Rund 45 Millionen Mal im Jahr verordnen Praxisärzte in Deutschland ein Antibiotikum. Und schicken ihre Patienten meist mit der Ermahnung nach Hause, ja nicht schon nach wenigen Tagen mit der Einnahme des Mittels aufzuhören, sondern die Packung ganz aufzubrauchen. Denn sonst, so die bis vor Kurzem geltende Lehrmeinung, könnten Erreger zurückbleiben, die womöglich resistent sind.
Resistente Keime sind ein Riesenproblem, denn man kann sie nur noch schwer, manchmal sogar überhaupt nicht mehr bekämpfen. Doch jetzt denken die Ärzte um: Möglicherweise würde eine deutlich kürzere Einnahme von Antibiotika sogar besser vor Resistenzen schützen. Warum? Das erklärt Dr. Peter Walger, Intensivmediziner und Infektiologe.
BRIGITTE: Bisher galt: Wer länger behandelt, verhindert Resistenzen. Was hat sich jetzt verändert?
Dr. Peter Walger: Die Datenlage. In den letzten zehn Jahren gibt es immer mehr Studien, die eine kürzere mit einer längeren Antibiotika-Gabe vergleichen. Sie alle zeigen, dass die kürzeren Therapiezeiten genauso erfolgreich sind, wohingegen die längeren Zeiten mit mehr Resistenzen und Nebenwirkungen verbunden sind.
Wie kann das sein? Das ist das Gegenteil von dem, was man bisher annahm.
Es stimmt einfach nicht, dass kurze Therapiezeiten die Resistenzentstehung begünstigen, auch wenn nach wie vor viele Ärzte dieser Auffassung sind. Bei einer Antibiotika-Therapie geht es ja immer darum, die Infektionsverursacher abzutöten. Die Resistenzentstehung läuft parallel zu diesem Prozess und betrifft auch viele Bakterien, die gar nicht an der Infektion beteiligt sind, also in diesem Moment überhaupt keine Probleme machen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie Resistenzen entwickeln, ist umso höher, je länger sie dem Antibiotikum ausgesetzt sind. Zumal ja das Mittel die "Konkurrenz", also die anderen Keime, beseitigt.
Wie genau kann man sich das vorstellen?
Zum einen schafft man dadurch, dass man die auf das Antibiotikum empfindlichen Erreger komplett ausschaltet, sozusagen Platz für die Vermehrung der unempfindlichen Bakterien. Im Körper findet unter den Bakterien eine Art Verdrängungswettbewerb statt, und je weniger Bakterien einer bestimmten Sorte es gibt, desto stärker können sich die anderen vermehren. Wir nennen dieses Phänomen auch "Kollateralschaden" der Antibiotika-Therapie. So werden z.B. im Laufe der Behandlung immer auch nützliche Darmbakterien getötet, und in die entstehende Lücke stoßen andere Keime, die etwa Durchfall verursachen können.
Nehmen denn generell solche Nebenwirkungen zu, je länger man Antibiotika schluckt?
Ja, auch unter diesem Aspekt ist es sinnvoll, so kurz wie möglich zu behandeln. Neben dem erwähnten Durchfall und der Selektion resistenter Keime riskiert man mit einer längeren Therapie zum Beispiel auch Pilzinfektionen der Haut oder der Scheide. Immer gilt: so lange wie nötig und so kurz wie möglich.
Kann man sich vor solchen Nebenwirkungen beispielsweise mit probiotischen Joghurts schützen?
Das klingt zwar plausibel, aber es gibt insgesamt nicht sehr verlässliche wissenschaftliche Daten dazu. Wenn man mit den "guten" Bakterien aus dem Joghurt das Bakteriengleichgewicht im Darm wiederherstellen und die Krankheitskeime verdrängen wollte, müsste man jedenfalls ziemliche Mengen an Joghurt essen. Ich weiß nicht, wie realistisch das ist. Aber ich möchte nicht ausschließen, dass solche Probiotika auch günstige Effekte haben können.
Wird nach heutigen Kenntnissen zu lange behandelt?
Ja, das ist so. Viele Therapiezeiten beruhen nach wie vor nicht auf Studien, und in vielen Fällen überwiegt dabei ein falsches Sicherheitsdenken. Bei den meisten Infektionen, etwa der Lunge, des Bauches oder der Haut, ist es so: Wenn das Antibiotikum gut anschlägt, es einem also schon nach ein bis zwei Tagen deutlich besser geht, sollte man das Mittel insgesamt etwa fünf Tage lang nehmen.
Wenn man zwar eine Besserung merkt, aber beispielsweise Fieber und Abgeschlagenheit nur langsam zurückgehen, sind eher sieben Tage zu empfehlen. Antibiotika-Packungen, die Tabletten für zehn Tage enthalten, sind also in den wenigsten Fällen sinnvoll. Auch Infektionen der Harnwege oder bakterielle Infektionen der oberen Atemwege können kürzer als bisher behandelt werden, bei Harnwegsinfekten reicht sogar oft eine einzige Gabe. Die Entscheidung sollte aber nicht der Patient allein fällen. Hier sind Kontrolltermine wichtig, der Arzt muss den Patienten nach zwei, drei Tagen wiedersehen.
Gibt es auch Krankheiten, bei denen eine verkürzte Therapie gefährlich ist?
Eine zu kurze Therapie bedeutet immer den Misserfolg der Heilung. Eine zu lange Therapie führt nicht zu besserer Heilung, aber zu mehr Nebenwirkungen. Infektionen der Haut, wie zum Beispiel eine Wundrose (Erysipel), aber auch Knocheninfektionen oder Hirnhautentzündungen, werden nach wie vor deutlich länger behandelt als beispielsweise eine Mittelohrentzündung. Aber auch hier werden etwa dreimonatige mit sechswöchigen oder sechswöchige mit vierwöchigen Behandlungszeiten verglichen - und alles spricht für die kürzeren.
Und wenn man zum Beispiel mit einem Atemwegsinfekt nach zwei Tagen noch gar keinen Effekt verspürt?
Dann könnte es sein, dass es nicht das richtige Antibiotikum ist. Dann sollte man auf jeden Fall Rücksprache mit dem Arzt halten, der möglicherweise ein anderes Mittel verschreibt, das auf andere Erreger zielt. Denn in der Praxis wird ein Antibiotikum ja meist aufgrund von Erfahrungswerten ausgesucht, ohne dass man bereits genau weiß, welcher Keim im Einzelfall für die Krankheit verantwortlich ist.
Wenn Antibiotika nicht wie erwartet wirken, sollte man deshalb auch rasch versuchen, mit speziellen Laboruntersuchungen die beteiligten Bakterien zu identifizieren. Dann kann gezielt behandelt werden. Wenn herauskommt, dass es gar kein Bakterium ist, sollte man das Antibiotikum sofort absetzen.