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"Kluge Leute trinken keine Cola"

"Kluge Leute trinken keine Cola"
© Petr Malyshev/shutterstock
Ernährungswissenschaftler Walter Willett mag es, mit seinen Äußerungen zu provozieren. Und gibt zu, dass die Ernährungsforschung nicht immer sauber gearbeitet hat.
Walter Willett
Professor Walter Willett ist studierter Mediziner und Ernährungswissenschaftler und leitet die Abteilung für Ernährungswissenschaften an der Harvard School of Public Health in Boston
© Andrew Burton/Getty Images

BRIGITTE: Jahrelang wurde uns eingetrichtert, dass Eier und Fette schlecht sind. Milch galt als gesund – nun ist alles wieder anders. Brauchen wir die Ernährungsforschung überhaupt, wenn sie sich so oft täuscht?

PROF. WALTER WILLETT: Ja, sogar ganz dringend! Als ich Ende der 70er Jahre anfing zu forschen, realisierte ich, dass es für viele Ernährungsempfehlungen keine wissenschaftlichen Belege gab. Zum Beispiel bei den Eiern: Keine Studie wies nach, dass ein hoher Eierkonsum zu mehr Herzinfarkten führte. Oder Fette: Sie wurden generell verteufelt, ohne wissenschaftliche Nachweise, dass sie tatsächlich schädlich sind. Wir brauchten also dringend Forschung und haben daher in Harvard vier große Langzeitstudien mit mehr als 300 000 Teilnehmern auf den Weg gebracht.

Seitdem haben wir viele, viele Daten gesammelt, über einen Zeitraum von 35 Jahren. Dabei haben wir zwar interessante Erkenntnisse gewonnen, zum Beispiel, dass nicht alle Fette schädlich sind und Ballaststoffe das Diabetesrisiko senken, aber keine Beweise, dass Eier das Herzinfarktrisiko erhöhen oder dass Milch vor Osteoporose schützt. Aber natürlich dauert es, bis sich die neuen Erkenntnisse in den Köpfen der Menschen festgesetzt haben. Wir müssen Vertrauen zurückgewinnen.

Also haben wir heute damit zu kämpfen, dass Ihre Kollegen nicht sauber gearbeitet haben?

Ja, genau, und die Öffentlichkeit ist zu Recht verwirrt. Ganz klar: Empfehlungen ohne Belege auszusprechen, ist schädlich. Genau das ist damals passiert. Die Experten sollten jetzt die gesicherten Erkenntnisse zusammentragen, Schlussfolgerungen ziehen und wissenschaftlich abgesicherte Ernährungsprinzipien formulieren. An der Harvard School of Public Health haben wir das getan und eine Ernährungspyramide erstellt, die nach unserem Kenntnisstand eine vertrauenswürdige Quelle für die aktuelle Ernährungsforschung ist.

Was wissen wir denn heute darüber, wie Essen unsere Gesundheit beeinflusst?

Transfettsäuren, also industriell gehärtete Fette, die vor allem in Backwaren, Frittiertem und Chips stecken, sind der größte Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Nicht ganz so schädlich, aber trotzdem ein Risikofaktor sind gesättigte Fettsäuren, die in rotem Fleisch, Wurst, Butter und Milch vorkommen. Ungesättigte Fettsäuren dagegen, die in Pflanzenölen, Nüssen, Avocados und fettem Fisch stecken, senken das Risiko, später an einem Herzinfarkt zu leiden.

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"Ideal ist die traditionelle mediterrane Ernährung"

Die WHO hat gerade Wurst als krebserregend und rotes Fleisch als wahrscheinlich krebserregend eingestuft ...

Meiner Meinung nach ist die Einschätzung eine vernünftige Zusammenfassung der wissenschaftlichen Daten. Wenn man entscheidet, was man isst, sollte man außerdem berücksichtigen, dass rotes Fleisch und vor allem verarbeitete Fleischwaren das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes erhöhen – im Vergleich zu Nüssen, Gemüse, Fisch und Geflügel als alternative Eiweißquellen. Das bedeutet nicht, dass man auf rotes Fleisch jetzt ganz verzichten muss, aber es sollte nicht jeden Tag auf den Tisch, sondern nur zu besonderen Anlässen. Und dann am besten Fleisch von artgerecht gehaltenen Tieren.

Die Liste der Verbote wird immer länger.

Jedes Lebensmittel, das von uns als ungesund bezeichnet wird, wird durch ein anderes ersetzt. Genau das ist passiert, als in den 80er Jahren zum Fettsparen aufgerufen wurde: Statt Fett haben die Menschen mehr raffinierte Kohlenhydrate gegessen, vor allem Weißmehlprodukte und Zucker. Und wurden dadurch immer dicker. Ersetzt man aber die tierischen Fette durch Gemüse und Pflanzenöle, ist das für die Gesundheit deutlich besser, weil es das schlechte Cholesterin im Blut senkt. Die entscheidende Frage lautet also: Wodurch ersetze ich die gesättigten Fette? Weder Fette noch Kohlenhydrate sind ja grundsätzlich schlecht, sondern es gibt von beiden Makronährstoffen gute und schlechte Varianten. Wir müssen stärker auf die Qualität des Essens achten und uns darauf konzentrieren, den Leuten zu sagen, was sie essen sollen, anstatt was nicht.

Und? Was sollen wir essen?

Unser Erkenntnisstand heute lautet: Eine Ernährung mit gesunden ungesättigten Fetten, Vollkornprodukten, Obst und Gemüse sowie Proteinen vor allem aus pflanzlichen Produkten reduziert das Risiko, an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und einigen Krebsarten zu erkranken. Ideal ist die traditionelle mediterrane Ernährung: viel Gemüse, Fisch, Pflanzenöle, Nüsse und Vollkorn.

Was dürfen wir noch ruhigen Gewissens essen?

Aber können wir mit unserem Essverhalten tatsächlich viel ändern – oder sind nicht am Ende die Gene entscheidend?

Nein, wir können sogar sehr viel selber tun. Die Menschen sterben heute vor allem an Herzinfarkten, Schlaganfällen und Diabetes. In einer unserer Langzeit-Studien kam heraus, dass man das Risiko, Herz-Kreislauf-Krankheiten zu bekommen, um 82 Prozent senken kann, wenn man nicht raucht, einen BMI im normalen Bereich hat, sich regelmäßig bewegt, wenig Alkohol trinkt und sich gesund ernährt. Das sind die Faktoren, die einen großen Einfluss auf die Länge des Lebens und eine hohe Lebensqualität im Alter haben. Das Problem: Nur drei Prozent der Befragten lebten tatsächlich so.

Es ist ja auch sehr genussfeindlich!

Klar, Essen soll schmecken. Aber wir können den Fakt nicht ignorieren, dass chronische Krankheiten wie Diabetes und Herzinfarkte auch bei jüngeren Menschen zunehmen – und sie sind zum großen Teil präventiv vermeidbar. Jeder muss letztendlich selbst entscheiden, wie er lebt, aber eine chronische Krankheit bedeutet auch, dass man sich schlecht fühlt. Das sollte man nicht vergessen.

Unterm Strich bleiben nur Obst und Gemüse, die wir noch bedenkenlos essen können, oder?

Auch hier findet gerade eine Differenzierung statt. Obst ist nicht gleich Obst und Gemüse nicht gleich Gemüse – nicht alle Sorten sind gut für uns. Studien zeigen, dass zum Beispiel Blaubeeren, Weintrauben, Pflaumen, Äpfel und Birnen das Diabetes-Risiko senken. Kartoffeln und Mais dagegen gehören nicht zu den guten Gemüsesorten, weil sie viel zu viel Stärke enthalten. Gut fürs Herz sind grüne Blattgemüse, rote, orange, gelbe Gemüse- und Obstsorten und gekochte Tomaten.

Was ist mit Milch? Die ist ja gerade sehr umstritten...

Wir haben in Studien bislang keine Beweise gefunden, dass ein hoher Milchkonsum Knochenbrüchen und Osteoporose vorbeugt. Dafür gibt es Hinweise, dass zu viel Milch das Darmkrebsrisiko erhöhen könnte. Wie viel wir trinken dürfen, darüber herrscht unter Experten keine Einigkeit. Meiner Meinung nach ist es gut, den Milchkonsum zu limitieren. Ein Glas pro Tag ist okay, dazu Joghurt und Käse in Maßen. Sojamilch und andere Milchersatzprodukte wie Reismilch oder Mandelmilch, die ja gerade sehr angesagt sind, weil viele Leute zu Unrecht glauben, an Kuhmilch-Unverträglichkeiten zu leiden, enthalten meist zu viel Zucker.

Was ist mit Butter?

Pflanzenöle sind grundsätzlich besser für die Blutfettwerte. Butter ist kein Gift, aber auch kein optimales Fett, also bitte – wenn überhaupt – in Maßen.

Und Weißmehl?

Der Körper wandelt es schnell in Glukose um, die Reaktion ist ähnlich wie bei Zucker. Das kann Insulinresistenz und Diabetes fördern, gerade, wenn man sich nur wenig bewegt.

"Kluge Leute trinken keine Cola mehr"

Es gibt Studien, die zeigen, dass Low-Fat- und Low-Carb-Diäten zu einem ähnlichen Gewichtsverlust führen...

Wenn man Kalorien reduziert, nehmen die Menschen erst einmal ab – egal, bei welchen Lebensmitteln man spart. Studien zeigen aber, dass es schwierig ist, eine Low-Fat-Ernährung über eine lange Zeit durchzuhalten. Der Nachteil ist, dass es viel Energie kostet und unzufrieden macht, auf Fett zu verzichten. Fett schmeckt und sättigt besser. Das müssen wir akzeptieren, und das ist auch okay, wenn es das richtige Fett ist.

In den USA wurden Transfette verboten. Die Steuern auf süße Softdrinks sollen erhöht werden, um Menschen abzuschrecken. Ist Zwang der richtige Weg zu einer gesünderen Ernährung?

Softdrinks erhöhen das Risiko, an Typ-2-Diabetes zu erkranken, und tragen zur Übergewichtsepidemie bei. Ich halte eine Besteuerung daher für einen guten Schritt, aber nur, wenn dazu aufgeklärt wird, warum die Getränke ungesund sind und wodurch man sie am besten ersetzt – nämlich durch Wasser. Wenn alle auf Fruchtsäfte umsteigen, ist das gesundheitlich nicht viel besser. Bei den Transfetten kann man sagen, dass das Verbot in den USA geholfen hat. Die großen Konzerne verzichten inzwischen darauf.

Essverhalten ist ja auch kulturell verankert. Kann man seine Gewohnheiten überhaupt ändern?

Natürlich nicht über Nacht, aber es geht. Ich bin auf einer Farm aufgewachsen, bei uns gab es oft rotes Fleisch und Kartoffeln. Trotzdem habe ich es geschafft, anders zu essen. In den USA sehen wir bereits Veränderungen. Nehmen wir die Fette: Nachdem vor ihnen gewarnt wurde, sank der prozentuale Anteil von Fett an der Ernährung von 42 auf 33 Prozent. Der Konsum von Softdrinks ist innerhalb von zwölf Jahren um 25 Prozent zurückgegangen. Kluge Leute trinken keine Cola mehr. Wir können uns verändern, aber nicht von einem Jahr zum nächsten.

Soll man am besten mit kleinen Schritten anfangen?

Menschen, die sehr motiviert sind, können ihre Ernährung auch auf einen Schlag umstellen. Sie werden schnell merken, dass sie sich besser fühlen, dass sie abnehmen, und das verstärkt wiederum ihre Motivation, dabeizubleiben. Das Problem an kleinen Veränderungen ist, dass man sie kaum bemerkt. Das Ziel, später vielleicht mal keinen Herzinfarkt zu bekommen, ist abstrakt und weit weg. Daher plädiere ich für eine richtige Umstellung der Ernährungsgewohnheiten. Die Veränderungen, die ich meine, sind übrigens nicht besonders schwer umzusetzen: statt feingemahlenes Weißmehl besser die Vollkornvariante, statt rotes Fleisch mehr Pflanzenprotein, Fisch und Geflügel, statt Kartoffeln und Reis lieber Gemüse, statt tierischen Fetten mehr ungesättigte Fette aus flüssigen Pflanzenölen, Nüssen, Avocados und Oliven. Und den Verzehr von Zucker und Salz möglichst gering halten.

Wird es so sein wie mit dem Rauchen, dass die Leute sagen: "Igitt, du isst ja noch Rindfleisch!"?

Ja, bei süßen Getränken ist das schon so – zumindest in den höheren Einkommensschichten. Die sozialen Normen sind dabei, sich zu ändern.

"Es ist entscheidend, wie wir unsere Kinder ernähren"

Auch in Deutschland ist Ernährung stark vom Einkommen abhängig. Was muss passieren, damit sich alle gesundes Essen leisten können?

Eine einfache Lösung gibt es nicht. Mit einer Kombination aus Aufklärung und politischen Maßnahmen müssen wir es schaffen, dass gesundes Essen nicht nur für Reiche erschwinglich ist. Sonst bekommen wir irgendwann ganz andere soziale Probleme.

Sie haben jetzt 40 Jahre lang unser Ernährungsverhalten studiert. Wie werden wir in 40 Jahren essen?

Auf jeden Fall gesünder. Auch, wenn zurzeit eine große Verwirrung beim Essen herrscht: Die Informationen, die wir heute haben, können die Grundlage für Ernährungsempfehlungen sein.

Auf welchen Gebieten brauchen wir noch mehr Forschung?

Wir müssen mehr darüber wissen, wie sich die Ernährung in der Kindheit auf das spätere Leben auswirkt. Eine unserer Studien mit zehn- bis 14-jährigen Schülerinnen ergab, dass der Konsum von rotem Fleisch das Brustkrebsrisiko erhöht. Es ist also entscheidend, wie wir unsere Kinder ernähren. Und auch die Auswirkungen des Essens auf neurogenerative Krankheiten wie Demenz müssen wir erforschen.

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