor 14 Jahren vernünftige 63 Kilo – wenig überraschend im Fall einer leidenschaftlichen Gemüseköchin mit Tortenphobie. Natürlich gibt es auch auf meiner Waage Schwankungen von ein, zwei Kilo. Und selbstverständlich feiere ich die hohlwangigen 61, während mich hüftspeckige 65 mit Selbsthass erfüllen. Aber viel dünner muss ich nicht werden.

Ich decke mich mit Lektüre ein und blättere als Erstes im Ernährungsratgeber "Wohlfühlgewicht" von Dr. Mareike Awe, denn die Überschrift über dem Klappentext lautet: "So wird Essen zur schönsten Nebensache der Welt" – genau da will ich hin. Die Ärztin hat vier Grundsätze formuliert, auf der auch ihr zwölfwöchiges Online-Coaching-Programm "intueat" fußt.

Erstens: Iss, wenn du körperlich hungrig bist. Zweitens: Wähle, was dir schmeckt und guttut. Drittens: Genieße langsam und achtsam. Und viertens: Höre bei angenehmer Sättigung auf zu essen.

Das klingt sinnvoll und unkompliziert, und ich frage mich kurz, ob man sich wirklich 200 Seiten mit Selbsttests ("Wie ausgeprägt ist deine Diätmentalität?") und Mentalübungen ("Visualisiere dein Wohlfühl-Ich") geben muss, um ans Ziel zu kommen. Ich könnte doch einfach jetzt gleich anfangen, leckere Sachen zu essen, bis ich satt bin – und gut ist! Aber dann gestehe ich mir ein, dass es vielleicht genau das braucht, um mir den ganzen Ernährungswahnsinn auszutreiben, dem ich in den vergangenen zehn Jahren aufgesessen bin.

Zehn Jahre, in denen ich die 50 überschritten habe. In die Wechseljahre gekommen bin. Meinen letzten Rest jugendlichen Glows am Verschwinden hindern wollte. Menschen meines Alters an Krebs habe erkranken sehen. Und – um es noch komplizierter zu machen – den Zusammenhang zwischen Massentierhaltung und Klimawandel zweifelsfrei verstanden habe.

In dieser Dekade boomten bislang: Low Carb und die Paleo-Diät. Clean Eating und Intervallfasten. Gluten- und laktosefrei. Der US-Mediziner William Davis veröffentlichte "Weizenwampe. Warum Weizen dick und krank macht", Attila Hildmann behauptete in "Vegan for Youth", dass sich das biologische Alter mit einer veganen Ernährung um mindestens fünf Jahre zurückschrauben ließe. Bas Kasts "Ernährungskompass" befindet sich seit Monaten auf der Spiegel-Bestsellerliste – gern auf Platz eins (Und, Überraschung: "Man ist so jung, wie man isst"). Derweilen beantworten "Die Ernährungs-Docs" im NDR publikumswirksam jede Malaise von Akne über Klimakteriums-Beschwerden bis Zöliakie mit dem richtigen Food-Mix.

Ich habe keines dieser Bücher gelesen und sitze selten vorm Fernseher. Trotzdem wusste ich in den vergangenen zehn Jahren zu jedem Zeitpunkt, welche Nahrungsmittel gerade Rettung von ungefähr allen Übeln dieser Welt verheißen und welche unseren Untergang todsicher beschleunigen. Und das scheint nicht nur bei mir so gewesen zu sein: Er habe nach Regeln gelebt, die er "beim Blättern von amerikanischen Frauenmagazinen aufgeschnappt hatte oder auf zweifelhaften Gesundheitsseiten im Internet", schreibt der Reporter Nils Binnberg in seinem Buch "Ich habe es satt. Wie uns Ernährungsgurus krank machen". Binnberg entwickelte eine Orthorexia nervosa, eine Sucht nach gesundem Essen. Am Ende war er 20 Ernährungstrends – von Low Carb bis Clean Eating – gefolgt, immer in der Hoffnung auf ein "schlankeres, gesünderes, schlaueres Ich, das mit dem richtigen Essen all seine Lebenskrisen bewältigen könnte".

Die Ärztin Mareike Awe kontert die Besessenheit von Lifestyle-Diäten mit der Wiederentdeckung unseres natürlichen Essverhaltens, wie wir alle es als Kinder noch hatten – als wir nur bei Hunger aßen, was uns schmeckte, so lange, bis wir satt waren. Und sie empfiehlt den unbeschwerten Genuss von Pizza, Kuchen und Schokolade, denn:

"Nicht das Essen ist schuld daran, dass jemand dick wird, sondern das Verbot von Essen. Wenn man sich Pizza oder Schokolade untersagt, werden diese Lebensmittel nur umso interessanter und man verliert leichter die Kontrolle über sein Essverhalten."

Hier kommt dann die allgegenwärtige Achtsamkeit ins Spiel, mit der ich als intuitive Esserin unterscheiden lernen soll, ob ich gerade aus "Geisthunger" nach der Chipstüte greife – weil mir langweilig ist, weil ich Trost brauche oder gestresst bin – oder aus "Körperhunger". Der sich durch ein leicht flaues Gefühl im Bauch bemerkbar macht. Und durch Konzentrationsschwäche oder Magenknurren oder Kopfschmerzen, wenn man ihn zu lange ignoriert. Wer jetzt zur Pizza greift, solle sich aber fragen: Schmeckt sie mir tatsächlich gut? Wie fühle ich mich danach? Habe ich viel Energie, oder liegt sie mir im Magen? Bekömmlichkeit, so Mareike Awe, sei neben Geschmack und Hunger ein wichtiger Faktor für das Wohlfühlgewicht.

Jede Art von Junkfood habe ich mir vor Jahren erfolgreich abgewöhnt, das Stichwort Bekömmlichkeit trifft bei mir vor allem deshalb einen Nerv, weil ich öfter mal mit sturer Verbissenheit gesunde Nahrungsmittel in mich reinstopfe, auch wenn mein Körper längst um Gnade winselt. Hier sind insbesondere die acht Trockenpflaumen eine Erwähnung wert, die ich über mehrere Wochen täglich aß, weil sie laut einer US-Studie Osteoporose vorbeugen und altersbedingten Knochenabbau verhindern sollen. Wochen, in denen mein Sozialleben quasi zum Erliegen kam, weil jedes Gespräch durch das donnernde Gerumpel in meinen Gedärmen übertönt worden wäre.

Thomas Frankenbach, Ernährungswissenschaftler und Autor des Ratgebers "Somatische Intelligenz", erklärt die Bedeutung eines achtsamen Bauchgefühls anschaulich am Beispiel der Apfelesser in seiner Familie, die Massen von Obstbäumen auf ihrem Grundstück stehen hatten. Sein Großvater trug immer ein Taschenmesser mit sich herum, mit dem er jeden Apfel schälte. "Hätten Sie August Frankenbach gefragt, weshalb er seine Äpfel schält, hätte er Ihnen nicht geantwortet, 'wegen der Pestizide' oder 'wegen der Bakterien auf der Schale'. Er hätte gesagt: 'Weil ich meine Äpfel so besser vertrage.'" Das Apfel-mit-Schale-Essen gehöre längst zum Standardverhalten jedes gesundheitsbewussten Obst-Fans, kritisiert Frankenbach, obwohl die natürliche Wachsschicht auf der vitaminreichen Schale nicht jedem Menschen bekommt.

Die freundliche Milde meines ersten geschälten Apfels seit Jahren treibt mir fast Tränen der Rührung in die Augen.

Mir schon, trotzdem entpuppt sich das mit dem Messer als eine beeindruckende Erfahrung: Die freundliche Milde meines ersten geschälten Apfels seit Jahren treibt mir fast Tränen der Rührung in die Augen. Überhaupt finde ich die unterschiedlichen Erlebnisse beim intuitiven Essen ziemlich erfreulich. Sie wecken meine Neugier. Als ich an einem Spätnachmittag beim konzentrierten Schreiben im Büro einen ältlichen Schokoladenweihnachtsmann aus der Schublade krame und gegen die akute Unterzuckerung verputze, geht es mir glänzend. Einmal, beim Restaurantbesuch mit einem Freund, esse ich zum ersten Mal seit Langem ein Wiener Schnitzel mit Bratkartoffeln und Speck – ich verspürte akuten Futterneid, als er es für sich bestellte. Es schmeckt gut, aber ich merke: Das war kein echtes körperliches Bedürfnis.

Der vierte Grundsatz von Mareike Awes intuitivem Ernährungskonzept – auf seine Sättigung zu achten und aufzuhören, wenn man sich satt gegessen hat – erweist sich allerdings als harter Brocken. Als ich an einem Frühlingstag im Homeoffice arbeite, weht mir gegen Mittag ein würziger Tomatensoßenduft in die Nase. Mein Sohn hat uns eine Parmigiana gemacht. Die Sonne scheint in die Küche, der sämige Auberginen-­Mozzarella-Auflauf schmeckt absolut betörend, und wir schlemmen, bis wir fast von den Stühlen kippen.

Auf die innere Stimme beim intuitiven Essen ist trotzdem Verlass. Meine flüstert: Jetzt ein schönes Mittagsschläfchen! Und natürlich gehorche ich.

Zum Weiterlesen:

Mareike Awe: Wohlfühlgewicht. Wie du dich vom Diät-Zwang befreist und intuitiv deine Wohlfühlfigur erreichst (18 Euro, Knaur Balance)

Elyse Resch, Evelyn Tribole: Intuitiv abnehmen. Zurück zu natürlichem Essverhalten (9,99 Euro, Goldmann)

Nils Binnberg: Ich habe es satt! Wie uns Ernährungsgurus krank machen (12,95 Euro, Suhrkamp)

Thomas Frankenbach: Somatische Intelligenz. Hören, was der Körper braucht (14,95 Euro, Koha)

Holt euch die BRIGITTE-Leben – nur so lange der Vorrat reicht. Hier könnt ihr sie direkt bestellen.

BRIGITTE LEBEN 01/2020

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel