Anzeige

Experteninterview Müssen Dicke immer abnehmen?

Experteninterview: Maßband wird von Gabel auf Löffel eingedreht
© weixx / Adobe Stock
Übergewicht ist ungesund: oft gehört, aber stimmt das auch? Die Ernährungswissenschaftlerinnen Dr. Antonie Post und Petra Schleifer haben da ihre eigene Ansicht

BRIGITTE: Dass Übergewicht für den Körper nicht besonders gut ist, liegt doch auf der Hand, oder?

Antonie Post: Nein. Es ist nicht notwendig, schlank zu sein, um ein gesundes und erfülltes Leben zu leben. Und für viele ist es mit ihrem Körpertyp auch gar nicht möglich. Ein permanentes Streben nach einem schlankeren Körper kann im Gegenteil zu einer schlechteren Gesundheit führen, als einfach in dem dicken Körper weiterzuleben und sich dabei gut um sich selbst zu kümmern.

Studien zeigen aber immer wieder, dass Übergewichtige ein höheres Risiko für Herzinfarkte, Schlaganfälle und Diabetes Typ 2 haben. Woher kommen dann diese Ergebnisse?

Antonie Post: Statistisch gesehen ist es richtig: Dicke Menschen sind kränker und haben ein höheres Risiko für verschiedene Krankheiten. Es gibt aber einen Unterschied zwischen der Kausalität und der Korrelation. Die Studien, die gemacht werden, zeigen nur auf, welche Phänomene zeitgleich auftauchen, aber nicht, ob sie auch kausal zusammenhängen. Der wirkliche Grund für das erhöhte Krankheitsrisiko wird nicht angeschaut. Kleiner Spoiler: Es ist nicht die reine Fettmasse.

Sondern?

Antonie Post: Übersehen wird der Stress, dem mehrgewichtige Menschen in unserer Gesellschaft permanent ausgesetzt sind. Tagtäglich werden sie beschämt. Nicht nur aktiv, in Form von Beleidigungen, sondern auch passiv: Weil sie nicht in einen Stuhl hineinpassen, nicht in ein normales Bekleidungsgeschäft gehen können, ständig Ratschläge zum Abnehmen bekommen und das Gefühl haben, nicht richtig zu sein. Studien zeigen, dass sie außerdem medizinisch schlechter versorgt werden. All das schadet der Psyche und erhöht den Cortisolspiegel, was krank macht und dazu führt, dass der Körper nur noch mehr Fett einlagert.

Petra Schleifer: Ein zweiter Punkt, der in den Studien nicht berücksichtigt wird: Zwei Drittel der Menschen, die eine Diät gemacht haben, sind nach einiger Zeit dicker als vorher. Sie müssen sich also noch mehr anstrengen, um wieder abzunehmen – es kommt zum sogenannten Weight-Cycling, einem ständigen Auf und Ab des Gewichts, das ebenfalls der Gesundheit schadet. 25 Prozent der Menschen, die Diäten machen, enden in einer therapiebedürftigen Essstörung. Sie denken ständig über ihr Gewicht nach. Das frisst Energie, schadet dem Selbstwertgefühl und der körperlichen und psychischen Gesundheit. Wenn Menschen also gar nicht erst eine Diät machen, sind sie gesünder, als wenn sie es immer wieder tun.

Antonie Post: Gesundheit hat daher kein bestimmtes Gewicht. Ein gesünderer Körper kann nur durch gesündere Verhaltensweisen wie mehr Bewegung, eine ausgewogene Ernährung, Stressmanagement, nicht rauchen und trinken und ausreichend Schlaf erreicht werden.

Welchen Einfluss hat denn das Verhalten auf die Gesundheit, welches die Umwelt?

Petra Schleifer: Etwa 20 Prozent können wir durch unser Verhalten verändern, der Rest ist durch die Genetik und sozioökonomische Faktoren vorgegeben. In Deutschland sind zum Beispiel arme Menschen dicker als Reiche. Das liegt aber nicht nur an ihrem Essverhalten, sondern vor allem daran, dass sie ein anstrengenderes Leben haben und mit ganz anderen Problemen kämpfen müssen. Es gibt Studien, da bekamen Menschen mit Diabetes Typ 2 und geringem Einkommen Mietgutscheine geschenkt – und ihre gesundheitliche Situation hat sich verändert, einfach, weil ein großer Stressfaktor wegfiel.

Kann man Gesundheit überhaupt von außen erkennen?

Petra Schleifer: Nein. Gesundheit bedeutet in erster Linie, dass die Bedürfnisse gedeckt sind. Heißt: Kontakt zu anderen Menschen, Sicherheit, kein Durst und Hunger, genug Schlaf. Je besser all das befriedigt wird, umso gesünder und zufriedener sind wir. Die Frage bei den mehrgewichtigen Menschen aber ist, wie sehr sie ihre Bedürfnisse überhaupt wahrnehmen können, wenn sie in den Augen der anderen falsch und nicht gut genug sind.

Antonie Post: Gesundheit bedeutet auch, einen Handlungsspielraum zu haben. Klar ist es gut, sich viel zu bewegen, aber es sollte nicht in Zwang ausarten, sondern Flexibilität zulassen. Auch beim Essen: Wenn ich nur eine Fertigpizza bekomme, ist es besser, sie zu essen, als mit knurrendem Magen ins Bett zu gehen. Was ganz sicher krank macht, ist Stress. Und wenn ich sehr viele Regeln in meinem Leben habe, die ich kaum einhalten kann, produziert das irre viel Stress.

Sie beraten Ihre Klient:innen gewichtsunabhängig, nach dem Konzept "Health at Every Size". Wie funktioniert das genau?

Antonie Post: "Health at Every Size" ist sowohl eine politische Bewegung, die sich für soziale Gerechtigkeit und eine vorurteilsfreie und respektvolle Gesundheitsversorgung einsetzt, als auch ein gewichtsneutrales Gesundheitskonzept, das in erster Linie auf Selbstfürsorge beruht. Dazu zählen Körperrespekt, intuitive Ernährung und Bewegung aus Freude. Nichts ist verboten. Jeder entscheidet individuell, was er braucht und was zu ihm passt. Wir konzentrieren uns direkt auf gesunde Verhaltensweisen, ohne den Umweg über das Gewicht zu nehmen.

Stopft man dann nicht ständig Schokolade und Pizza in sich hinein, wenn alles erlaubt ist?

Petra Schleifer: Am Anfang vielleicht. Ich habe jede Menge Magnum-Mandel-Eis gegessen, aber nach ein paar Tagen konnte ich es nicht mehr sehen.

Antonie Post: Studien zeigen: Wenn wir gut mit unserem Körper verbunden sind und auf die Rückmeldungen hören – also wie uns das Essen bekommt, wie viel Energie es uns gibt –, machen uns Süßigkeiten nach einiger Zeit gar nicht mehr so an. Dieses Nachspüren ist ein wichtiger Teil des Konzepts. Liegt man nach dem Essen nur noch in Embryonalhaltung auf dem Sofa, dann fühlt sich das nicht gut an. Und dann lässt man es beim nächsten Mal eben.

Was, wenn der Jieper nicht aufhört?

Petra Schleifer: Oft ist das Diätverhalten in uns sehr mächtig – die Idee, wenn ich mein Essen kontrolliere, kontrolliere ich mein Leben. Das loszulassen, kann dauern. Aber es funktioniert, wenn man sich Hilfe holt, die eigene Scham überwindet und Selbstfürsorge übt, zum Yoga geht, sich achtsam wahrnimmt und lernt, respektvoll mit sich zu sein. Leider haben wir noch zu wenig Bewegungsangebote für Mehrgewichtige in einem geschützten Raum, ohne Scham und schiefe Blicke.

Und es gibt gar keine Tipps, was man essen sollte und was nicht?

Antonie Post: Mit vielen Klient:innen arbeiten wir erst mal daran, dass sie genug essen, damit sie nicht ständig hungrig sind. Und dann erst gucken wir: Welche Lebensmittel tun gut, welche geben Energie? Wir schauen, dass mehr Obst und Gemüse auf den Teller kommen, die Lebensmittelkombinationen geschickt ausgewählt werden: mit Ballaststoffen, guten Fetten und Proteinen. Und natürlich gibt es kleine Tricks, wie zum Beispiel den Kuchen direkt nach einer Mahlzeit zu essen, um den Blutzuckerspiegel abzufangen. Aber nichts davon ist ein Muss, Ernährung ist immer individuell.

Und das funktioniert?

Petra Schleifer: Jemand, der sich selber akzeptiert, lebt gesünder als jemand, der sich nicht akzeptiert. Man geht eher zum Sport oder muss die Schokolade nicht essen, wenn man gut und fürsorglich zu sich ist. Die Perspektive zu ändern, das Gewicht außer Acht zu lassen und sich direkt auf die gesunden Verhaltensweisen zu konzentrieren, hat einen Rieseneffekt. Was wir in unseren Beratungen beobachten: Wenn wir bei der inneren Haltung ansetzen, überträgt sich ganz viel auf die körperliche Ebene. Weil Psyche und Körper zusammenhängen.

Verliert man automatisch auch ein paar Kilos?

Petra Schleifer: Vielleicht wird man schlanker. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass man den Körper, den man gerade hat, behält, ist groß. Vielleicht nimmt man fünf Kilo ab, aber eher nicht 30. Wir kennen viele Mehrgewichtige, die aus Selbstfürsorge mit Sport angefangen haben, sich anders ernähren und nicht ein Gramm abnehmen, aber trotzdem nicht aufhören, weil sie merken, wie sich ihr Körpergefühl, ihr Wohlbefinden, ihr Selbstwert verändern. Es gibt keine Methode, um dicke Menschen nebenwirkungsfrei und langfristig schlank zu machen. Wir können sie aber zufriedener und gesünder machen.

Muss ich den Wunsch loslassen, abnehmen zu wollen?

Petra Schleifer: Ein schlankerer Körper sollte zumindest nicht das vordergründige Ziel sein. Ein besseres Ziel ist es, sich mit Respekt und Selbstfürsorge zu behandeln. Ich habe mit neun meine erste Diät gemacht, Antonie mit elf. Wir haben die Erfahrung gemacht, wie gesund es für die Psyche ist, den Abnehmstress loszulassen, kein Fatshaming mehr zu betreiben, sich nicht zu verurteilen. Das bedeutet nicht, dass man sich nicht mehr bewegt oder nur noch Schokolade isst. Es geht um eine Selbstermächtigung: für sich entscheiden zu können, was ist gut für mich, was nicht. Das ist etwas, das einem Diäten mit strengen Plänen nehmen. Ich bin mit 53 Jahren zum ersten Mal ruhig mit meinem Körper, obwohl ich auf meinem höchsten Gewicht bin.

Antonie Post: Ich esse jetzt seit drei Jahren intuitiv. Ich kann meinen Körper hören, bin entspannt mit meinem Essen. Ich habe im Kopf verstanden, was Selbstfürsorge ist und wie sie funktioniert, aber ich kann sie noch nicht immer umsetzen. Ich hätte mir gewünscht, als ich meine erste Diät angefangen habe, alles über Diäten und ihre Gefahren zu wissen. Dann hätte ich wohl lieber an meiner Selbstfürsorge und meinem Selbstwert gearbeitet.

So funktioniert "Health at Every Size"

HAES ist ein gewichtsneutrales Gesundheitskonzept, das in den USA entwickelt wurde und sich für eine vorurteilsfreie Gesundheitsversorgung einsetzt (Infos unter asdah.org/health-at-every-size-haes-approach/). Es basiert auf drei Säulen: Selbstakzeptanz, intuitive Ernährung und Bewegung aus Freude. Onlinekurse gibt es zum Beispiel bei ernaehrungsrevolution.at.

Die Ernährungswissenschaftlerinnen Petra Schleifer und Dr. Antonie Post beraten in ihrer Praxis und online Menschen unabhängig vom Gewicht (bellyandmind.de, antoniepost.de).

Brigitte

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel