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Wenn Frauen das Baby im Bauch nicht bemerken

Wenn Frauen das Baby im Bauch nicht bemerken
© Donot6_studio/shutterstock
Ab und zu sorgen Meldungen von Frauen, die ohne Vorwarnung ein Baby bekommen, für Aufsehen. Dabei ist eine verdrängte Schwangerschaft gar nicht so selten.

Eine Frau, die nicht mitbekommt, dass in ihrem Bauch Leben heranwächst - und plötzlich ein Kind zur Welt bringt: Was viele nicht glauben können, passiert tatsächlich einer von 500 schwangeren Frauen. In Deutschland sind das rund 1300 Frauen pro Jahr. Zum Vergleich: Eine Drillingsgeburt kommt nur bei einer von 2900 Frauen vor.

Realisiert die Frau erst nach der 20. Schwangerschaftswoche (oder gar erst bei der Geburt), dass sie in anderen Umständen ist, spricht man von einer verdrängten Schwangerschaft, einer "Gravis suppressalis". In manchen Fällen ahnt sie eigentlich, was los ist - schiebt es aber von sich weg. Deswegen werden mitunter auch die Begriffe "verleugnete", "verheimlichte" oder "negierte" Schwangerschaft verwendet. Schon eine deutsche Studie aus dem Jahr 2002 wies darauf hin, dass unbemerkte Schwangerschaften häufiger vorkommen als vermutet.

Was man nicht sehen will, sieht man auch nicht

Übelkeit, ausbleibende Periode, wachsender Bauch, strampelndes Baby: Wie kann eine Frau all diese eigentlich offensichtlichen Anzeichen einer Schwangerschaft ignorieren? "Drum nicht sein kann, was nicht sein darf. Will heißen: Wenn eine Frau ihre Schwangerschaft nicht wahrhaben kann, findet sie auch Wege, alle Anzeichen umzudeuten", erklärt der Berliner Frauenarzt und Psychotherapeut Peter Rott. Es gebe Fälle, wo selbst der Gynäkologe die Schwangerschaft übersehen hat, weil er keinen Ultraschall gemacht hat. "Auch der Partner bekommt es nicht zwingend mit, schließlich wird nicht jedes Paar regelmäßig miteinander intim."

Bei Frauen mit Übergewicht fällt ein Bauch zudem nicht so sehr auf. Sie begründen ihre fehlende Regel mit Stress oder viel Sport, die Gewichtszunahme mit schlechter Ernährung oder interpretieren die Kindsbewegungen als Bauchkrämpfe. Außerdem kann die Psyche den Körper beeinflussen, sodass etwa die Blutungen gar nicht aussetzen. Hinzu kommt, dass das Kind bei einer unbemerkten Schwangerschaft tendenziell kleiner ist, weil die Mutter sich nicht genügend schont oder gar eine Diät macht.

Auch "verdrängte" Kinder kommen gesund zur Welt

"Wir haben in Deutschland zum Glück eine sehr gute Schwangerschaftsvorsorge. Die entgeht diesen Frauen natürlich, wodurch weder mütterliche noch kindliche Risiken frühzeitig erkannt werden können. Trotzdem muss es nicht jedem unbetreuten Kind schlecht gehen. Die Kinder kommen durchaus auch kerngesund zur Welt", betont Birgit Seelbach-Göbel, Direktorin und Vize-Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V. (DGGG).

Frauen, die eine Schwangerschaft verdrängen und schließlich mit der Realität konfrontiert werden, stünden zunächst einmal unter Schock. "Sie haben daher anfangs oft den Wunsch, das Kind zur Adoption freizugeben oder eine anonyme Geburt durchzuführen", so Seelbach-Göbel. "Hier sind Beratungsstellen für Schwangere sehr hilfreich. Nicht nur, um diese Optionen zu ermöglichen, sondern auch um Hilfestellungen zu geben, das Kind doch noch anzunehmen - was in den meisten Fällen ja auch passiert."

Das kann Gynäkologe Rott bestätigen: "Bis zu 90 Prozent der Mütter behalten das Kind. Das sind keine schlechten Frauen! Es ist ja nicht unbedingt so, dass sie keine Kinder wollen. Meist erscheinen ihnen die Lebensumstände so bedrohlich, dass sie die Schwangerschaft verdrängen und ins Unterbewusstsein schieben müssen."

Die Frauen werden von der Gesellschaft verurteilt

Dieses Phänomen habe nichts mit Intelligenz oder sozialer Schicht zu tun, sondern komme überall vor. Ein etwas höheres Risiko hätten lediglich Frauen unter 20 oder über 40 Jahren, weil sie am wenigsten mit einer Schwangerschaft rechneten und der innere Konflikt entsprechend größer sei. "Bei jungen Frauen geht es häufiger um einen Selbständigkeitskonflikt: Sie wollen von ihren Eltern unabhängig sein und von zu Hause ausziehen. Eine Schwangerschaft würde diese Pläne durchkreuzen", so Rott. Auch eine Trennung vom Partner oder ein sehr strikter familiärer Umgang mit Sexualität können Gründe für ein Verdrängen sein.

"Im schlimmsten Fall realisieren die Frauen selbst nach der Geburt noch nicht, was passiert ist. Sie müssen das Ganze ungeschehen machen, so dass es zum Neonatizid - zur Kindstötung - kommen kann", erklärt Rott. "Dass sie das Kind in die Mülltonne stecken oder aus dem Fenster werfen, zeigt ja auch, dass sie nicht planvoll vorgehen."

Dass verdrängte Schwangerschaften ein Tabuthema sind und kaum eine Frau öffentlich darüber spricht, liege vor allem am gesellschaftlichen Druck, der auf Frauen lastet: "Eine werdende Mutter hat sich zu freuen, alles andere wird nicht wirklich akzeptiert. Die Familie und das nähere Umfeld reagieren oft sehr verständnisvoll. Es ist die Gesellschaft, die diese Frauen verurteilt", so Rott.

Bisher gibt es zwar noch keine standardisierte Hilfe für betroffene Frauen, doch immerhin haben sich etliche Therapeuten und Sozialpädagogen auf das Thema spezialisiert. Auch Kliniken müssen entsprechend reagieren: Sie dürfen die Mütter nicht sofort entlassen, sondern müssen sie in den ersten Tagen intensiv begleiten.

Und wie verhält man sich, wenn man im persönlichen Umfeld vermutet, dass eine Frau ihre Schwangerschaft verdrängt? "Man sollte sie vorsichtig und sensibel darauf ansprechen", rät Rott. Und am Ball bleiben.

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