Anzeige

Aus Liebe zum Wahnsinn: Mit sechs Kindern in die Welt

BRIGITTE MOM-Redakteur Georg Cadeggianini ist 34 und hat sechs Kinder. In seinem neuen Buch erzählt er vom Alltag zwischen Murmeln, Umzugskartons und Wäschebergen, von Chaos, Wut und - trotzdem - guter Laune. Lesen Sie hier einen Auszug aus dem Buch.

Lesen Sie hier den Anfang aus Georg Cadeggianinis Buch "Aus Liebe zum Wahnsinn" (Fischer Verlag)



1 Frau. 1 Mann. 6 Kinder. 1 Überraschungsgast. 1 Abend. in Haidhausen, München

wo die Salami überm Ehebett hängt, Eltern zu Toreros werden und Entenform-Eiswürfel im Gin schwimmen. Und warum wir bei alledem nur mit einer Strategie weiterkommen: Complicate Your Life


Zu CYL kam ich wie der heilige Joseph zum Kind: weitgehend unbeteiligt, en passant - durch Reden. Sagen wir: Ich kannte die richtigen Leute. CYL ist Sinn und Speed in einem. CYL ist das Wichtigste, was ein Mensch lernen kann: Complicate Your Life. Wer sich für den CYL-Weg entscheidet, ist schon fast da: im Glück.

Es könnte alles so einfach sein, dachte ich früher. Entschleunigen, Runterfahren, ein Leben in Basics. Was braucht man denn schon wirklich? Simplifying, den Alltag entschlacken, immer mal wieder ein paar Schlucke Yogi-Tee, nicht zu heiß. Einfach mal richtig entspannen. Ein Irrweg.

Es war jener Abend mit Simon, an dem ich die Kraft von CYL in meinem Leben erkannte.

Wer die Idee mit der selbstgemachten Pasta hatte, ist im Nachhinein nicht mehr rekonstruierbar. Wahrscheinlich ich. Sicher sind nur zwei Dinge. Erstens: Die Idee passte ganz wunderbar zu diesem Abend. Zweitens: Sie war Mist.

Da waren: 6 bettreif-unwirsche Kinder, 1 Frau im Mantel, 1 Mann ohne Nerven, 3 Dutzend Murmeln, 1 Glas Waldhonig (750 Gramm), das aus Brusthöhe der Schwerkraft überlassen wurde, 35,8 Kilo Lego und 1 Überraschungsgast.

Ja, und hinzukamen dann noch 5 Eier, Salz, 500 Gramm Mehl, um ebenjene vermaledeite, geknetete, gewalzte, geschnittene Hausmacherpasta zu machen. Aber vielleicht beginnt man so einen Abend am besten unten. Beginnen wir also mit dem Kleinsten. Beginnen wir mit Jim.

Jim, 1, stapft in die Küche, die Windel hängt tief, in der Hand eine Blechdose mit Murmeln. "Ech. Mörmeln." Jim sagt "Ech" statt "Ich", "Mörmeln" statt "Murmeln", und wenn es etwas zu verteilen gibt, dann meldet er sich stets beidhändig.

Camilla, 7, jagt Lorenzo, 6, durch den Raum, rempelt Jim an. Er wankt, fliegt ein wenig gegen den Kühlschrank. Die Murmeln scheppern in der Blechdose. Das ist laut. Jim lacht.

Er ist Sechstgeborener - mit allem was dazugehört. Das sind neben fünf größeren Geschwistern vor allem zwei Eigenschaften: Standfestigkeit und eine Art Lückenintuition.

Ein Sechstgeborener probiert nicht einfach mal eben so das große Ding mit dem Laufen aus. Wenn Jim sich hinstellt, dann breitbeinig, so als ob er normalerweise auf einem Pferd durchs Leben reiten würde, das ihm aber aus unerklärlichen Gründen abhandengekommen ist, was er jedoch - wie man aus seiner Beinstellung schließen muss - noch gar nicht bemerkt hat. Und falls Jim trotzdem mal hinknallt, dann auch nicht einfach so – mit Karacho auf den Hinterkopf, lang, langes Luftholen, Platzwunde, Krankenhaus -, nein, sondern tapfer und falltechnisch ausgebufft. Jim findet immer noch irgendeinen Halt, einen Kühlschrankgriff, ein Telefonkabel, ein Geschwister, irgendwas, um die Wucht abzubremsen. Ihm genügen Millisekunden, um den Arm noch zur Seite zu nehmen, sich im Fallen einzudrehen und dann abzurollen. Das tut natürlich trotzdem weh. Man sieht das. Und wenn es sehr weh tut, dann schreit Jim auch. Aber dann eben verdichtet: also kürzer und dafür lauter. Als er sich neulich seinen linken Ringfingernagel bis kurz vors Nagelbett eingeschnitten hat, haben wir das weder mitbekommen, noch uns im Nachhinein erklären können. Den Blutspuren folgend haben wir den kleinen Mann gefunden: aufrecht, tonlos, staunend.

Neben der Standfestigkeit ist es zweitens eben auch die Lückenintuition, die unseren Jüngsten auszeichnet. Jim ist Nischenmeister.

Als er auf die Welt kam, waren Leben und Wohnung der Eltern bereits voll. Drei Zimmer, acht Leute – das wird eng, dachte er sich wohl und schulte von Anfang an jenen Instinkt zur Lücke, mit dem er sich bis heute, etwa beim Buchvorlesen, so lang aalt, bis er auf einem Premiumplatz sitzt.

Ein normaler Würfel hat sechs Seiten, ein normaler Vorleser drei: links, rechts und Schoß. Nur wer einen dieser drei Plätze ergattert, dem ist der freie Blick ins Bilderbuch gewiss. Nischenmeister Jim hat nun - sehr zu meinem Leidwesen - einen vierten Platz aufgetan: auf dem Kopf des Vorlesers. Jim ist der, der sich bei der Polonaise einfach vorne randrückt, während andere noch auf das Schlangenende warten. Und beim abendlichen Akkordzähneputzen ist er es, der es immer schafft, sich bereits vor Ablauf der Minimalzeit wieder aus dem Bad zu winden. Sollen doch die anderen Zähne putzen.

Die anderen: Da gibt es die ehrgeizig-sportlich Pflichtbewusste (Gianna, die Älteste) und die kreativ-konfliktscheu Intuitive (Elena, die Zweite), die ruppig-laut Herzensnahbare (Camilla, die Dritte), den launisch-leidenschaftlich Cholerischen (Lorenzo, der Vierte) und den bedächtig Überlegten, ewig verschnupft (Gionatan, der Fünfte). Alle Rollen, die irgendwie das rare Gut elterlicher Aufmerksamkeit generieren können, schienen bei Jims Geburt also bereits vergeben. Unsere fünf Kinder hatten sich - wie Fahrgäste im Zugabteil – gleichmäßig verteilt, in Charakterecken zurückgezogen, Raum für sich gefunden. Alles voll. Es gab nur eine Sache, mit der Jim, der Letztgeborene, wirklich punkten konnte: mit chronisch guter Laune.

Und da lehnt Jim nun am Kühlschrank, lacht und schüttelt die Dose: "Mörmeln." Aufmerksamkeit, für ein paar Momente zumindest, bevor wieder das familiäre Hintergrundrauschen Oberhand gewinnt.

Gianna, 11, will, dass ich ihren Zauberwürfel verdrehe. Ich, 33, stecke mit den Händen im Teig. "Gianna, schütt' mir mal noch etwas Mehl rein, bitte." Gionatan, 3, will wissen, wer das Schneeräumgerät erfunden hat, mit dem er mir gerade gegen die Füße fährt. Meine Frau Viola, 34, kommt in die Küche. Im Mantel. - Im Mantel?

Jetzt hat Camilla Lorenzo erwischt. Handgemenge. Ich brülle ein wenig. Viel Mehl landet auf dem Boden, vor dem Schneeräumgerät. Elena, 9, geht dazwischen. Halbherzig. -Warum hat Viola eigentlich diesen verdammten Mantel an? - Sie brauche höchstens vier Minuten, sagt Gianna. In vier Minuten bekomme sie den Würfel aus jeder Position wieder in die Ausgangslage. – Natürlich habe sie das in unseren Onlinekalender eingetragen, meint Viola. Kino mit Freundin, Donnerstagabend.

Der Nudelteig muss jetzt ruhen, mindestens eine halbe Stunde - eigentlich.

Dann löst sich der Blechdosendeckel. Etwa drei Dutzend Murmeln klacken, springen, lärmen über die Fliesen, ziehen Spuren im Mehl. Jim reißt beide Arme hoch und lacht. "Mörmeln", sagt er. "Ich verwürg dich!", schreit Lorenzo und rennt hinter Camilla her. "Da. Jetzt verdreh halt endlich!", fordert Gianna. "Also, tschüs dann", sagt Viola und geht.

Wer Nudeln selber macht, braucht Kraft, Geduld und Platz. Kraft, weil der Teig trocken, fast spröde sein muss. Geduld, weil er x-mal durch die Walzen muss. Platz, weil aus einem faustgroßen Klumpen ein eineinhalb Meter langes Band wird, das man erst mal zwischenlagern muss. Und ja, ich verstehe, warum es Fertignudeln gibt. Ich kenne auch Geschäfte, in denen man Fertignudeln kaufen kann. Mache ich auch. Habe ich auch. Nudeln sind im Schrank. Kiloweise. Aber diesmal, da soll es eben was Besonderes sein.

Lorenzo und Camilla, soeben frisch versöhnt, kommen in die Küche, als ich gerade die "Imperia" vom Schrank wuchte, die tonnenschwere Nudelmaschine, so alt wie meine Frau, eine Dauer-Leihgabe meiner italienischen Schwiegereltern. "Wir helfen dir", sagen Lorenzo und Camilla.

Mit Kinderhilfe ist das so eine Sache. Wenn es sich nicht gerade um Cocktail-Mixen oder Horrorvideos-Sortieren geht, ist es absolut verpönt, sie auszuschlagen. Ich sehe Kinderhilfe als extrem harte Schule der Teamfähigkeit. Kinderhilfe bedeutet: Du befindest dich in einem Team, in dem dein Partner ständig das genaue Gegenteil von dem macht, was du willst, du ihn dafür auch noch loben sollst und am Ende du derjenige bist, der alles aufräumen muss. Und zwar allein. Dabei erhöht jedes mithelfende Kind das Endchaos exponentiell. Das bleibt so, bis die Kinder aus dem Besteckkastenalter raus sind. Bis dahin können Kinder nicht sinnvoll im Haushalt mithelfen. Außer bei zwei Dingen: Daumen auf den Geschenkbandknoten drücken und eben Ausräumen des Spülmaschinenbesteckkastens.

Ist ja auch nicht schlimm. Müssen sie ja auch nicht. Wollen sie aber.

"Ich darf kurbeln", bestimmt Camilla, schiebt schnell einen Stuhl an die Arbeitsfläche und greift sich die Nudelkurbel. Damit hat sie alle Produktionsmittel in der Hand. Lorenzo, 18 Monate jünger, beginnt umgehend mit lauten "Unfair!"-Rufen. Aus Erfahrung weiß ich, dass "unfair" nur die erste Stufe ist. Die zweite lautet: "Dann zerreiß ich dir die Pasta / gebe dir nie mehr was von meinen Süßigkeiten / bin ich nie wieder dein Freund / verhaue dich." Und die dritte Stufe ist dann - und zwar unabhängig davon, wie die zweite lautete: Hauen.

image

Ich befriede ein wenig, da ich keine Zeit für Streit habe: "Du darfst auch kurbeln." Natürlich werde abgewechselt, aber einer müsse sich auch der schwierigen und delikaten Aufgabe des Pasta-Entgegennehmens widmen. "Lorenzo, ich glaube, dafür bist du zu klein." Große Egos muss man bei ihrem Ego packen.

Camilla kurbelt und kurbelt, treibt Teigbrocken durch zwei Stahlwalzen, legt sie dann einmal zusammen, und wieder von vorne. Und noch mal. Und noch mal. Das Ganze in sechs verschiedenen Stufen, immer feiner. Sie schnauft. Beim Abnehmen passieren Ungenauigkeiten, die sich Lorenzo und Camilla gegenseitig vorwerfen. Manchmal verwechselt Camilla die Kurbelrichtung, dann saugt es den Teig zurück und er bekommt Löcher. "Soll ich mal?", frage ich. Camilla schüttelt den Kopf: "Ich bin der Kurbler", zischt sie mit zusammengebissenen Zähnen.

Der Text ist ein Auszug aus "Aus Liebe zum Wahnsinn - Mit sechs Kindern in die Welt" von Georg Cadeggianini, Fischer Verlag, 288 S., 9,99 Euro

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel