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Mal ehrlich: Gibt es ein Leben nach der Midlife-Crisis?!

Midlife Crisis: Blonde Frau lacht
© Shutterstock/ racorn
Mit Mitte 40 ist die Lebenszufriedenheit meist auf dem Nullpunkt, sagt die Entwicklungspsychologin Prof. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello. Die gute Nachricht: Es geht danach wieder aufwärts — und zwar rasant!

BRIGITTE: Frau Dr. Perrig-Chiello, gibt es die klassische Midlife-Crisis?


Pasqualina Perrig-Chiello: Wenn Sie von einer Midlife-Crisis sprechen, suggerieren Sie, dass alle Leute in den mittleren Jahren eine ziemlich gleichförmige Krise durchmachen, und so ist es nicht. Was aber tatsächlich stimmt: Die Lebensjahre zwischen 40 und 50 sind für viele Menschen eine krisenanfällige Phase. Und das hat mehrere Ursachen.

Welche denn?

Es gibt verschiedene Veränderungsprozesse, die in der Lebensmitte zusammenkommen. Allen voran sind es natürlich die biologischen Veränderungen: Bei den Frauen fallen die Östrogenwerte stark ab, bei den Männern, wenn auch weniger dramatisch, das Testosteron. Diese hormonellen Veränderungen lösen sehr viel aus. Frauen müssen sich damit auseinandersetzen, dass sich nicht nur das Aussehen verändert, sondern auch das Ende ihrer Fruchtbarkeit bevorsteht oder schon erreicht ist. Männer bemerken, dass sie nicht mehr so leistungsfähig sind wie früher. Zu diesen körperlichen Veränderungen kommen aber oft noch biografische Faktoren... 

... die unzufrieden machen?


Die Zeit zwischen 40 und 50 ist von vielen Verantwortlichkeiten geprägt: Viele haben Familie, Kinder, sie sind in der Hierarchie einer Firma hochgeklettert und arbeiten viel. Oft macht sich aber jetzt ein gewisser Rollenüberdruss breit: Man ist schon so lange beruflichem Stress ausgesetzt, viele Frauen haben schon jahrelang versucht, den Spagat zwischen Familie und Beruf elegant hinzukriegen, und dafür selbst oft zurückgesteckt. Darunter leidet auch meist die Partnerschaft in dieser Lebensphase – das häufigste Scheidungsalter liegt zwischen 46 und 48 Jahren. Und: Die Lebensmitte ist auch das Alter, wo sich viele von uns ihrer eigenen Endlichkeit bewusst werden. Viele sehen jetzt, wie die eigenen Eltern in einen Zustand der Hilfs- und Pfegebedürftigkeit kommen und schließlich sterben.

Das klingt nicht sehr ermutigend.

Die Lebensmitte ist die Zeit der Bilanzierung – und damit auch der Chance zum Neustart: Man überprüft seine Partnerschaft, seinen Beruf, seine eigenen Ansprüche. Und die meisten stellen dabei fest, dass sie viel geschuftet und trotzdem nur einen Teil von dem erreicht haben, was sie sich früher erhofft hatten. Gleichzeitig haben sie das Gefühl, dass die Zeit schwindet, dass sie nicht mehr alle Optionen haben. Und dies alles zusammen – die biologischen Veränderungen, die biografischen Umbrüche, die Lebensumstände, die Lebensbilanz – ist der Grund für eine niedrige Lebenszufriedenheit

Es wird also, wenn man ehrlich ist, eigentlich keiner gelassen älter?

Nun, dies sind Mittelwerte, es gibt individuelle Unterschiede. Und die andere gute Botschaft ist: Es wird danach besser. Die Lebensmitte ist eine Umbruchphase. Doch danach geht die Lebenszufriedenheitskurve wieder nach oben.

Wem fällt das Älterwerden leichter?

Menschen, die nicht ängstlich in Bezug auf Veränderungen, die neugierig und offen sind, sind auch in Umbruchphasen gelassener. Und soziale Netze spielen auch eine Rolle, also, ob ich mit Freunden oder der Familie über meine Probleme reden kann. Männern fällt dies viel schwerer als Frauen, da sie Krisenlösungen auf die lange Bank schieben und oft nicht sagen, wenn etwas nicht stimmt. Stattdessen machen sie zumeist so lange weiter, bis sie nicht mehr können und es dann zu diesen abrupten, völlig unerwarteten Brüchen kommt: der treue Familienvater, der plötzlich weg ist. Der Manager, der alles hinwirft und ins Kloster geht. So etwas kommt bei Frauen deutlich seltener vor, da sie sich eher mitteilen und Veränderungen langsamer, proaktiver angehen. 

Hadern Frauen nicht trotzdem mehr mit dem Älterwerden als Männer? Allein, weil sie immer noch viel stärker übers jugendliche Aussehen definiert werden?

Ja, die Gesellschaft hängt Äußerlichkeiten bei Frauen sehr hoch. Aber Männer leiden auch, vor allem unter dem Verlust ihrer Leistungsfähigkeit, über die wiederum sie sich stark definieren. Aber, und das gilt für Männer wie für Frauen: Wenn wir nur auf das Äußere setzen, dann haben wir verloren. Wir können unser körperliches Erscheinungsbild ein wenig aufpeppen, sicher. Aber es entbindet uns nicht von der Aufgabe, auch für die psychische und soziale Entwicklung zu sorgen. 

Wie sieht diese Aufgabe aus?

In allen Umbruchphasen sind wir gefordert, unsere Identität neu zu definieren. Man muss akzeptieren, dass man nicht mehr die ist, die man war – zum Beispiel die faltenfreie, junge Frau, nach der sich alle Männer umdrehen. Man muss sich neu kennenlernen und auch neu mögen: Wer bin ich? Wo sehe ich mich in der Gesellschaft? Wie sehe ich meine Zukunft? Und, wie unsere Untersuchungen immer wieder gezeigt haben: Gerade Frauen sehen darin ganz viele Gewinne. Das Älterwerden bietet völlig neue Freiheiten und Chancen.

Welches ist denn die größte Chance
des Älterwerdens?


Ich zitiere gern Carl Gustav Jung, der gesagt hat: Man kann die zweite Lebenshälfte nicht nach dem Modell der ersten leben. In der ersten Lebenshälfte macht man sehr viele Kompromisse – berufich, partnerschaftlich, familiär – um sich in der Gesellschaft zu verankern. In der Lebensmitte, der Phase der Bilanzierung, merkt man dann: Vor lauter Kompromissen ist die Frage offen geblieben, wo man denn selbst bleibt. Welche Träume und Ambitionen man noch hat, die zum Durchbruch drängen, bevor es zu spät ist. Und das ist die Chance der zweiten Lebenshälfte: So zu sein, wie man wirklich ist und sein will. Man läuft nicht mehr jeder Mode hinterher. Man will nicht mehr nur gefallen wollen. Es interessiert einen weniger, was andere hierüber und darüber denken.


Welche Rolle spielt die Reue über die Dinge, die man nicht getan hat? Zum Beispiel ein Bedauern, keine Kinder bekommen oder nie seinen Traumberuf gelernt zu haben.


Viele sind in der Lebensmitte auch genau wegen solcher Gedanken auf dem Nullpunkt ihrer psychischen Befindlichkeit. Aber aus diesem Tief heraus schaffen es die meisten, sich neu zu definieren: Gut, einiges kam anders, als ich dachte –, aber wie kann ich jetzt die Lebensjahrzehnte, die noch vor mir stehen, sinnvoll gestalten? Ein Bedauern über nicht gehabte Kinder kommt übrigens, wenn überhaupt, erst sehr viel später, so mit 70. Und beruflich gab es noch nie so viele Optionen für Leute zwischen 40 und 60 wie heute. Sehr viele starten in dieser Phase noch mal richtig durch oder fangen etwas Neues an. Ich habe schon Frauen jenseits der Lebensmitte promoviert, die gesagt haben: Jetzt will ich noch das Studium machen, was mein Mann mir immer ausgeredet hat. In der zweiten Lebenshälfte bekommen alte Träume eine hohe Valenz. Je mehr man versucht, sie zu unterdrücken, umso mehr sind sie da. Da ist es besser, man stellt sich ihnen und fragt realistisch, was noch drin ist. 

Sie sagen, dass sowohl Männer als auch Frauen mit zunehmendem Alter androgyner werden, also: sich angleichen. Ich sehe sofort die Paare in den identischen Funktionsjacken vor mir... 

Es geht hier um eine psychische Androgynität – und das ist eine weitere gute Seite des Älterwerdens.

Warum?

In der zweiten Lebenshälfte sinkt bei den Frauen das Östrogen, daher machen sich die männlichen Hormone stärker bemerkbar. Das heißt, die etwas aggressiveren Komponenten in ihnen: Sie werden kantiger, stehen vermehrter zu ihren Interessen. Bei den Männern ist es umgekehrt: Ihre Testosteronwerte sinken, und die emotionale, soziale Seite kommt mehr zum Ausdruck. Das heißt nicht, dass die Menschen neutral oder geschlechtslos werden. Das heißt einfach, dass sie eine breitere Handlungspalette zur Verfügung haben, um das Leben zu meistern. Es ist in der Psychologie erwiesen, dass psychisch androgyne Menschen sehr starke, stabile Persönlichkeiten sind: Sie können sich durchsetzen, für ihre Rechte einstehen, aber auch Schwäche zeigen und Hilfe annehmen. Und für uns Psychologen ist es sehr schön zu sehen, wie sich im Alter die meisten Leute von traditionellen, teilweise auch anerzogenen Rollen lösen: die Frau, die immer gefallen wollen muss; der Mann, der nicht weinen und keine Schwäche zeigen darf. Diese Geschlechterrollen loszuwerden, ist eine große Freiheit des Älterwerdens. 

Prof. Dr. Pasqualina Perrig- Chiello, 67, ist Entwicklungspsychologin und emeritierte Honorarprofessorin der Universität Bern. 

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BRIGITTE Psychologie Spezial 03/2017

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