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Die Macht des Essens Können wir auch anders essen? Eine Schuldfrage

Die Macht des Essens: Eine Auswahl ungesunder, hochverarbeiteter Lebensmittel
© beats_ / Adobe Stock
Billig, aufwendig produziert, lange haltbar: Wir essen immer mehr Lebensmittel, die unserem Körper nicht guttun. Selbst schuld? Nicht unbedingt.

Wir wollen ja: Dinkel statt Weißmehl. Haferflocken statt karamellisiertes Granola. Gemüsepfanne statt Tiefkühlpizza. Doch dann schlägt die Realität zu: wenig Zeit oder keine Lust zum Kochen, die Regale im Supermarkt voll mit Verlockungen – einfach zuzubereiten und gut im Geschmack.

Essen hat mehr Macht über uns, als wir ahnen. Es steuert unsere Gefühle, verändert unser Gehirn, hebelt unsere Willenskraft aus – denn Lebensmittelhersteller werden immer besser darin, ungesunde Kombis aus Zucker und Fett so verlockend zu machen, dass wir nicht widerstehen können. Forscher:innen haben einen neuen Schuldigen ausgemacht: die hochverarbeiteten Lebensmittel.

Was bedeutet "hochverarbeitet"?

Billig, aufwendig verpackt und hergestellt, lange haltbar und mit endloser, kryptischer Zutatenliste – so könnte man es knapp auf den Punkt bringen. Laut der Lebensmittelklassifizierung "NOVA" haben die sogenannten "Ultra processed foods" (UPF) mehrere Verarbeitungsschritte hinter sich und liefern eine ganze Reihe an Zutaten, die nicht ohne Chemie-Kenntnisse zu verstehen sind – wie modifizierte Stärke, Proteinhydrolysate oder Zusatzstoffe mit E-Nummern. All das steckt z. B. in Softdrinks, Süßigkeiten, Wurst- und Fleischersatzprodukten, Cerealien, Backwaren, Eis-creme, Proteinriegeln, aber auch Fertiggerichten wie Tiefkühl-Pizza und Trockensuppen. Lebensmittel, die den Herstellern hohe Gewinne beschweren.

Und was ist so schlimm an denen?

Rund 50 Prozent der täglich in Deutschland aufgenommenen Kalorien stammen inzwischen aus diesen Lebensmitteln – doppelt so viel wie noch vor zehn Jahren. Gleichzeitig steigen die Zahlen für Übergewicht, Diabetes, Herzleiden sowie Tumorerkrankungen. Mehr als die Hälfte der Deutschen ist übergewichtig, ein Fünftel adipös. Und es gibt immer mehr aktuelle Studien, die einen Zusammenhang zwischen beiden Entwicklungen vermuten lassen. Zum Beispiel eine US-Untersuchung von 2019, die herausfand, dass rund 500 Kalorien mehr am Tag durch hochverarbeitete Lebensmittel aufgenommen werden. Wer viele UPFs auf dem Speiseplan stehen hat, hat ein höheres Risiko für Übergewicht, Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck, Herzinfarkt, Schlaganfall, Depressionen oder Demenz. "Die Hinweise aus vielen Studien sind stark genug, um von Fertiglebensmitteln abzuraten", sagt Stefan Kabisch, Stoffwechselexperte an der Charité in Berlin. Und: Der weit verbreitete Konsum dieser Produkte trägt dazu bei, traditionelle Ernährungsweisen und Mahlzeitenstrukturen aufzuheben. Die Folge: Viele von uns essen heute sehr unregelmäßig, manchmal noch spät am Abend.

Was passiert im Körper, wenn wir zu viel davon essen?

Was diese Lebensmittel so schädlich macht: Es sind wahre Fett-Zucker-Salz-Bomben, reich an künstlichen Aromen und Konservierungsstoffen. Und: Sie liefern viele Kalorien, die meist aus schlechten Quellen stammen. "Die Produkte enthalten oft viel Fett, insbesondere gesättigte und Trans-Fettsäuren, sowie zugesetzten Zucker", sagt Antje Gahl von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE). Zudem sind sie arm an Eiweiß, Ballaststoffen, Vitaminen, Mineralstoffen und anderen bioaktiven Verbindungen. Leider sind wir so gepolt, dass wir essen, bis wir satt an Eiweiß sind. Und dabei quasi als Kollateralschaden massenhaft Kalorien aufnehmen. Andererseits finden sich in den UPFs Substanzen wie Acrylamid aus Raucharomen, die bei der Erhitzung entstehen und in großen Mengen krebserregend sind. Neue Studien zeigen außerdem, dass Emulgatoren und Süßstoffe das Mikrobiom stören und Entzündungen im Körper fördern können. Das schadet übrigens auch schlanken Menschen, bei denen sich unbemerkt Fett im Bauchraum bildet, vor allem in der Leber.

Warum können wir nicht aufhören, Fertiglebensmittel zu essen?

UPFs sind so konzipiert, dass sie uns quasi "süchtig" machen – uns also durch Geschmack, Konsistenz und Zusammensetzung dazu bringen, immer mehr zu essen. Fatal: Einerseits erhält unser Körper keine adäquaten Sättigungssignale. Andererseits triggern fett- und zuckerhaltige Lebensmittel im Gehirn Belohnungssysteme, die auch bei Sex oder Drogen anspringen. Wir wollen also immer mehr. Zudem wird das Gehirn durch regelmäßigen Nachschub von Zucker und Snacks neu verdrahtet. "Durch diese Veränderungen im Gehirn werden wir unbewusst immer die Lebensmittel bevorzugen, die viel Fett und Zucker enthalten", so Marc Tittgemeyer vom Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung.

Trickst die Lebensmittelindustrie absichtlich aus?

Hochverarbeitete Lebensmittel werden oft aggressiv beworben. Aus der Forschung weiß man, dass allein das Ansehen von energiedichten Speisen den Appetit anregt und zugreifen lässt, auch ohne Hunger. Aber auch die Rezeptur macht Lust auf mehr. Laut dem britischen Arzt Chris van Tulleken wird Supermarktware immer weiterentwickelt, um am hart umkämpften Food-Markt zu bestehen. "Und zwar so, dass sie die Systeme im Körper, die das Gewicht und viele andere Funktionen regulieren, unterlaufen", schreibt er in seinem Buch "Gefährlich lecker – wie uns die Lebensmittelindustrie manipuliert, damit wir all die ungesunden Dinge essen – und nicht mehr damit aufhören können".

Können wir also gar nichts dafür, wenn wir zunehmen?

Fachleute sprechen heute von einer adipogenen Umwelt, in der wir leben: eine Umwelt, die uns krank und übergewichtig macht. In den USA machen die UPFs bereits mehr als zwei Drittel aller Waren in den Supermärkten aus. Bei uns sieht es nicht viel besser aus, das macht es natürlich schwer, ihnen zu widerstehen. Aber klar, wir könnten natürlich auch mehr kochen, das wäre besser für unsere Gesundheit: mit frischen, unverarbeiteten Zutaten, Gemüse, Obst, Hülsenfrüchten und Vollkorngetreide.

Brauchen wir strengere Gesetze?

Ja, glauben viele Expert:innen, denn der Markt allein wird es nicht richten. Zuerst mal müsste von Industrie-Lebensmitteln in den offiziellen Ernährungsempfehlungen abgeraten werden. Auch verpflichtende Warnhinweise auf Verpackungen, Verbot von Junk Food in Schulen, Werbebeschränkungen und steuerliche Anreize wie eine Zuckersteuer könnten laut DGE den Konsum von hochverarbeiteten Lebensmitteln und damit auch Adipositas und ernährungsbedingte Krankheiten verringern. Gleichzeitig gilt es, hochprozessierte Lebensmittel gesünder zu machen.

Schaden die Produkte der Umwelt?

Oh ja. "Die Herstellung hochverarbeiteter Lebensmittel ist mit intensiver Landwirtschaft verbunden, die für die Verdrängung nachhaltiger Landwirtschaft, Abholzung von Wäldern, Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden sowie reduzierte Biodiversität verantwortlich ist", sagt Antje Gahl von der DGE. Auch die Aufspaltung von frischen Lebensmitteln wie Weizen oder Soja in viele Einzelteile ist ressourcenintensiver als Frischkost. Und zu guter Letzt trägt die Verpackung zur weltweiten Plastikverschmutzung bei. Studien zeigen: Würden wir auf diese Lebensmittel verzichten, könnten wir die Klimabilanz unserer Ernährung um 25 Prozent reduzieren.

Brigitte

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