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Angsterkrankung Antonia Wille: "Die Angst gehört zu mir, aber ich gebe die Richtung an."

Antonia Wille sitzt auf dem Fußboden
© Stefanie Müller
Die Angst begleitet Antonia Wille schon ein Leben lang. Immer wieder taucht sie auf: in der U-Bahn, auf Reisen, im Auto und im Job. Im Interview erzählt die freie Journalistin und Bloggerin, warum sie der Angst erst einen Platz in ihrem Leben einräumen musste, damit sie kleiner wurde.

Das Interview erschien erstmalig im Juli 2020.

In deinem Buch „Angstphase“ beschreibst du, wie es sich anfühlt mit einer Angsterkrankung zu leben, wie die Angst in dein Leben kam und wie du gelernt hast, mit ihr umzugehen. Wann ist dir die Angst das erste Mal begegnet?

Antonia Wille: Ich war im Teenager-Alter, 14 Jahre alt vielleicht. So ganz genau kann ich das gar nicht sagen. Mir war zu dem Zeitpunkt nicht bewusst, dass ich ein Problem habe. Ich habe nur bemerkt, dass mir auf Klassenfahrten oder an Orten, an denen ich ohne meine Familie war, immer mal wieder schlecht wurde – eine Übelkeit, die sich anders anfühlte, als wenn man beispielsweise zu viele Süßigkeiten gegessen hat. Aber erst mit 17 habe ich die Diagnose bekommen.

Warum hat das so lange gedauert?

Naja, wenn man auf Klassenfahrt ist und einem wird mitten in der Nacht schlecht, dann weiß man als Teenager nicht genau, was das ist. Man denkt, man hat vielleicht etwas nicht vertragen. Wenn das aber mehrfach vorkommt, merkt man, dass das nicht normal ist. Irgendwann habe ich davon erzählt und meine Familie ahnte, dass das vermutlich eher Angstattacken sind und keine Magenverstimmung.

In deiner Familie kannte sich deine Mama mit Angst- und Panikattacken aus…

Ja, das war mehr oder weniger mein Glück. Meine Mutter kannte auch Panikattacken und Angstzustände und hat relativ schnell geschalten, dass das nichts Körperliches ist, sondern von der Seele kommt. Der Ärzte-Marathon ist mir dadurch zum Glück erspart geblieben. Ich habe zwar abklären lassen, ob physisch alles ok ist. Aber ich wusste, dass das eine komplett andere Übelkeit ist, als die die man hat, wenn man sich den Magen verdorben hat. Ich wusste immer, dass das etwas anderes ist.

Deine Diagnose lautet Agoraphobie. Kannst du kurz erzählen, was sich dahinter verbirgt?

Bei der Agoraphobie ist es so, dass die Angst mit sehr spezifischen Situationen verknüpft ist. Im Fachjargon heißt Agoraphobie auch Platzangst, aber nicht Platzangst im Sinne von Klaustrophobie, sondern Platzangst im Sinne von Angst vor weiten Plätzen, Angst vor Menschenmassen oder Angst in öffentlichen Verkehrsmitteln. So äußert sich die Angst bei mir auch in Situationen, in denen ich die Kontrolle abgeben muss, beispielsweise wenn die U-Bahn im Tunnel steht, wenn ich im Stau stehe – also immer dann, wenn ich nicht sofort flüchten und zurück in mein sicheres Umfeld kann, sondern in der Situation gefangen bin.

Wie fühlt sich das dann an, wenn du in so einer Situation bist?

Das ist sehr schwer zu beschreiben und nachzuvollziehen, wenn man es selbst nicht erlebt hat. Wenn beispielsweise die U-Bahn, in der ich sitze, im Tunnel stehen bleibt, wird mir heiß und Übelkeit steigt auf. Ich bin innerlich sehr unruhig und stark angespannt und meine Gedanken sind nur darauf fokussiert: Was ist da los? Wann geht es weiter? Und das Gefühl, ich will hier weg. Das führt dann dazu, dass man noch mehr Panik bekommt und denkt: „Oh Gott, ich bin hier eingesperrt.“. Es läuft alles auf der emotionalen Ebene ab. Rational weiß ich natürlich, die U-Bahn bleibt nicht für Jahre in diesem Tunnel stehen und ich werde hier drin nicht verhungern. Aber emotional fühlt es sich schlimm an – wie der absolute Kontrollverlust. Man hat Angst, einem wird so schlecht, dass man sich übergeben muss, was natürlich auf rationaler Ebene auch nichts ist, dass man nicht überlebt, aber man steht so unter Strom und Stress, dass die Rationalität nicht mehr zu einem durchdringt. Wie ganz ganz schlimmes Lampenfieber eigentlich. Oft auch wellenförmig. Ich habe beispielsweise mehr Angstattacken, als Panikattacken, heißt: Die Angst kommt, dann geht sie plötzlich wieder und dann erinnere ich mich, dass ich ja noch immer mit der U-Bahn im Tunnel stehe und dann kommt sie wieder.

Aber wenn du dann die Situation verlässt, geht es dann sofort weg?

Genau. Heute versuche ich immer trotzdem weiterzufahren – aber es gab Zeiten, in denen ich tatsächlich aus der U-Bahn ausgestiegen bin, weil ich so unter Strom stand und erst mal runterkommen musste. Wenn ich die Situation verlasse, fällt die körperliche und seelische Anspannung erstmal ab. Man ist jetzt schließlich wieder in Sicherheit. Ich bin dann tatsächlich auch den ganzen Tag erschöpft, da diese Adrenalinausschüttung so anstrengend ist. Das Problem ist nur: Wenn man wieder in einer ähnlichen Situation ist, denkt man: Was ist, wenn das wieder passiert. Die Angst vor der Angst kommt.

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In deinem Buch beschreibst du, dass du auch Ausflüge mit Freunden abgesagt oder dir Ausreden überlegt hast. Du bist ja auch nicht auf eine Klassenreise mitgeflogen. Wie war das für dich, gerade als Teenie?

Ich hatte eine tolle Teenagerzeit. Also es ist nicht so, dass ich die ganze Zeit nur zu Hause saß, sondern auch in meinem vertrauten Umfeld und im Landkreis viel unterwegs und auf Partys war. Die Angst war nicht immer da, aber wenn es hieß, wir fahren mit der Klasse in unbekanntes Terrain, dann kam sie. Und das war Anfang der 2000er, das heißt, es gab auch noch keine sozialen Medien. Es war lange nicht so publik, über seelische Erkrankungen zu sprechen, wie es heute ist. Abgesehen davon tut man sich als Teenager meist ohnehin schwerer, darüber zu sprechen. Daher habe ich damals auch nicht gesagt: „Leute ich kann nicht mitkommen, weil ich Angst habe.“, sondern habe dann Kopfweh oder Magenprobleme vorgeschoben. Das fällt natürlich irgendwann auf.

Du hast deiner Angst dann irgendwann einen Namen gegeben – Katja nennst du sie. Inwiefern hilft dir das?

Der Tipp kam von einer meiner TherapeutInnen. Sie hat gesagt: „Sprechen Sie mit ihrer Angst, in den Situationen, in denen sie kommt und vertreiben Sie sie dann.“ So war zumindest der erste Ansatz. Das hatte den Effekt, dass man sich der Angst gegenüber nicht so hilflos ausgeliefert fühlt, sondern man konkret im inneren Dialog mit ihr sprechen kann und Gedankenkreise durchbricht. Und zweitens hilft es auch, sich davon ein wenig zu distanzieren und nicht plötzlich nur noch die Angst in sich zu sehen. Man ist auch noch mehr ist als das, nämlich durchaus eine selbstbewusste Person, die auch rational weiß, dass sie keine Angst haben braucht. Das ist nämlich oft das, was man an sich selbst wahrnimmt und weshalb ich mich auch so lange gescheut habe, darüber zu sprechen: Ich wollte mir nicht selbst einen Stempel geben und gleichzeitig wollte ich nicht, dass es andere tun. 

Irgendwann hast du aber aufgehört, gegen Katja zu kämpfen und stattdessen gelernt, sie zu akzeptieren. Hat das den entscheidenden Unterschied gemacht?

Genau, ich habe ganz lange die Angst von mir weggeschoben und immer wenn sie kam: Konfrontation, Konfrontation, Konfrontation. Also bloß nicht der Angst das Zepter in die Hand geben, sondern durch jede Situation durchgehen. Nur ist das wahnsinnig anstrengend und ich war irgendwann total ausgepowert. Wenn man schon einen stressigen Job hat, kommt diese doppelte Anstrengung noch einmal obendrauf. Ich habe dann irgendwann gemerkt, dass ich so nicht weitermachen kann, weil ich nur noch auf einem hohen Stresslevel agiere. Als sie dann wieder angeklopft hat, habe ich geguckt, warum sie überhaupt kommt, statt direkt dagegen zu arbeiten. Das hat dann den Twist gegeben und ich habe gemerkt: Okay, die Angst ist ein Teil von mir und wird immer irgendwie kommen – und zwar dann, wenn ich nicht genug auf mich aufpasse, wenn ich immer Vollgas gebe und so lebe, als hätte ich diese Angst nicht. Die Angst gehört zu mir und ich akzeptiere sie, aber ich gebe die Richtung an, in die wir gehen und nicht die Angst.

Was hat sich dadurch geändert?

Das hat sehr geholfen, weil ich dann sagen konnte: Okay, ich bin unruhig, warum ist das so? Dadurch bin ich einfach netter zu mir geworden. Früher hätte ich gesagt: Liebe Angst, wir ziehen jetzt aber den Termin durch, egal wie gestresst ich ohnehin schon bin und du hast kein Recht jetzt hier zu sein. Das hätte mich dann aber noch mehr gestresst, wodurch die Gefahr, dass es noch schlimmer wird, viel größer ist, als wenn ich sage, gut, dann heute nicht.

Was auch immer wieder betont wird, ist, dass Sport hilft. Nun hast du aber ausgerechnet beim Joggen eine fiese Panikattacke gehabt. Was hat das dann mit dir gemacht?

Ich habe mich unglaublich erschrocken und habe das auch überhaupt nicht kommen sehen. Es hat sich angefühlt, als würde sie mich aus dem Nichts niederreißen und auf mir herumtrampeln. Im Nachhinein betrachtet kam sie aber nicht aus dem Nichts. Da waren schon Anzeichen, bei denen ich hätte merken müssen, dass ich schon über meinem Limit war, was ich aber nicht sehen wollte. Ich habe dann gemerkt, dass Sport, Yoga und Meditation zwar gut sind, aber ich kann soviel davon machen wie ich will, wenn ich trotzdem permanent gegen meine Bedürfnisse handle, hilft mir das gar nichts. Man muss also sehr genau gucken, was brauche ich gerade eigentlich wirklich und das ist nicht immer eine Yoga-Stunde, vor allem, wenn die zu einem zusätzlichen Stresstrigger wird.

Was unterscheidet eine Panikattacke von einer Angstattacke?

Während mir bei einer Angstattacke schlecht wird und ich diese Übelkeit auch schon kenne, kann ich die mittlerweile ganz leicht wieder in den Griff kriegen. Die Panikattacke hingegen kam mit so einer Wucht, dass ich wirklich Angst hatte, ich komme nie wieder nach Hause. Der Unterschied ist einfach, dass sich eine Panikattacke massiv hochsteigern kann, aber nach etwa 30 Minuten auch ihren Adrenalinhöhepunkt erreicht und dann ist die Ausschüttung vorbei und es kehrt wieder Ruhe ein. Bei der Angstattacke ist die Adrenalinausschüttung auf einem niedrigeren Level, dafür kann es aber auch Stunden dauern, weil man diesen Adrenalinhöhepunkt nicht erreicht, sondern eine Welle nach der nächsten kommt. Bei der Panikattacke dachte ich wirklich, ich sterbe – und das ist sehr beängstigend.

Bist du danach mit dir wieder anders umgegangen?

Das war auf jeden Fall ein Wendepunkt. Ich habe dann gesagt: Der Sport tut gut, aber nicht, wenn ich ihn zu einem Termin mache, den ich erfüllen muss. Ich habe glücklicherweise einen tollen Therapeuten, der das auch erkannt hat und gesagt hat, wir müssen den Stress auf null fahren. Das bedeutet aber auch, dass wir erstmal wenig konfrontieren. Dass ich mich erstmal wirklich entspanne und mich nur konfrontiere, wenn ich dafür auch wirklich die Kapazitäten habe. Es ist wichtig sich bei Ängsten zu konfrontieren, weil sie sich sonst manifestieren, aber nicht um jeden Preis.

Wie hat dein Umfeld auf deinen offenen Umgang mit der Krankheit reagiert?

Als ich offener gesprochen habe und wirklich auch ehrlich mir gegenüber und den anderen war, hat mein Umfeld das total großartig aufgenommen und mich sehr unterstützt. Ich kann jederzeit jemanden fragen, ob er oder sie mich begleitet oder anrufen, wenn etwas ist.

Hast du eine Art Notfallliste mit Dingen, die du tust, wenn du merkst, da linst die Angst wieder um die Ecke?

Was mir hilft, ist auf jeden Fall das anzunehmen und zu sagen: Gut, dann bin ich halt heute etwas unruhiger, vielleicht ist es morgen besser. Und dann auch lieber weniger zu tun, als ständig unterwegs zu sein. Manchmal hilft mir aber auch Bewegung und frische Luft. Und klar gibt es auch Tage, da hilft irgendwie nichts so richtig. Da gucke ich dann eher, wo diese Unruhe herkommt und gehe gegen diese Weltuntergangsszenarien vor. Man denkt immer gleich, jetzt kommt die nächste große Krise. Dann hilft es, sich ins Hier und Jetzt zu holen und mal von Stunde zu Stunde zu denken. Also: Okay, es ist jetzt so, mal gucken, wie es in einer Stunde ist, statt schon darüber nachzudenken, was morgen, übermorgen oder nächste Woche sein könnte.

Wie erkennt man, ob man an einer Angsterkrankung leidet, oder man einfach nur Angst hat?

Sobald man merkt, das beeinflusst einen im Leben oder die Gedanken drehen sich viel darum, man hat Sorge, dass es wieder passiert oder man schränkt sich ein – man scheut die Fahrt mit der U-Bahn oder geht nicht mehr gern in den Supermarkt – ist es gut, sich frühzeitig Hilfe zu holen, auch wenn es nur ein paar Stunden bei einem Therapeuten oder einer Therapeutin sind. Gerade bei Ängsten gilt, je eher, desto besser. Andernfalls setzen die sich nämlich sehr gern fest.

Leider ist Therapie nach wie vor ein Tabuthema…

…ja, dabei ist es total stark, sich Hilfe zu holen, wenn man merkt, man kommt selbst nicht voran. Andere Länder, wie beispielsweise die USA sind schon viel weiter, was die mentale Gesundheit angeht. Da spricht jeder total offen darüber, dass er oder sie zu TherapeutInnen geht. Therapie ist ja am Ende auch einfach etwas, wovon man profitiert. Man arbeitet an sich, das hat nichts mit Verrücktsein zu tun. Aber hier bei uns tut sich etwas – wenn auch langsam.

Wann war der letzte Besuch von Katja?

Das weiß ich gerade gar nicht mehr so genau. Irgendwann im letzten Winter, denke ich. Es passiert schon mal, dass ich an der Supermarktkasse stehe und sie klopft mir plötzlich auf die Schulter und dann sag ich ihr, sie soll mich bitte in Ruhe lassen. Aber so richtig schlimm war es jetzt zum Glück schon lange nicht mehr.

Antonia Wille sitzt auf dem Fußboden
© Stefanie Müller

Antonia Wille, Jahrgang 1986, ist freie Journalistin und Bloggerin. Nach ihrem Magisterstudium in Theaterwissenschaft, Neuere Deutsche Literatur und Italianistik arbeitete sie freiberuflich für Münchner Tageszeitungen sowie Onlinemedien wie W&V oder Amazon Alexa. Seit 2008 bloggt sie in der deutschen Blogosphäre und zählt zu den Pionieren der Modebloggerszene Deutschlands. 2013 gründete sie gemeinsam mit Amelie Kahl und Milena Heißerer das Blogazine amazedmag.de, das zu den einflussreichsten Blog-Magazin-Formaten für junge Frauen in Deutschland zählt. Zudem arbeitet sie als Dozentin für Social Media und berät Unternehmen im Bereich Branding, Influencer Marketing sowie Social Media.

Cover Angstphase
© PR

Antonia Wille leidet seit ihrem elften Lebensjahr an einer Angststörung. Klassenfahrten, Partys, Urlaube und so manches Jobangebot musste sie ziehen lassen, weil die Panik ihr den Atem nahm, die Angst sie krank machte. Warum es ihr heute besser geht, wie sie meistens problemlos ihren Alltag meistert und wieso sie manchmal lieber verzichtet als ihre Panik überwindet, erklärt sie in diesem Buch, das zugleich ihr Coming-out als Angsterkrankte ist. 

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Barbara

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