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Pubertät war gestern: Das neue Einvernehmen

Pubertät: Jugendliches Mädchen vor einer bunten Wand
© Yulia Grigoryeva/shutterstock
Huch, Pubertät, war da was? Jugendliche verstehen sich mit ihren Eltern so gut wie nie zuvor. Aber was dieses neue Einvernehmen für uns alle bedeutet, ist umstritten.

Die Eltern sind besorgt. Sonst würden sie wohl kaum jemanden wie Dr. Michael Schulte-Markwort aufsuchen. "Irgendetwas stimmt mit ihm nicht", sagen sie über ihren 16-Jährigen. "Er kommt überhaupt nicht in die Pubertät." Schulte-Markwort ist dagegen wenig überrascht: "Die ist ja auch schon vorbei. Sie haben bloß nichts davon bemerkt."

Solche Situationen erlebe er jetzt öfter, erzählt der Professor, gleichzeitig Kinder- und Jugendpsychiater am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf und am Altonaer Kinderkrankenhaus sowie Autor (zuletzt "Kindersorgen"), und er fügt hinzu: "Ich möchte Probleme nicht bagatellisieren, schließlich arbeite ich täglich mit ihnen. Aber insgesamt gilt offensichtlich: Die Pubertät ist auch nicht mehr das, was wir bisher dafür gehalten haben."

Eltern und Jugendliche gehen auf Kuschelkurs

"Wir beobachten aktuell einen erstaunlichen, historisch einmaligen Kuschelkurs zwischen den Generationen", sagt Prof. Klaus Hurrelmann, einer der bekanntesten Jugendforscher Deutschlands und Mitautor der Shell Jugendstudie, die regelmäßig die Einstellungen Heranwachsender untersucht. Weniger als zehn Prozent von ihnen kommen mit ihren Eltern gar nicht zurecht. Für die große Mehrheit aber gilt, so Hurrelmann: "Es gibt zwar die üblichen Abnabelungsprozesse, und die Eltern sind ihnen auch mal peinlich, aber das ist vorübergehend und nicht tief gehend. Stattdessen geht die Jugend heute eine freundschaftliche Allianz mit den Eltern ein. Sie - vor allem die Mutter, der Vater folgt mit einigem Abstand - sind die wichtigsten Berater und Partner in allen Lebenslagen." Die Frage, ob man später sein eigenes Kind so erziehen würde, wie man selbst erzogen wurde, bejahen fast drei von vier Teenagern. Laut Statistik trinken und rauchen Heranwachsende außerdem weniger; die Jugendkriminalität hat sich zwischen 2007 und 2015 halbiert. Strebsam und angepasst nennt die Studie des Sozial- und Marktforschungsinstituts Sinus die 14- bis 17-Jährigen.

"Es gibt einen ausgeprägten Mainstream", sagt Prof. Natalia Wächter. Auffällige Szene- und Subkulturen sind Vergangenheit. "Die allermeisten wollen so sein wie alle, und dabei auch ein bisschen etwas Besonderes." Die Pädagogin mit Schwerpunkt Jugendforschung an der LMU München zählt selbst zur Generation X, also den zwischen Mitte 1960 und 1980 Geborenen: "Wir waren zwar nicht wie die 68er, die die ganze Welt verändern wollten, aber darauf aufbauend haben auch wir uns als Jugendliche definiert. Es war normal, jung und rebellisch zu sein. Natürlich ist es da komisch zu sehen, wie die Jugend jetzt tickt. Das wirkt auf uns erst mal sehr konservativ."

Verhandeln statt befehlen

Der Hauptgrund für das neue Einvernehmen liegt für Natalia Wächter aber auf der Hand: "Kinder werden heute auf Augenhöhe betrachtet. Sie wachsen nicht mehr in einem Befehls-, sondern in einem Verhandlungshaushalt auf." Weil Eltern einfühlsamer und toleranter sind, wird Rebellion überflüssig. Aber braucht es nicht auch Reibung, um Identität und Selbstständigkeit zu schärfen? "Ich habe nicht den Eindruck, dass da etwas verpasst wird in der Entwicklung. Die Pubertät ist eben nicht nur echt, wenn’s kracht", so Schulte-Markwort. "Es ist gut, dass sie weniger dramatisch verläuft. Denn das ist ein Gradmesser, dass wir gute und liebevolle Eltern haben."

Doch können die es in Sachen Nähe nicht auch übertreiben? "Schwindelig wird mir, wenn Eltern selbst tun, als wären sie 15", sagt Klaus Hurrelmann und schätzt deren Anteil auf zehn Prozent. "Die Entwicklung der Jungen steht dann auf schwierigem Fundament, und vor allem frage ich mich: Wo bleiben da Generationsbewusstsein und -identität der Älteren?" Dem Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff, bekannt durch das Buch "Warum unsere Kinder Tyrannen sind", geht der Wandel im Erziehungsstil insgesamt deutlich zu weit. In "Die Wiederentdeckung der Kindheit" schreibt er, Kinder, die nur selten die Erfahrung machen, dass Eltern ihnen etwas zu sagen haben, und als gleichberechtigte Partner behandelt werden, kämen psychisch nicht über ein Kleinkind-Niveau hinaus. Ohne Sozialkompetenz würden sie nur nach dem Lustprinzip leben und Erwachsene ständig zu ihren Gunsten manipulieren. Erstmals beobachtet habe er dies 1995, inzwischen sehe er in seiner Praxis keinen einzigen Jugendlichen mehr mit altersgerechter psychischer Reife.

Haben moderne Eltern die nächste Generation also zu sozial-emotionalen Krüppeln gekuschelt? "Diese misstrauische und respektlose Haltung den Kindern gegenüber ist durch nichts gerechtfertigt", sagt Michael Schulte-Markwort. "Ich kann heute mit Pubertierenden Gespräche führen, die ich vor 25 Jahren so nicht führen konnte. Sie sind reflektiert und einfach toller geworden." Eltern müssten nicht ständig Angst vor Verwöhnung haben: "Kinder verdienen unseren ganzen Support. Wenn ein Berg für sie zu hoch ist, muss man eben eine kleine Seilbahn installieren. Ich finde es zum Beispiel nicht schlimm, wenn man auch mal ein Schulreferat für seinen Teenager schreibt. Resilienz entsteht nicht durch Überforderung."

Wirkliche Freiheit gibt es nur im Netz

Jede Entwicklung braucht Freiräume. Besonders in der Pubertät, wenn man noch gar nicht weiß, wohin die Reise geht. Laut einer Studie hat aber die sogenannte Scholarisierung der Jugendphase, also die in Bildungseinrichtungen verbrachte Zeit und deren Bedeutung, allein innerhalb eines Jahrzehnts deutlich zugenommen. Acht von zehn Kindern und Jugendlichen haben das Gefühl, keine Zeit zu haben für Dinge, die ihnen Spaß machen. Über die Hälfte hat nachmittags Termine, die sie eigentlich nicht haben will.

Auch in anderer Hinsicht rücken wir den Jungen auf die Pelle. In einer Gesellschaft, die Jungsein - oder was sie dafür hält - zum Ideal erhebt, in der Ü40er sich bis zum Hals tätowieren lassen, jeden Trend mitmachen und im Sommer auf Festivals abhängen, können die echten Jugendlichen nur alt aussehen. Zumal sie durch den demografischen Wandel einer wahren Übermacht junger Alter gegenüberstehen. Stephan Groschwitz, Vorsitzender des Deutschen Bundesjugendrings, schreibt: "Zugespitzt formuliert, können Jugendliche heute sogar an den Erwartungen der Gesellschaft scheitern, authentisch jugendlich zu sein."

Doch die Jugendlichen erschließen sich auch neue Freiräume - und stoßen damit ganz klassisch oft auf Unverständnis und Widerstand ihrer Eltern. "Die seit 2000 Geborenen gehören zur ersten Generation, die nicht nur mit dem Internet aufgewachsen ist, sondern auch mit dem Web 2.0, das man selbst mitgestaltet", sagt Natalia Wächter. Hier sind sie den Eltern intuitiv überlegen und trotzdem, so Shell Studie, keine unkritischen Nutzer. Erwachsenen empfiehlt Klaus Hurrelmann Gelassenheit: "Der einzige Freiraum, wo man den Eltern, die sonst immer schon da sind und alles mitmachen, noch ausweichen kann, sind die neuen Medien - und den sollten wir den Jugendlichen lassen. Es sei denn, es gibt ganz klare Hinweise dafür, dass sie dort etwas gesundheitlich Problematisches oder Strafbares machen." 

Michael Schulte-Markwort ist noch etwas anderes wichtig: "Was wir der Jugend vorwerfen, ist immer ein Spiegel unserer selbst. Wenn ich mit dem Flugzeug fliege, holen bereits beim Ausrollen der Maschine 300 Männer ihr Smartphone aus der Tasche. Aber wer fasst sich schon gern an die eigene Nase?" 

Neuer Druck - neue Sehnsucht

"Vor 15 Jahren kamen Eltern zu mir, weil ihre Kinder faul waren. Heute kommen sie, weil ihre Kinder zu viel lernen und sich überfordern", sagt Schulte-Markwort. "Wir alle leben nach dem Prinzip‚ Stillstand bedeutet Rückschritt‘, und das haben auch Heranwachsende verinnerlicht." Dass man heute gezwungen ist, sich seine Biografie aus unzähligen Möglichkeiten selbst zu basteln, erhöhe noch den Druck - und die Angst, etwas falsch zu machen. Laut einer aktuellen Studie hat der Perfektionismus der Jugendlichen seit 1980 stark zugenommen. Und erfasst mehr denn je auch das Äußere: Jedes zweite Mädchen zwischen 11 und 17 Jahren fühlt sich zu dick; jedes dritte zeigt Hinweise einer Essstörung, bei den Jungen sind es gut 13 Prozent.

Dass Pubertiere nach außen hin oft eher Kuscheltieren ähneln, heißt also nicht, dass sie keine Probleme haben. Vielleicht ist diese stille Rebellion für ihre Eltern sogar schwieriger als eine explosive: weil sie Gefahr laufen, sie an ihren scheinbar gut funktionierenden Kindern zu übersehen, und sich hilfloser fühlen. "Psychische Erkrankungen haben nicht abgenommen - das ist wahr", so Schulte-Markwort. "Das Gute ist aber, dass Eltern heute eher Hilfe suchen."

Klaus Hurrelmann sieht Jugendliche vor weiteren Herausforderungen: Wirtschaftskrisen, Umweltkatastrophen, Terroranschläge sorgen für Verunsicherung; auch das alte Generationsversprechen, sie würden es einmal besser haben als ihre Eltern, gilt nicht mehr. Zumindest unbewusst sei dies mitverantwortlich für die starke Orientierung an Vater und Mutter: "Es könnte ja sein, dass man sie als wirtschaftliche Rückversicherung noch einmal braucht." Sehnsucht nach Sicherheit und Halt ist wohl auch der Grund, warum Teenager gern mit der Masse schwimmen. "Man darf aber auch nicht vergessen, dass der Mainstream viel breiter ist als früher: Mädchen spielen Fußball, Jungs tanzen Ballett", sagt Schulte-Markwort. "Aufgabe der Eltern ist es, ihn immer so breit wie möglich zu halten." 

Generation Y und die Work-Life-Balance

Die Shell Studie aus 2002 nannte die Jugendlichen noch "Egotaktiker", die nur das tun, was ihnen nützt. "Das politische Interesse der jungen Generation verlief schon immer in Wellen, bis Mitte der 1960er-Jahre war es zum Beispiel sehr gering und darauf folgten direkt die 68er", sagt Natalia Wächter. "Und aktuell steigt es wieder - vermutlich durch das Flüchtlingsthema." Fast jeder Zweite sagt, sich politisch engagieren zu wollen. Toleranz wird bei beinahe allen großgeschrieben.

Was das für die Zukunft bedeutet? Laut Hurrelmann prägt der Kuschelkurs fürs Leben: "Weil die Eltern sich so lieb um einen gekümmert haben, will man genau das auch am Arbeitsplatz: individuelle Ansprache, Anerkennung, einen eigenen Bereich." Einen Vorgeschmack gebe schon heute die Generation Y der 1980 bis 2000 Geborenen mit ihrem Wunsch nach Work-Life-Balance, flachen Hierarchien und Verantwortung von Anfang an. "Aus Studien wissen wir, dass dahinter keine Arbeitsverweigerung steht", so Hurrelmann, "sondern schlicht ein anderes Herangehen an den Job." Natürlich müsse man sich um Randgruppen intensiv kümmern, aber insgesamt könne man angesichts der Jugend von heute gelassen bleiben. "Bemerkenswert ist, dass die Jugendlichen selbst das auch tun", sagt Hurrelmann. Sechs von zehn blicken optimistisch in die eigene Zukunft, und erstmals seit Langem sieht eine Mehrheit auch die gesellschaftliche Zukunft positiv. "Wer heute in der Pubertät ist, ist mit der Gewissheit aufgewachsen: Nichts ist mehr sicher, aber irgendwie geht es schon weiter." Und sei es mit einer Kuscheleinheit.

Brigitte 08/2018

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