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Glutensensitivität: Deshalb ist die Selbstdiagnose so gefährlich

Glutensensitivität - Brotteller wird abgelehnt
© Lolostock / Shutterstock
Immer mehr Menschen glauben, Weizen nicht zu vertragen, und streichen Brot und Nudeln von ihrem Speiseplan. Studien zeigen jetzt: Diese Selbstdiagnosen sind alles andere als gesund.

Ungeschält ist Weizen eigentlich ein Wunderkorn, das den Menschen seit rund 50000 Jahren nährt. In ihm tummeln sich jede Menge gesunde Ballaststoffe, sekundäre Pflanzenstoffe, Vitamine und Mineralstoffe. Dennoch ist das Image des Weizens denkbar schlecht. Grund dafür ist sein Gehalt an Gluten, einem Kleber­eiweiß, das Brot seine leckere Struktur verleiht. Es steht im Verdacht, unverträglich, wenn nicht gar "giftig" zu sein.

Ohne Not auf das Getreide zu verzichten kann erhebliche Folgen haben

Viele Menschen streichen Weizen und andere glutenhaltige Getreide wie Gerste, Dinkel und Roggen darum von ihrem Speise­plan, weil sie sich eine bessere Verdauung oder weniger Gewicht erhoffen. Laut Umfragen glauben bis zu 30 Prozent der Deutschen, an einer "Glutenunverträglich­keit" oder "Weizensensitivität" zu leiden. Mediziner gehen jedoch von höchstens 1,5 Prozent aus – es gibt also zahlreiche Menschen, die ohne Not auf das Getreide verzichten.

Tut ihnen das wirklich gut? Eher nicht, wie aktuelle For­schungen zeigen. Langfristig könne ein Glutenverzicht sogar negative Folgen haben, warnen Wissenschaftler in einem Posi­tionspapier der Deutschen Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie (DGAKI): So beweisen diverse Studien, dass die Versorgung mit B­-Vitaminen, Vitamin D, Kalzium, Magnesium und Eisen in einer glutenfreien Ernährung zu kurz kommen kann. Zudem wird eine höhere Fettzufuhr mit mehr herzschädigenden Transfettsäuren beobachtet. Auch Zucker und Salz stehen häufiger auf dem Speiseplan.

Anstatt abzunehmen, nehmen viele durch die glutenfreie Kost sogar zu: Diese Dickmacher stecken in glutenfreien Produkten

Das ist bedenklich, aber nicht wirklich überraschend. Denn eine glutenfreie Diät ist eine Herausforderung: Man muss mehr kochen, weil in vielen verarbeiteten Lebensmitteln Gluten als Zusatzstoff beigemischt wird. Und da das heute für viele schwierig ist, greifen die Betroffenen auf Speziallebensmittel wie glutenfreies Gebäck, Mais-­Pasta oder Fertiggerichte zurück.

Doch die werden mit allerhand Hilfsmitteln wie Stärke, Polysa­cchariden sowie Emulgatoren aufgepeppt. Fett, Zucker und Salz verleihen Geschmack. Die – zudem oft überteuer­ten – Produkte haben also eine höhere Energiedichte. Einfa­cher gesagt: Sie sind kalorienrei­cher. "Anstatt abzunehmen, neh­men Übergewichtige durch eine glutenfreie Kost sogar zu", warnt Benjamin Lebwohl, Wissen­schaftler an der New Yorker Columbia University. Und nicht nur das. Der US-­Forscher hat im Jahr 2017 die Ernährungstage­bücher und Krankenakten von rund 110000 Probanden vergli­chen. Das Ergebnis: Wer Weizen mied, nahm auch weniger Bal­laststoffe zu sich und hatte dadurch ein um 15 Prozent erhöhtes Herzinfarktrisiko. Auch die Wahrscheinlichkeit, an Dia­betes zu erkranken, steigt.

Den Speiseplan besser abwechslungsreich gestalten: Quinoa, Buchweizen und Hirse sind glutenfreie und nährstoffreiche Getreidesorten

Zudem haben Weizenveräch­ter mehr Schwermetalle wie Arsen und Quecksilber im Blut. Der Grund: Sie verzehren häufiger Reis und Reiswaffeln sowie im Zuge der vermeintlich gesünderen Ernährung mehr Seefisch. Und diese Lebensmittel sind eher mit Schwermetallen belas­tet. Gefährlich ist dies laut dem Bundesinstitut für Risikobewer­tung (BfR) nicht, trotzdem sollte der Speiseplan besser abwechslungsreich sein.

Hirse, Buchweizen und Quinoa etwa sind glutenfreie und nährstoffreiche Getreidesorten. Ballaststoffe stecken auch in Hülsen­früchten, Gemüse, Obst und Nüssen. Also alles Lüge, was seit einigen Jahren über das Gluten ver­breitet wird? Den Glaubenskrieg um das Klebereiweiß dürften diese Nachrichten auf jeden Fall weiter anheizen. Sein schlech­tes Image hat das Klebereiweiß weg, seit Experten wie der US-­Kardiologe William Davis ("Weizenwampe") warnen, dass Gluten zu einem löchrigen Darm und in der Folge zu Überge­wicht, Rheuma, Asthma, Multiple Sklerose und Schizophrenie führe. Viele Wissenschaftler halten diese Behauptungen für Unsinn.

Was unbestritten ist: Dass Menschen mit Zöliakie oder Weizenallergie – und das sind etwa ein Prozent der Bevölke­rung – Weizen aus ihrem Essen verbannen müssen. Bei der Zöliakie etwa werden die Darmzotten, kleine Ausstülpungen auf der Innenseite des Dünndarms, durch Entzündungsprozesse regelrecht abrasiert. Unbehandelt kann sie zu Osteoporose und Darmkrebs führen.

Zöliakie oder Unverträglichkeit: Wie kann man eine Weizensensivität feststellen?

Für Zöliakie und Weizenallergie gibt es jedoch vergleichsweise einfache Diagnosemöglichkeiten. Schwieriger wird es bei der Unverträglichkeit; Betroffene klagen neben Verdauungsbeschwerden auch über Müdigkeit, Gelenkbeschwerden oder Hautprobleme, doch das Krankheitsbild ist unter Experten umstritten.

Eine Weizensensitivität zweifelsfrei zu entdecken, ist laut DGAKI nicht möglich, da es keine Biomarker gibt – auch wenn das manch ein Heilpraktiker oder Internetanbieter von Selbsttests behauptet. "Darum handelt es sich meist um Selbstdiagnosen", sagt Imke Reese, Co-Autorin des DGAKI-Positionspapiers. Und diese ließen sich in medizinischen Tests häufig nicht bestätigen. "Ob es eine solche Krankheit überhaupt gibt, ist darum in der Wissenschaft umstritten", meint Reese.

Weizenverzicht ist nicht die Ursache für Besserung: "Oft wird gleich die ganze Ernährung umgestellt"

Andreas Stallmach, Wissenschaftler an der Universität Jena, sieht das anders: "Für mich ist es bewiesen, dass es eine Weizensensitivität gibt, aktuelle Schätzungen gehen von ein bis 1,5 Prozent in der deutschen Bevölkerung aus. Diese Patienten sehen wir in der Praxis, ihnen geht es nach Ausschluss einer Zöliakie oder Weizenallergie mit einer weizenfreien Diät besser."

Höchstwahrscheinlich sei jedoch nicht das Gluten für diese Unverträglichkeit verantwortlich, sondern andere Stoffe im Weizen, sogenannte ATIs. "Sie können bei einigen Menschen Entzündungen im Darm und dann im ganzen Körper auslösen", so Stallmach weiter. Reese dagegen bezweifelt, dass es am Weizenverzicht liegt, wenn es den Betroffenen besser geht. "Oft wird gleich die ganze Ernährung umgestellt und zumindest anfangs mehr gekocht. Das allein wirkt sich in der Regel positiv aus, weil weniger Stärke und Zucker, dafür mehr Gemüse und Obst auf den Tisch kommen."

Der Nocebo-Effekt: Die Angst vor dem "Killerkorn" ruft Beschwerden hervor

Ein Teil der Symptome lasse sich auch mit dem Nocebo-Effekt erklären: Dabei senken negative Erwartungen die Endorphine im Blut, was Unwohlsein und Schmerzen verstärken kann. Eine vermehrte Neurotransmitter-Ausschüttung kann Ängste anfachen. Wer also wissentlich das "Killerkorn" verzehrt, wird dann auch von echten Symptomen geplagt.

Umgekehrt führt eine Diät mithilfe des Placeboffektes zu einer Besserung. "Einbildung ist das jedoch nicht. Diese Menschen haben wirklich etwas und brauchen fachkundige Hilfe", so Reese. Auch Stallmach betont, dass Betroffene einen Arzt aufsuchen sollten, anstatt eine Diät zu beginnen: "Der Arzt kann dann klären, ob es sich um eine Weizensensitivität handelt oder Krankheiten mit ähnlichen Symptomen, die eine andere Therapie brauchen."

BRIGITTE 05/2019

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