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ASMR-Videos Dieses Internetphänomen soll die pure Entspannung bieten

ASMR-Videos: Schminkpinsel berührt Mikrofon
© faveteart / Adobe Stock
Menschen, die mit Folie knistern oder Süßigkeiten naschen: ASMR-Videos sind ein Popkultur-Phänomen – und sollen helfen zu entspannen.

Das Ergebnis meiner ersten längeren ASMR-Session, abends im Bett mit dem Handy: Fassungslosigkeit. Stark geschminkte Blondinen, die "Dudududu" ins Mikro hauchen und mit Fingernägeln auf Cremedöschen trommeln. Adrette Jungs, die sich Sushi in den Mund stopfen, Kreidestaub kneten oder lieb lächelnd mit Luftpolsterfolie knistern – was, bitte, ist das für eine Freak-Show?

Ein erfolgreiches Konzept

ASMR ist die Abkürzung für Autonomous Sensory Meridian Response, und diese autonome Körperreaktion auf sensorische Reize bezeichnet ein wohliges Kribbeln, das durch bestimmte Geräusche ausgelöst werden kann und vom Kopf aus über den ganzen Körper perlt. Auf Youtube werden ASMR-Videos millionenfach angeklickt, die amerikanische ASMR-Ikone Naomi MacRae etwa verdient auf ihrem "Hunnibee ASMR"-Kanal geschätzte 770 000 Dollar im Monat, indem sie Süßigkeiten verputzt.

Wie immer, wenn es um mir unbekannte Internetphänomene geht, fragte ich zuerst bei den Kindern nach. "ASMR? Löst einen nie da gewesenen Hass in mir aus!", antwortete der Sohn. "Ich höre mir bestimmt nicht freiwillig an, wie Leute mir ins Ohr schmatzen", sagte die Tochter, "aber es gibt natürlich eine Fanbase, Menschen, die das zum Einschlafen benutzen." Mich hat es – siehe oben – dagegen eher wachgehalten, das Befremden hielt noch lange an.

Auch für die Forschung interessant

"So wie Ihnen geht es vielen, erklärt Dr. Claus-Christian Carbon, "und ich sage den Leuten dann immer: Nehmen Sie sich Zeit, schauen Sie sich das öfter an. Sehr häufig stellt man irgendwann fest, dass es tatsächlich eine beruhigende Wirkung hat." Der Psychologe befasst sich seit fünf Jahren an der Universität Bamberg mit ASMR. In Deutschland ist er bislang der Einzige, der zu dem Thema forscht, aber das Interesse an einer wissenschaftlichen Einordnung des Popkultur-Phänomens wächst. "Zig Millionen Menschen sprechen davon, dass ASMR-Videos eine positive Auswirkung auf sie haben, allein deshalb müssen wir das ernst nehmen." 

Und auch, weil Gefahren mit der Youtube-Selbsttherapie verbunden sein könnten, so Carbon, "etwa wenn jemand depressiv ist und dann von Freunden hört: Probier das doch mal, ist super und kostet nichts." Dass ASMR irgendwann als komplementärmedizinisches Verfahren anerkannt werden könnte, wie etwa Musiktherapie, will er nicht ausschließen, "eine neue Möglichkeit, Depressionen zu überwinden, ist es aber sicher nicht".

Wie entsteht die besondere Wirkung?

Der beruhigende Effekt, den ASMR auf viele Nutzer:innen hat, ist laut Claus-Christian Carbon in der enormen Monotonie der Videos begründet. "Aber es ist eben nicht nur monoton, es gibt zwischendurch auch immer wieder Thrills und Chills, also Momente mit hohem ,Arousal‘ – einer kurzen Erregung –, weil sich die Szene verändert: Jemand beißt in irgendwas rein, es gibt ein neues Geräusch, eine neue Sequenz."

Bei einer Laboruntersuchung hat sich herausgestellt, dass Proband:innen, die ein ASMR-Video anschauen, gleichzeitig eine niedrigere Herzfrequenz und eine erhöhte Leitfähigkeit der Haut aufweisen – ein leichtes Schwitzen, das Erregung anzeigt. Was dazu passt, dass viele ihre ASMR-Erlebnisse nicht nur als bruhigend, sondern noch dazu als euphorisierend beschreiben. Denn darum geht es eben auch: die "Tingles", dieses heiß begehrte ASMR-Kribbelgefühl, zu erleben.

Ein zweiter Versuch

Ich bin ein großer Fan von Entspannungstechniken, auch ohne Kribbeln. Yoga, Spazierengehen, Meditation – das ist alles schon lange Teil meines Selbstberuhigungsrepertoires. Aber manchmal habe ich zu wenig Zeit oder schlicht keine Lust. Die Variante "anklicken, zugucken, durchatmen" käme mir dann sehr zupass. Also gebe ich ASMR eine zweite Chance und lege mich nach anstrengenden Arbeitstagen öfter mal mit dem Handy und Kopfhörern aufs Sofa. Meine anfängliche Aversion weicht schnell einer wachsenden Neugier, als ich merke, dass manche Videos mich tatsächlich ruck, zuck runterholen. 

Am besten funktioniert das mit Geräuschen von allen möglichen Materialien. Dem Klickern von Murmeln. Oder einer knirschenden Feder auf Büttenpapier. Auch Wassergluckern ist ein echter Bringer. Essen und Schmatzen finde ich schwierig, es hängt aber von der Mahlzeit ab. Döner? Absolut nein, Honigwaben hingegen haben was: das zähe Tropfen, die Tapferkeit von Menschen, die sich vor laufender Kamera Wachs aus den Zähnen pulen – sehr süß.

Mein persönlicher ASMR-Feind bleibt das ewige Geflüster. Es macht mich rasend – bis mich an einem finsteren Spätnachmittag ein zartrosa Lipgloss-Mund kaum hörbar fragt: "Was ist passiert, du siehst so traurig aus. Darf ich dich umarmen?" Und ich sofort in Tränen ausbreche, weil es mir so nahegeht. 

Virtuell echte Empfindungen erleben

Genau das hatte ich in meinem Gespräch mit dem Psychologen natürlich auch angesprochen: Wie bitter das ist, wenn Menschen in virtuellen Umarmungen Trost finden müssen. Oder sich auf ASMR-Videos Massagen anschauen, statt ihrem Körper das echte Erlebnis bescheren zu können. Das sah Claus-Christian Carbon aber ganz anders: "Es ist natürlich schon mein Körper, der da eine echte Empfindung erlebt. Dank unserer Empathiefähigkeit und unseren Spiegelneuronen brauchen wir den haptischen Reiz gar nicht auf unserer eigenen Haut, um davon profitieren zu können."

Auch das leise Sprechen zielt auf den wohltuenden Kuscheleffekt ab: "Dass jemand ganz dicht an uns herankommen und uns ins Ohr flüstern darf, kennen wir evolutionär nur aus Situationen mit sehr vertrauten Menschen – Partner, Kinder, Freunde." Deshalb empfinden wir selbst bei einer flüsternden Youtuberin genau das Gleiche: ein Gefühl von Geborgenheit und Intimität.

Am Ende gibt es für mich nur noch einen einzigen Einwand gegen die kleine Bildschirm-Beglückung: dass ich eh schon viel zu viel Zeit am Handy verbringe und das gern ändern würde. Aber auch dabei hilft ASMR. Es gibt Videos, in denen wird gestrickt und gestickt, gebastelt, getöpfert und gemalt. Und da kribbelt es einen dann ganz schnell in den Fingern, selbst aktiv zu werden.

Brigitte

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