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More than a Feeling Wie ASMR mir half, meine Angst zu bändigen – ein Erfahrungsbericht

ASMR: Manchen bringt es nichts, doch mir half es, mit meiner Angst umzugehen-
ASMR: Manchen bringt es nichts, doch mir half es, mit meiner Angst umzugehen.
© Jorm Sangsorn / Adobe Stock
Für die einen bringt ASMR überhaupt nichts, für die anderen ist es ein "Orgasmus des Gehirns". Mir half es dabei, eine schwere Phase meines Lebens zu bewältigen.

Der März 2020 dürfte ein Monat sein, an den sich viele Menschen noch lange erinnern werden. Jede Person hat wohl ihren ganz persönlichen Moment, in dem sie die Gewissheit überkam, dass die "Normalität", die ihren Alltag ausmachte, die "Sicherheit", die sie verspürte, von nun an ein Ding der Vergangenheit war.

Auf einmal war die Welt vor der eigenen Haustür zu einer Art Gefahrengebiet erklärt worden. Menschen starben. Grenzen wurden geschlossen. Dinge, die wir als selbstverständlich hingenommen haben, waren mit einem Mal verboten. Niemand konnte sagen, wie lange dieser Zustand anhalten oder ob er jemals wieder anders sein würde. Das war nun unser aller "Normalität", die Sicherheit aller hat einen hohen Preis gefordert für jede einzelne Person.

"Ich komme da nicht mehr allein raus"

Mein persönlicher Moment, in dem mich diese fürchterliche Gewissheit überkam, war eine ziemliche Lappalie: Ich stand unter der Dusche, und mir fiel ein, dass ich noch ein Akkuladegerät brauchte und dass ich das ja einfach bei dem Elektrofachgeschäft um die Ecke besorgen könnte. Und dann bemerkte ich: Kann ich nicht. Das Geschäft hat geschlossen. Ungefähr jedes Geschäft hat gerade geschlossen. Weil wir da draußen eine Pandemie haben. Weil Menschen sterben. Grenzen geschlossen sind und Dinge, die wir als selbstverständlich hingenommen haben, von nun an verboten waren.

Diese Gewissheit traf mich mit einer Härte, die mich ins Schwanken brachte und die Panik in mir hochsteigen ließ: Was, wenn meine Eltern diese Krankheit bekommen? Mein Vater wird zweifellos daran sterben. Was, wenn wir uns nun zu Lebzeiten nicht mehr werden sehen können? Auch junge, gesunde Menschen sind schon gestorben. Was ist mit meinen Freund:innen? Was, wenn meine Liebesbeziehungsperson erkrankt? Was, wenn das nun unsere Realität für alle Zeiten ist? Was, wenn wir alle daran sterben? Wenn ich sterbe?

Immer abstruser wurden meine Gedanken, meine Ängste, und ich hatte innerhalb weniger Sekunden vollkommen die Kontrolle verloren. Die Illusion der Sicherheit, sie war nun endgültig als solche entblößt – und einem Menschen wie mir, dem Sicherheit, Planbarkeit und zumindest das Gefühl der Kontrolle so wichtig sind, machte das eine unfassbare Angst, die sich sehr schnell an meinem Herzschlag und meiner Atmung bemerkbar machte. Ich taumelte aus der Dusche, versuchte, mich zu beruhigen, mir immer wieder zu sagen: "Das ist einfach Angst, das bekommst du hin, du wirst nicht sterben, du wirst nicht ohnmächtig, du bekommst noch Luft." Aber meine kläglichen Versuche der Selbstregulierung erreichten meinen Körper nicht, bis ich schließlich einsehen musste: Ich komme da nicht mehr allein raus.

Was, wenn die Panik mich wieder überkommen würde?

Eine gefühlte Ewigkeit später stand der medizinische Notdienst mit mir im Zimmer. Ich schämte mich. Diese Menschen hatten in der aktuellen Situation weitaus Wichtigeres zu tun, als einen bald 30-Jährigen aus seiner Panik zu holen. Sie taten es trotzdem, gaben mir eine Schutzmaske, von der ich noch ganz genau weiß, wie unwirklich sie mir vorkam. So etwas kannte ich nur aus Filmen, die das Ende der Menschheit thematisieren. Wie ungeschickt ich damals diese Maske noch aufsetzte, die den FFP2-Masken sehr ähnelte, die in wenigen Wochen und Monaten zur neuen Selbstverständlichkeit für viele von uns werden würden. Alles war schlichtweg unwirklich. "Sie werden sicherlich nicht daran sterben", versuchte mich eine Ärztin zu beruhigen. "Aber wir müssen nun auf die älteren Generationen achtgeben." 

Natürlich konnten sie keine körperlichen Ursachen für meine Beschwerden feststellen, also verschwanden sie nach kurzer Zeit wieder. Ich blieb zurück und fühlte mich gleichermaßen unsicher wie ausgelaugt. So eine kleine Panikattacke kann so etwas mit sich bringen. Tagelang verfolgte mich die Angst vor der Angst: Was, wenn ich wieder Panik bekommen würde? Es hatte sich nichts an den Umständen und Gründen für meine Angst geändert. Ich versuchte, mich mit dem Thema "Angst" auseinanderzusetzen, den Gründen für diese Emotion, ihre positiven wie auch negativen Aspekte. Versuchte, sie zu verstehen und ihr den Raum zu geben, immer penibel und skeptisch darauf achtend, ihr nicht das komplette Feld zu überlassen. Eines Nachts überkam sie mich dann erneut.

Mit ASMR willst du deine letzten Minuten verbringen?

Ich merkte, wie die inneren Stimmen immer lauter wurden, mein Herz aus der nächtlichen Ruhe weckten, es gleichsam in Aufruhr versetzten. Die Stimmen schrien: "Du bist allein, du stirbst gleich, die ganze Welt wird sterben!" Schon zuvor hatte ich mich mit Möglichkeiten der Entspannung auseinandergesetzt, und so googelte ich das Erste, was mir einfiel: "ASMR", "Autonomous Sensory Meridian Response" (übersetzt etwa: "unabhängige sensorische Meridianreaktion"). Ich klickte das erstbeste Video an, eine junge Frau mit blondem Haar und flüsternder Stimme erschien auf dem Bildschirm und klapperte mit ihren Fingernägeln auf Holz.

Die Stimmen schienen irritiert. "Ist das dein Ernst?", hörte ich sie sagen. "Du stirbst gerade, und so willst du deine letzten Minuten verbringen?" Aber ich zwang mich, meinen Fokus auf das Klopfen der Nägel zu setzen. Darauf, wie die junge Frau ein Glas in die Hand nahm und daran entlangfuhr. Einen Kamm in die Kamera hielt und die Zähne berührte. Alles mannigfaltig lauter durch das Mikrofon, das sie vor sich platziert hatte. Die Stimmen, die bis eben noch verzweifelt schrien um all der fürchterlichen Dinge, die passieren könnten, wurden leiser. Mein Atem regelmäßiger.

Unser aller Blick ruhte auf dem Hier und Jetzt. Auf dieser jungen Frau und ihren Gegenständen, auf den wohltuenden Geräuschen. Zwei Stunden verbrachte ich damit, mir ein und dasselbe Video immer wieder anzuschauen, bevor ich mich traute, den Laptop zuzuklappen und mich wieder ins Bett zu legen.

ASMR kann manchen Menschen helfen

Dieser persönliche Sieg blieb mir im Gedächtnis. Ich hatte es geschafft. Ich hatte mich selbst aus der Panik lösen können, ohne den Notdienst oder sonst wen hinzuzuziehen. Alles, was ich brauchte, waren diese Videos, das Flüstern, das Klackern, Streicheln und Wischen. 

Ist es der Definition nach ASMR, was ich erlebt habe? Wahrscheinlich nicht. Studien beschreiben die Reaktion als das "Erleben eines Kribbelns im Scheitelbereich des Kopfes", hervorgehoben durch eine Reihe von Auslösern (oder auch "Triggern") wie Flüstern, Klopfen und Handbewegungen. Und: Bei manchen Studienteilnehmer:innen zeigt sich keinerlei Effekt beim Betrachten solcher Videos. Nur, wer eine Reaktion des Körpers, also ASMR, erlebe, würde durch das Anschauen einen angenehmen Affekt haben, heißt es in einer Studie. 

Aber wie eine andere Studie feststellte, gibt es mehr Faktoren, die die Wirksamkeit von ASMR-Videos bestimmen, wie Neurotizismus (also die Tendenz, Emotionen kontrolliert zu zeigen, anstatt ihnen freien Lauf zu lassen) oder Ängstlichkeit und Freude an den Videos. Diese Faktoren können genauso für die Verringerung der Angstzustände hilfreich sein, "selbst wenn die Teilnehmenden kein Kribbeln verspürten", erklärt Joanna Greer, eine Autorin der Studie. Eine weitere Untersuchung kommt zu ähnlichen Ergebnissen und sieht im Ansehen von ASMR-Videos eine mögliche Intervention zur Verringerung akuter Angstzustände.

Die nächsten Monate gab es immer wieder Situationen, in denen mich Sorge, Angst und Panik zu übermannen drohten – und mein erster Griff ging stets zum Laptop oder Handy, um mir neue und alte ASMR-Videos der jungen Frau anzuschauen. Warum, ob und wie ASMR funktioniert, an der Beantwortung dieser Fragen arbeitet die Wissenschaft noch. Doch wie Joanna Greer treffend zusammenfasst: "Wenn wir die Möglichkeiten, die den Menschen zur Bewältigung ihrer Ängste zur Verfügung stehen, erweitern können, dann kann das nur gut sein."

Für mich war es nur gut.

Verwendete Quellen: ncbi.nlm.nih.gov, journals.plos.org, lexikon.stangl.eu, theconversation.com, pubmed.ncbi.nlm.nih.gov

Brigitte

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