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Lasst uns wieder mehr Respekt haben - vor uns und unserem Körper!

Respekt vor dem Körper haben: Frau vor Spiegel
© Shutterstock/ kudla
Je mehr wir an uns verändern (lassen) können, desto genormter wird das Schönheitsideal. Aber immer mehr Frauen wollen den Irrsinn
nicht mehr mitmachen und begehren auf. Zum Glück.

Als ich 14 war, sagte meine Mutter zu mir: "Pass auf, dass du nicht zu dick wirst." Heute würde sie für diesen Satz vermutlich an den Pranger gestellt. Ein Mädchen! In der Pubertät! Und dann so was! Ich nahm ihn damals zur Kenntnis, fragte mich, ob sie Recht haben könnte, und beschloss, ihn nicht zu ignorieren - aber auch nicht zu wichtig zu nehmen. Ich aß weiter die weißen Streifen von "Schoko-Mac" mit dem Löffel aus dem Glas und eine halbe Packung Toastbrot mit Leberwurst auf einmal.

Meine Mutter, damals 50, hatte in meinen Augen eine gesunde Eitelkeit. Sie machte jeden Morgen zehn Minuten Gymnastik, ging einmal die Woche zu einem Damen-Turnkurs und jeden Freitag zum Friseur. Sie achtete auf ihr Aussehen und ihren Körper, in einem Maße, das ich normal nennen würde. Und obwohl sie den bösen Satz zu mir gesagt hatte, entwickelte ich keine Essstörung. Aber mein Körper war mir nie komplett egal - und das empfinde ich bis heute als total normal. Wieso sollte er mir egal sein? Er ist ein wesentlicher Bestandteil von mir, und es ist mir wichtig, ihn zu mögen und auf ihn zu achten.

Im Zeitalter der Körperoptimierung ist der Grat zwischen gesunder Disziplin und krankhaftem Zwang extrem schmal geworden.

Leider haben die Möglichkeiten, auf seinen Körper zu "achten", in den letzten zehn Jahren derart dramatisch zugenommen, dass die Frage, wo normale Instandhaltung aufhört und der Wahn beginnt, mittlerweile eine ganze Generation von Frauen spaltet. Ist es schon unnormal, regelmäßig Sport zu machen? Darf man sich Beine, Achseln, Bikini-Zone rasieren? Oder verrät man damit die Geschlechtsgenossinnen? Im Zeitalter der Körperoptimierung ist der Grat zwischen gesunder Disziplin und krankhaftem Zwang extrem schmal geworden. Junge Mädchen hungern sich in Size Zero, ihre Mütter haben Figuren wie 16-Jährige. Und seit auch noch minimalinvasive Eingriffe wie Botox, Filler & Co. quasi zur Pflegeroutine gehören, ist unser Körperbild in eine wahnsinnige Schieflage geraten.

Die Psychoanalytikerin Ada Borkenhagen hat sich mit dieser Schief­lage intensiv beschäftigt: Sie forscht über die Gründe und Auswirkungen der Schönheitschirurgie. Ich rufe sie an, weil ich wissen will, warum es uns immer schwerer fällt, unse­ren Körper einfach mal schön zu finden - so wie er ist. "Weil es keinen natürlichen Körper gibt", sagt Ada Borkenhagen, "und den hat es nie gegeben. Er war immer kulturell bestimmt, und das wird so bleiben." Das heißt, der Körper galt immer als formbar. Die Optimierung des Aussehens ist keine spontane Idee aus den 80er­ Jahren, als Jane Fonda, gerten­schlank, ihre Aerobic­Videos auf den Markt brachte. Also alles in Ordnung? Nein. Das aktuelle Pro­blem ist: Der gesellschaftliche Zwang (und die Möglichkeit) zur Körperoptimierung war nie so groß wie jetzt. Und das Attraktivitäts­-Ideal wird immer enger.

Der allerletzte Schrei in Hollywood sind "baby cheeks", süße runde Apfelbäckchen.

Der Dermatologe des Vertrauens injiziert dafür Hyaluron in die Wangen, eine Flüs­sigkeit, die aufpolstert. Dazu gehört der hingepeelte pfirsichzarte Schimmer auf der Haut, der "glow of youth". Und dann noch diese läs­sig dahingeschnittenen Mähnen mit hell gefärbten Spitzen, als kämen alle gerade direkt vom Surfbrett.
Aber wer war jetzt noch mal wer? Gwyneth Paltrow sieht irgendwie so aus wie Lindsay Lohan, fast könnte sie auch für Blake Lively gehalten werden. Das europäische Pendant zum US­-Apfelschnuten­-Einheitslook ist Sylvie Meis, ehe­mals van der Vaart. Und mit ihr Tausende von Frauen in Hunderten von Großstädten.

Vielleicht ist genau das die drama­tischste Entwicklung in der ganzen Sache: Schönheit hat keinen Spiel­raum mehr.

Was wiederum den Druck auf die Frauen erhöht, nicht nur irgendwie attraktiv zu sein, sondern auch genau dieser Norm zu entsprechen. Ada Borkenhagen spricht von dem neuen Hübschheits­-Ideal. "Schönheit lebt durch das Besondere. Hübschheit ist das, was die Schönheitschirurgie vorgibt", so definiert sie den Unterschied. Und die Macht der Schönheitsindustrie ist ungebremst. Vor allem die kleinen invasiven Eingriffe wie Botox, Filler oder Hyaluronsäure haben innerhalb der vergangenen zehn Jahre einen Boom erlebt, die mittlerweile jeder Dermatologe um die Ecke anbietet.

Sich in der Mittagspause Nervengift in die bösen Falten injizieren zu lassen, ist so normal geworden wie schnell mal Wimpern färben beim Friseur.

Eine Gesichtskorrektur wird in ein paar Jahren genauso zur Körper-Instandhaltung gehören wie die Zahnspange. Ada Borkenhagen ist wenig optimistisch, was die Entwicklung angeht. Wir werden, davon ist sie überzeugt, diesen Trend weder aufhalten noch zurückdrehen können. So wie wir es in der deutschen Mittelschicht nicht mehr gewohnt sind, schiefe Zähne zu sehen, werden wir es bald nicht mehr gewohnt sein, stark alternde oder sehr unebene Gesichter zu sehen. "Wer es sich leisten kann, altert schön. Die anderen haben das Nachsehen", so Borkenhagen. Und das Altern, kein Witz, beginnt ab 35. Borkenhagen entwirft ein Szenario, in dem die Kluft zwischen Unter- und Mittelschicht immer größer werden wird, weil die einen ihre Falten wegspritzen können und die anderen nicht. Das ist doch alles Wahnsinn?

Zum Glück gibt es mittlerweile genügend Frauen, die diesen Wahnsinn nicht mehr hinnehmen. Es ist tatsächlich eine neue Souveränität im Umgang mit dem krassen Schönheitsdiktat zu beobachten. Cameron Diaz ist vor einiger Zeit prominent ausgestiegen aus dem Botox-Zirkus. Man sah sie auf einmal nicht mehr maskenhaft erstarrt, sondern recht natürlich. Darauf angesprochen, sagte sie in einem Interview, sie sähe ihr Gesicht lieber altern, als eines zu haben, das überhaupt nicht mehr zu ihr gehöre. Und Madonna zeigte stolz etwas in die Kamera, was man vorher schon lange an keiner Frau in der Öffentlichkeit mehr gesehen hatte: Achselhaare.

Warum haben wir uns selbst entwürdigt?

Man weiß beim Hollywood-Personal natürlich nie, was ein PR-Gag und was eine wirkliche Haltung ist, aber den beiden sei stellvertretend für andere Positivbeispiele gedankt für ihre deutliche Aussage. Mehr davon! Unabhängig von Prominenten formieren sich auch im Internet massive Gegenbewegungen. Eine davon hat Jennifer Tress mit ihrer Internetseite www.yourenotprettyenough.com gestartet. Ihr Mann hatte die Amerikanerin nach ein paar Jahren Ehe mit der Aussage verlassen, sie sei nicht hübsch genug für ihn. Tress, eigentlich mit einem gesunden Selbstbewusstsein ausgestattet, fand sich vor dem Spiegel wieder - verletzt und zweifelnd. Sie verarbeitete ihre Erfahrung in einer Geschichte und richtete dafür eine Website ein. Dabei stellte sie fest, dass Frauen über Umwege auf ihre Seite gelangten - weil sie die Fragen "Bin ich hübsch?" oder "Bin ich schön genug, um von jemandem geliebt zu werden?" bei Google eingegeben hatten.

Tress war schockiert. Und entwickelte die Idee für eine Community: Sie eröffnete ein Forum, in dem Frauen Videobotschaften mit ihren Erfahrungen und Gedanken rund um ihren Körper veröffentlichen und diskutieren können.

Auch Aktfotograf Matt Kessler inszeniert seit zehn Jahren Menschen in ihrer ganz normalen Nacktheit, und die Psychoanalytikerin Susie Orbach kämpft unter anderem auf www.endangeredbodies.org gegen die Diktate der Schönheitsindustrie. Dies alles ist ein Hinweis darauf, dass es den Frauen endgültig reicht. Allerdings müssen wir uns im Zuge dieses neuen Widerstandes fragen, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Wie konnten wir zulassen, dass bereits eine Kleidergröße 42 jenseits unserer Vorstellungen von einem schlanken Körper liegt? Warum sind wir nicht mehr in der Lage, unseren Kindern ein vernünftiges Körperbild zu vermitteln? Warum haben wir uns so sehr selbst entwürdigt?

"Wenn die Frau altert, zeigt sie auch dem Mann, dass er altert. Sie ist sein Spiegel."

Das mag akademisch klingen, doch in einer Gesellschaft, in der auch Männer unter einem immer extremeren Jugenddruck stehen, scheint diese Erklärung sinnvoll. Obwohl es natürlich auch genügend Männer gibt, die mit überschminkten Hungerhaken nichts anfangen können. "Frauen gönnen es anderen Frauen nicht, in Würde zu altern", sagt Cameron Diaz. Und auch das mag stimmen. Frauen sollten solidarischer mit Frauen sein. In die eine wie in die andere Richtung: Wenn sich eine das graue Haar färbt, hat sie noch lange keine Identitätsstörung. Und wenn sie es nicht tut, ist das noch lange kein politisches Statement. Sondern einfach Geschmackssache.

Als meine Mutter Mitte 70 war, hat sie sich die Schlupflider liften lassen. Vor der OP hatte sie lange gehadert - in ihrer Generation war so etwas eigentlich tabu. Man alterte in Würde, maximal mit einer teuren Creme. Der Eingriff war kaum zu sehen, sie hatte lediglich einen wacheren Blick. Ich habe sie damals verstanden. Sie fühlte sich frischer, dennoch entsprach ihr Gesicht dem einer älteren Dame. Mit ihren Falten hadert sie manchmal. Auf eine sehr normale Art. Ich erzähle das, weil es eine Haltung ausdrückt: Respekt vor unserem Körper. Respekt vor dem, was unser Körper mitgemacht hat. Wenn wir theoretisch alles machen lassen können, ist es sehr erwachsen, das nicht zu tun. Wir werden alle peu à peu Abschied nehmen müssen von den Lebensmöglichkeiten, die uns die Jugend offeriert. Dazu gehören ultrakurze Röcke genauso wie knallenge Jeans oder ein makelloser Teint. Es ist albern, das alles erhalten zu wollen. Es ist lächerlich, von hinten für die eigene Tochter gehalten zu werden. Dem Körper beim Altern zuzusehen ist kein Spaziergang. Aber es gehört zum Erwachsensein dazu.

Hübschsein macht nicht glücklich!

Und eines, verdammt, sollten wir doch alle schon verstanden haben: Hübschheit ist vielleicht angenehm, aber sie macht nicht glücklich. Hübschheit ist eine Norm, ein Einheitslook, der auf Dauer ziemlich öde ist. Glücklich macht - wenn überhaupt - nur Schönheit. Und Schönheit ist Ausstrahlung. Haltung. Anmut. Lebendigkeit. Und das alles kann man nie im Leben hinspritzen.

Nikola Haaks beobachtet auch an sich die ersten Fältchen. Einzige Gegenmaßnahme: Statt wie früher zu Tropical-Oil greift sie jetzt tatsächlich mal zu Sonnenschutz. 

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