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Wenn ihr DIESE Stufe in einem Streit erreicht, eskaliert alles!

Konfliktstufen: Mann und Frau diskutieren
© Shutterstock/ Roman Kosolapov
Wann wird aus einem eher harmlosen Streit ein Gefecht? Der Konfliktforscher und Mediator Friedrich Glasl erklärt die neun Eskalationsstufen - und weiß, wann es Zeit ist, Grenzen zu ziehen.

BRIGITTE: Herr Glasl, Sie beschäftigen sich als Wissenschaftler und Berater seit
48 Jahren mit Konflikten und sagen, alle - egal, ob zwischen zwei Staaten oder unter Kollegen - verlaufen nach einem ähnlichen Muster.
Friedrich Glasl: Es gibt in jedem Konflikt - ganz gleich, ob privat, beruflich, national oder global - diese Momente, in denen sich die Situation dramatisch ändert. Plötzlich scheint es neue Regeln zu geben. Dinge, die vorher noch verboten waren, sind jetzt erlaubt. Als ob ein Kontrahent zum anderen sagte: Bis jetzt habe ich mich zurückgehalten, aber wenn du diese Grenze überschreitest, dann treffen wir uns auf einer anderen Ebene wieder. Diese Änderung der Regeln geschieht unausgesprochen, einfach durch das Tun.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Meistens streitet man sich zuerst nur über eine oder zwei Sachen. Das ist noch ganz normal. Im Ukraine-Konflikt ging es am Anfang auch nur um das Assoziierungsabkommen mit der EU. Aber dann kommen plötzlich immer mehr Themen hinzu. Ich nenne das die Streitpunkt-Lawine: Es ist, als ob die Streitpunkte einander ansteckten. Genau das macht die Gegner irgendwann aggressiv. Und nun ändern sich die Regeln: Beide greifen ab jetzt zum Mechanismus der Simplizierung. Wenn der andere nicht für meine guten Argumente zugänglich ist, dann male ich jetzt halt alles schwarz-weiß. Der ist ja offenkundig zu blöd, da muss man doch nachhelfen, oder? Aber so macht man den anderen ziemlich klein. Das ist ein großer Fehler.

Laut Ihrem oft zitierten Modell gibt es neun Eskalationsstufen von Konflikten. Welche Stufe ist die eben beschriebene?
Das war erst Nummer zwei. Richtig los geht es ab Stufe drei. Ich nenne das "Taten statt Worte". Die Gegner glauben jetzt nicht mehr, dass man den anderen noch mit Worten erreichen kann. Sie meinen auch, durch Gespräche alles noch schlimmer zu machen. Man hat sich ja jetzt schon oft gestritten. Also tun sie nun das, wovon sie selbst überzeugt sind, und stellen die Gegenseite vor vollendete Tatsachen. Der Mann erlaubt dem Sohn plötzlich im Alleingang die teuren Turnschuhe, die Frau fährt mit den Kindern spontan über das Wochenende an die See, ohne ihm Bescheid zu sagen. In der Regel ist es so, dass die Kontrahenten Konflikte ab Stufe drei schon nicht mehr allein lösen können. Auf Stufe vier ziehen sie dann immer mehr Freunde und Bekannte in den Streit mit hinein, weil sie Verbündete brauchen. Man demontiert sich gegenseitig im Bekanntenkreis, indem auf die Schwächen und Fehler des anderen hingewiesen wird.

Ab welcher Stufe wird es gefährlich?

Auf Stufe fünf und sechs dämonisieren wir den anderen zusehends. Er wird auf seine verwerflichen Seiten reduziert. Öffentliche Kränkungen und Beleidigungen sind nun kein Ausrutscher mehr, sondern beabsichtigt. Als Mediator ist es immer erschütternd, das mitzuerleben. Auf wundersame Weise scheint diese verzerrte Meinung, die wir nun vom anderen haben, auch immer wieder bestätigt zu werden. Das liegt daran, dass die Wahrnehmungsfähigkeit bereits beeinträchtigt ist. Psychologen nennen diesen Mechanismus die selbsterfüllende Prophezeiung. Die Kontrahenten manövrieren einander paradoxerweise in die extremen Rollen, die sie eigentlich aneinander bekämpfen. Je autoritärer die Schüler die Lehrerin finden, desto mehr fordern sie zumindest unbewusst genau dieses Verhalten heraus.

Und es wird noch schlimmer?
Auf Stufe sechs geht es mit den Drohungen und Erpressungsversuchen los: Wenn du nicht nachgibst, dann gehe ich - und die Kinder nehme ich mit. Auf Stufe sieben kommt es zu den ersten, in diesem Stadium aber noch begrenzten Schädigungsschlägen. In Firmen lassen sie jetzt Unterlagen verschwinden, Daten werden gelöscht, E-Mails fingiert, um dem anderen zu schaden. Oft kommt es sogar zu Handgreiflichkeiten. Stufe acht: Der Gegner ist zu einer derart großen und verhassten Bedrohung geworden, dass man ihn vernichten will, wirtschaftlich, materiell, psychisch. Auf der Endstufe, der Stufe neun, ist dieses Ziel so wichtig geworden, dass man dafür auch den eigenen Untergang riskieren würde. In dem Film "Der Rosenkrieg" ist das die letzte Szene, als das Ehepaar gemeinsam mit dem Kronleuchter abstürzt.

Haben Sie schon einmal einen Konflikt erlebt, der bis Stufe neun ging?
In Kriegen ist das ja regelmäßig der Fall. Aber ich kenne es auch aus einigen Wirtschaftsunternehmen. Ich habe damals eine Bank beraten, die mit zwei Unternehmern zusammengearbeitet hat: ein Ehepaar, das sich ein Firmenimperium mit vielen Filialen aufgebaut hat, ich nenne jetzt keine Namen. Die Ehe ging in die Brüche, nun sollte das Vermögen entflochten werden. Aber keiner wollte dem anderen irgendwelche Zugeständnisse machen. Und sie kannten sich so lange, dass sie genau wussten, auf welche Knöpfchen sie drücken mussten. Es waren Multimillionäre - am Ende sind beide in die Sozialhilfe abgerutscht.

Waren das nicht vielleicht einfach nur zwei Psychopathen?
Nein, absolut nicht. Diese Konfliktmechanismen können bei allen Menschen greifen. Keiner ist davor gefeit. Es liegt vor allem daran, dass Menschen dazu neigen, ihr eigenes Verhalten vor sich selbst zu rechtfertigen. Sie sagen sich: Ich habe einen guten Grund, auf den anderen böse zu sein. Sie fühlen sich in einem Handlungszwang und denken, der andere agiert - sie selbst reagieren ja nur.


Und dann geht es eben nicht mehr um die Sache?

Darum geht es in eskalierten Konflikten nie. Auch wenn es am Anfang noch lange so aussieht, als ob man sich im Büro tatsächlich nur über das gemeinsame Projekt streitet oder in einer Ehe über die Einrichtung des neuen Hauses. Die eigentliche Frage ist: Wie gehe ich mit den Unterschieden zwischen Menschen und ihren Meinungen um? Wenn ich meine, ich habe die Wahrheit gepachtet, und es ganz und gar nicht aushalte, wenn der andere etwas anders sieht - dann kommt es schnell zu Konflikten. Konflikte erwachsen immer aus der Unfähigkeit mindestens einer Partei, Differenzen als Bereicherung zu sehen. Werde ich durch die anderen Werte und Sichtweisen in meinem Selbstwert angekratzt? Darum geht es. Je geringer das Selbstbewusst­sein, desto mehr kämpfe ich für meinen Weg - solche Menschen definieren sich, indem sie alles andere verneinen.

Wie verhindert man Konflikte?
Indem man zwar seine Interessen vertritt, aber ohne andere abzu­werten und anzugreifen. Bleiben Sie sachlich. Schlagen Sie in einem Streit sozusagen nie auf den Mann, sondern immer nur auf den Ball. Und wenn der andere Sie angreift, ziehen Sie eine Grenze. Man kann Grenzen ziehen, ohne zurückzu­schlagen, indem man sagt: Stopp, so nicht mit mir, das geht mir jetzt zu weit. Und indem ich mir selbst klarmache: Es geht hier nicht darum, die Auseinandersetzung zu gewinnen, sondern sich Respekt zu verschaffen. Der andere muss mer­ken, dass er das nicht mit mir machen kann.

Zurückschlagen ist also immer falsch?

Es ist zumindest immer ein Zeichen von Schwäche. Insbesondere, wenn ich reagiere, ohne lange darüber nachzudenken. Dann kann der andere mich manipulieren. Und wenn er nur auf diesen einen Knopf drücken muss, und dann läuft bei mir das ganze Verteidigungsprogramm ab - dann bin ich in seiner Hand. Denn dann habe ich meine Selbststeuerung verloren. Und der Verlust der Selbststeuerung ist der Beginn der Eskalation.


Aber was macht man, wenn man sich schon mitten in der Eskalation befindet?

Zuallererst muss man begreifen, dass man selbst auch ein Täter ist. Ich habe mal einen Chirurgen gecoacht, der in seinem Krankenhaus ausgegrenzt wurde. Und er glaubte immer, er habe überhaupt nichts dazu beigetragen. Rein gar nichts. Irgendwann gab er dann doch zu: Na gut, da habe ich schon was gesagt, dort habe ich wohl auch ein klein wenig provoziert. Man muss sich selbst immer fragen, triggere ich da vielleicht unbewusst irgendetwas im anderen?

Und was mache ich ganz konkret in solchen Konfliktsituationen?
Das kommt auf die Konfliktstufe an, auf der Sie sich gerade befinden. Am Anfang ist es wichtig, nicht immer nur alles hinunterzuschlucken. Tun Sie durchaus Dinge, die den ande­ren provozieren. Dann kann man beginnen, darüber zu reden. Das ist immer besser als Schweigen. Und wenn Sie endlich wieder mit Ihrem Partner reden, sprechen Sie darü­ber, was Sie gegenseitig in die Wut hineintreibt. Erklären Sie sich. Sagen Sie: Gewollt habe ich nur das und das, aber ich nehme zur Kennt­nis, dass es bei dir dies und das aus­löst. Ich muss dann aber auch dazu stehen, dass ich dem anderen eine Grenze setzen wollte. Bloß nichts schönreden, dann entsteht noch der Eindruck der Lüge. Es ist nicht einfach, solche Gespräche zu füh­ren. Aber trauen Sie sich. Die alten Griechen haben schon gewusst: Die Angst vor der Schlacht ist immer größer als die Angst in der Schlacht.

Aber ab einem bestimmten Grad des Misstrauens glaubt man einander doch überhaupt nichts mehr. Was sollen solche Gespräche dann noch bringen?
Die Dämonisierung des anderen geht in der Tat schon früh los. Am Anfang schwankt man immer noch hin und her, ab Stufe sechs ist der andere ganz böse und schwarz geworden. Die Partner müssen sich dann an die Lichtseiten dieses Men­schen erinnern, der heute ihr Feind ist. Hat man nicht auch mal schöne Zeiten miteinander erlebt? Was war an diesem Menschen liebenswert - und ist es vielleicht noch immer? Und beide müssen sich klarmachen: Der andere ringt genauso mit sich, ist genauso zwischen Liebe und Hass, zwischen Zuneigung und Ver­achtung hin­ und hergerissen, wie man selbst das ist. Man muss als Erstes die Lichtgestalt wieder sehen. Dann kann man die einzel­nen Konflikte bearbeiten.

Friedrich Glasl, 76, stammt gebürtig aus Wien. Der Konfliktforscher studier­te Psychologie und Politik­wissenschaften, promovierte zum Thema internationale Kon­fliktverhütung und habilitierte mit Schwerpunkt Konfliktfor­schung. Glasl lebt in Salzburg und arbeitet für die Firma Trigon­-Entwicklungsberatung, die er mitgegründet hat. 

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