BRIGITTE: Frau Prieß, eine Bekannte von mir war am Boden zerstört, als ihre Katze starb, und weinte zwei Wochen durchge- hend. Hat sie nicht übertrieben?
DR. MIRRIAM PRIESS: Ich würde eher sagen, Ihre Freundin hat alles richtig gemacht. Zu akzeptieren, wenn mich eine Situation bis ins Mark erschüttert, ist der erste Schritt, wenn ich möchte, dass es mir bald wieder besser geht.
Es wäre nicht gesünder gewesen, wenn sie sich abgelenkt oder rational klargemacht hätte: Ist doch nur eine Katze?
Eine Krise zeigt immer, dass wir an die Grenzen unserer Bewältigungsfähigkeit gekommen sind. Wir fühlen uns ohnmächtig, unsere Gefühle überrollen uns, wir wissen nicht weiter. Oft streikt sogar der Körper. Dieses innere Chaos macht die Krise aus. In welchen Situationen wir an diese Grenze stoßen, ist sehr individuell. Den einen haut es um, wenn er die Arbeit verliert, den anderen, wenn der Partner geht. Aber auch der Tod eines Haustieres kann einen an diese Grenze bringen. Sich gegen die Krise zu wehren oder das innere Chaos zu ignorieren, macht alles nur noch schlimmer.
Warum ist das so?
Wenn man nicht spüren möchte, dass man mit einer Situation nicht umgehen kann, kann man natürlich auf Abwehr schalten und sich sagen "Ist doch nicht so schlimm" oder "Augen zu und durch!" Aber diese Abwehr kostet enorm viel Kraft und bringt einen keinen Schritt weiter. Im Gegenteil: Das, was ist, ist – je länger wir es verdrängen, umso stärker die Wucht, mit der es uns einholt. Außerdem verhärtet man innerlich. Viele rutschen so immer weiter in die Krise, manchmal bis zur völligen Erschöpfung.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Gestern kam eine Frau völlig aufgelöst zu mir in die Praxis, die ich schon länger in ihrer Scheidung begleite. Am Tag zuvor war ihr Mann ausgezogen, nach vielen Monaten Streit. Sie hatte fest damit gerechnet, dass sie sich wahnsinnig darüber freut, aber stattdessen fühlte sie sich jetzt traurig und einsam. Sie redete sich ein, dass ihre Trauer doch Quatsch sei, weil sie froh sein könne, dass er jetzt endlich weg ist. Aber sie hatte die ganze Nacht gegrübelt und nicht geschlafen und saß nun plötzlich mit einem Weinkrampf vor mir. Je mehr sie sich mit Händen und Füßen dagegen wehrte, wie sie sich fühlte, umso ohnmächtiger wurde sie.
Und dann?
Mit meiner Unterstützung konnte sich die Frau den eigenen Gefühlen ohne Verbote stellen. Sie gestand sich ein, dass sie trotz aller Streitigkeiten mit ihrem Ex tieftraurig war, als nun wirklich alles vorbei war. Erst als sie diese Trauer und ihre Angst vor der Einsamkeit zulassen konnte, ohne sich dafür zu verurteilen, wurde sie nach einer Weile ruhiger. Ich kann jedem, der in einer Krise fest- steckt, nur raten: Sie müssen raus aus der Selbstverurteilung und rein in das Zulassen und Verstehen Ihrer Gefühle und Gedanken.
Und wie entgeht man dann der Gefahr, dass man sich in Trauer, Enttäuschung oder Wut verliert?
Stellen Sie sich vor, Sie geraten beim Schwimmen in einen Wasserstrudel. Wer gegen den Strudel anschwimmt, wird sich nicht befreien, sondern nur erschöpfen und irgendwann ertrinken. Die einzige Chance: Sie müssen Luft holen und nach unten schwimmen – bis auf den Grund, wo der Sog am schwächsten ist. Nur dort können Sie zur Seite wegtauchen und neben dem Strudel wieder an die Wasseroberfläche auftauchen. Für den Umgang mit Krisen heißt das: Nur, wer dem Sog seiner Gefühle und Gedanken folgt, kommt zu dem ruhigen Punkt in sich, der ihm erlaubt, wieder aufzutauchen. Aber das heißt eben auch, dass man irgendwann die Seitwärtsbewegung machen muss, um nicht am Boden zu bleiben und in seinem Leid zu versacken. Man muss sich am ruhigen Punkt der Situation zuwenden und schauen: Was brauche ich? Was ist mir wirklich wichtig? Dabei nähert man sich schon Ideen, wie man mit der Situation umgehen könnte. Und dann muss man sie auch beherzt Schritt für Schritt umsetzen.
Menschen, die mit Krisen gut umgehen können, lassen also trotzdem erst mal alle Gefühle der Verzweiflung zu?
Ja. Wenn sie in eine Situation geraten, die sie nicht bewältigen können, wehren sie sich nicht dagegen. Sie akzeptieren alles, was ist, auch dass sie mit ihrem Latein am Ende sind. Und dann verwenden sie alle Kraft, die sie noch haben, auf sich selbst. Sie wenden sich bewusst ihren Gefühlen und Gedanken zu und widerstehen dem Impuls, sofort zu agieren. Nach einiger Zeit kommen sie innerlich zur Ruhe. Und das erlaubt ihnen, nun zu handeln.
Welche Fähigkeiten helfen, um Krisen besser zu meistern?
Menschen, die neugierig und offen sind, haben es leichter. Sie sehen in schwierigen und schmerzhaften Situationen keine Bestrafung, sondern ihre Chance zu wachsen. Das hilft ihnen, sich nicht als Opfer zu fühlen. Sie entdecken auch leichter Möglichkeiten zum Handeln in dieser neuen Situation. Empathie für sich selbst ist auch wertvoll. Wer dazu neigt, sich für seine Gefühle zu verurteilen, dreht sich weiter in die Krise rein. Und Glauben ist wichtig. Nicht unbedingt religiöser Glauben. Aber feste Werte bieten Halt und helfen, nicht den Mut zu verlieren.
Achtung, Krise!
Wenn du folgende Anzeichen an dir bemerkst, steckst du tiefer in einer Krise, als du wahrhaben möchtest. du musst handeln — zur Not mit therapeutischer Unterstützung.
Ohnmachtsgefühle: Du hast schon seit einiger Zeit das Gefühl "Es geht mir beschissen, aber ich kann daran nichts ändern."
Fluchtverhalten: Ohne mehrere Gläser Wein oder Bier am Abend kannst du nicht mehr abschalten. Du betäubst zudem deine innere Stimme mit ständigem Arbeiten oder anderen Aktivitäten.
Rigidität: Du spürst selbst, dass du dich als Argument immer häufiger auf deine Rolle oder offizielle Position berufst: "Ich bin schließlich Deine/Ihre..." Es könnte sein, dass sich in deinem Leben gerade etwas grundlegend verändert, was du nicht wahrhaben willst.
Mauern: Du ziehst dich häufig ins Schweigen zurück oder verneinst Probleme einfach. Vermutlich hast du sogar das Gefühl, die anderen bedrängen dich, wenn sie dich darauf ansprechen.
Das Gefühl "Ich bin weniger Wert": Du hast in letzter Zeit öfter das Gefühl, dass andere Menschen irgendwie über dir stehen oder dass eine Situation "stärker als du" ist. Dieser Verlust der Augenhöhe ist ein typisches Anzeichen für eine Krise.
Dr. Mirriam Prieß ist Ärztin und Psychotherapeutin in Hamburg. Ihr aktuelles Buch: "Resilienz. Das Geheimnis innerer Stärke".
Die sieben Säulen der Krisenfestigkeit
"Es ist, wie es ist." Wer diesen schlichten Satz zu seinem Mantra in Krisen macht, stärkt sich selbst. Eine Situation zu akzeptieren, heißt nicht, dass man sie auch okay finden muss. Es ist jedoch ein Unterschied, ob ich akzeptiere, dass mich mein Partner verlassen hat und ich darüber traurig bin. Oder ob ich gar nicht zum Trauern komme, weil ich immer nur denke: Wenn ich mich anders verhalten hätte, wäre das nicht passiert! Nur wer eine Situation akzeptiert, kann auch aktiv mit ihr umgehen.
So stärkst du deine Fähigkeit zur Akzeptanz: Übe, Dinge anzunehmen wie sie sind, statt innerlich gegen sie anzukämpfen — auch, wenn sie dir nicht gefällt. Übungsfelder gibt es genug. Die Warteschlange an der Kasse, der meckernde Nachbar. Verabschiede dich von dem Gedanken "Das darf doch nicht wahr sein!" und sage dir: "Es ist, wie es ist." Lass den Widerstand los und erforsche stattdessen neugierig, was die Situation in dir auslöst. Ungeduld? Erinnerungen an einen nervigen Onkel? Die Fähigkeit, mit sich selbst in Kontakt zu gehen, stärkt deine Seele.
Häufig haben wir in einer Krise das Gefühl: Ich kann gar nichts tun, ich bin ein Opfer der Umstände. Diese Ohnmachtsgefühle sind normal — aber auf Dauer kräftezehrend.
So stärkst du deine Fähigkeit, die Ohnmacht abzuschütteln: Wer in Ohnmachtsgefühlen feststeckt, hat meist einen Haufen Schuldzuweisungen an andere im Kopf: "Wenn X dies und jenes anders machen würde, ginge es mir besser." Ein sehr einfacher Trick hilft, aus dieser Opferhaltung und der passiven Rolle rauszukommen: Formuliere den Satz so um, dass er sich auf dich selbst bezieht. Da stünde dann: "Wenn ich dies und jenes anders machen würde, ginge es mir besser." Meist stellen wir mit dieser Umformulierung fest, dass auch an dieser Aussage etwas Wahres dran ist — und wir switchen von der Ohnmacht in eine eigenverantwortliche Rolle.
Wer weiß, was ihm selbst wirklich wichtig ist, findet auch in schwierigen Zeiten Halt und Orientierung. Wenn man sich dagegen in Krisen an sehr allgemeinen Zielen orientiert oder an solchen, die andere einem vorgeben, verliert man schnell den Kontakt zu sich selbst – und damit den Zugang zu seinen Kräften.
So stärkst du deine Fähigkeit, persönliche Ziele zu entwickeln: Wenn du an eine Situation denken, die du derzeit schwierig findest — zum Beispiel ein Konflikt im Beruf oder in der Familie — frage dich: Welche Veränderung würde dich ganz persönlich entlasten? Es kann beispielsweise gut sein, dass du angesichts der ständigen Auseinandersetzungen mit deinem pubertierenden Sohn denkst, du müsstest diesen Konflikt von Grund auf klären. Mit dem Blick auf dein persönliches Ziel stellst du aber vielleicht fest, dass es für dich zu diesem Zeitpunkt schon entlastend wäre, wenn dein Sohn verlässlich zwei Aufgaben im Haushalt übernehmen würde.
Optimistische Menschen wissen: Jede Krise geht irgendwann vorbei. Sie gehen davon aus, dass sich die Dinge mit einiger Wahrscheinlichkeit zum Guten entwickeln. Dabei sind sie nicht naiv oder blauäugig; sie nehmen ja durchaus wahr, wenn sie schwierige Zeiten durchleben. Doch sie ziehen sich nicht noch zusätzlich mit Schwarzmalerei runter.
So stärkst du deine Fähigkeit zum Optimismus: Denke an schwierige Zeiten zurück, die du bereits erfolgreich durchgestanden hast: Welche positiven Entwicklungen haben sich letztlich für dich aus diesen Krisen ergeben? Sorge auch in schwierigen Zeiten für positive Gefühle und tue kleine Dinge, an denen du dich erfreust.
Studien zeigen immer wieder: Wer an sich und seine Stärken glaubt, dem gelingt auch mehr, weil er mutig Schritt für Schritt vorangeht. Ständige Selbstkritik raubt dagegen Kraft und Mut. Deshalb ist es gerade in schwierigen Situationen sinnvoll, sich seine starken Seiten ins Gedächtnis zu rufen.
So stärkst du deine positive Sicht auf dich selbst: Mache dir eine kleine Liste von Problemen, die du in deinem Leben bereits gelöst hast. Notiere daneben: Diese Fähigkeiten von mir haben mir geholfen, die Herausforderung zu meistern.
Eine große Fähigkeit der Krisenfesten ist, dass sie immer einen Weg finden, um ihr Schicksal aktiv in eine positive Richtung zu lenken. Sie sehen in jeder Lage immer noch eine (vielleicht kleine) Möglichkeit, selbst zu handeln. Und wer ins Handeln kommt, vertreibt auch das lähmende Gefühl, ohnmächtig zu sein.
So erkundest du Handlungsmöglichkeiten: Wenn du das nächste Mal vor einem schier unlösbaren Problem stehst: Markiere auf dem Boden zwei Felder. In das eine Feld legst du einen Zettel mit der Aufschrift "Unveränderbare Dinge". Das zweite Feld beschriftest du mit "Veränderbare Dinge". Stelle dich in das erste Feld und spüre in dich hinein: Was fällt dir dazu ein? Dann trete in das andere Feld, "Veränderbare Dinge", und stelle dir dieselbe Frage. Die Idee dahinter: In Krisensituationen bleiben wir häufig gedanklich nur an den Gegebenheiten hängen, die unveränderbar sind. Mithilfe dieser Übung wirst du nicht nur klarer sehen, welche Dinge du im Moment tatsächlich nicht verändern kannst — du wirst auch ebenso klar deine Handlungsmöglichkeiten erkennen.
Unterstützung durch andere ist eine der stärksten Kraftquellen, die Menschen haben. Häufig schämen wir uns jedoch, Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn es uns schlecht geht. Oder wir kommen schon gar nicht darauf, dass uns jemand helfen könnte.
So stärkst du deine Fähigkeit, Hilfe zu sehen: In jeder Krise lohnt die Überlegung: Welche Person könnte mich darin unterstützen, mit dieser Situation umzugehen? Brauche ich jemanden, der einfach gut zuhören kann? Jemanden, der von ganz konkreten Dingen mehr Ahnung hat als ich? Überlege dir, wer von deinen Freunden mal in einer ähnlichen Situation war und sie gut gemeistert hat. Suche dir auf diesen Weg für deine Probleme "Experten".
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