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Jesper Juul: "Väter haben keine Ahnung, was es heißt, Mutter zu sein"

Das Paar-Sein als Eltern ist nicht immer einfach. Wie es trotzdem gelingen kann, erklärt der Familientherapeut Jesper Juul.

BRIGITTE: Sie erzählen in Ihrem neuen Buch, Sie als Familientherapeut hätten sich anfangs unheimlich schwer getan mit der Vaterrolle. Eine Übertreibung, um anderen Mut zu machen?

JESPER JUUL: Nein, das ist eine sehr nüchterne Beschreibung der Fakten. Ich hoffe, mit dieser Geschichte meinen Lesern die selbstzerstörerischen Ambitionen auszutreiben, perfekte Eltern sein zu wollen. Denn das ist nicht nur unmöglich, sondern setzt auch die Kinder viel zu sehr unter Druck.

Was haben Sie denn falsch gemacht?

Ich habe meinen Sohn so behandelt, wie ich es für richtig hielt. Das heißt: Ich bin anfangs kaum auf seine Wünsche und Bedürfnisse eingegangen. Nach und nach hat er mir das dann abgewöhnt.

Wie?

Eines Tages, da war er ungefähr drei Jahre alt, rannte er in einem Streit auf einmal weg und die Treppe hoch zu unserem Wohnzimmer. Ich folgte ihm und hielt dabei einen Vortrag über gutes Benehmen: "Wenn ich mit dir spreche", sagte ich, "schaust du mir in die Augen und drehst dich nicht weg, denn das ist sehr unhöflich!" Plötzlich stoppte er, drehte sich auf der vierten Stufe um, sodass unsere Köpfe auf gleicher Höhe waren, blickte mir direkt in die Augen und brüllte mit aller Kraft: "Halt die Klappe und hör auf!!"

Seine Wut hat Sie gestoppt?

Ja, Wut ist überhaupt ein wichtiges Signal, das man immer ernst nehmen sollte. Denn Wut zeigt einem, dass ein Mensch sich sehr unwohl fühlt in einer Situation, aber kein besseres Mittel findet, das auszudrücken.

Oft hat man allerdings den Eindruck, dass hier einer nur unbedingt seinen Willen durchsetzen will.

Erwachsene benutzen Wut gern als Machtinstrument. Ein Verhalten, das Kinder zuweilen kopieren. Die Botschaft ist dann: "Wenn du mir nicht gibst, was ich will, dann passiert etwas." Das ist natürlich unangenehm und führt meistens zu Streit. Man kann dieses Muster jedoch auf sehr konstruktive Art durchbrechen, indem man sagt: "Nun, da du wütend wirst, kann ich sehen, dass das wichtiger für dich ist, als ich dachte, bitte erkläre mir, warum …" Aber das musste ich auch erst lernen.

Wie hat Ihre Frau auf diese Konflikte mit dem Kind reagiert?

Sie hat natürlich sehr früh versucht, mein Verhalten zu ändern. Aber da sie mich in erster Linie kritisierte, konnte ich ihre Ratschläge nicht annehmen. Sie hat mir nur das Gefühl gegeben, als Vater zu versagen, und so wurde es zunächst immer schlimmer.

Ein Fehler, den Mütter oft machen?

Mütter haben oft ein sehr großes Verständnis für die emotionale Situation ihrer Kinder, aber nicht immer ein Gespür dafür, wie sie dieses Wissen ihrem Mann so vermitteln, dass der sich nicht wie ein Idiot fühlt. Außerdem muss man sich immer klarmachen: Wenn Eltern über ein Kind sprechen, dann reden sie im Endeffekt über zwei Kinder, denn jeder hat seine eigene Wahrnehmung. Und daraus sollte man keinesfalls eine Wahrheit formen. Denn das führt oft zu einem Machtkampf, den das Kind am Ende verliert.

Wie sollten Eltern denn miteinander umgehen?

Es gibt keinen Bereich im Leben, in dem man so verletzlich ist. Ratschläge also bitte nur sanft und freundlich. Und Geduld mitbringen, viel Geduld. Und niemals, niemals sollte einer glauben, dass er es besser weiß als der andere. Väter haben keine Ahnung, was es heißt, eine Mutter zu sein. Und Mütter wissen nichts von der Vaterrolle. Außerdem braucht ein Kind zwei Elternteile, die sich auf unterschiedliche Weise verhalten, denn das hilft bei der Entwicklung.

Also besser gar keine Ratschläge geben?

Genau. Natürlich sollten die Partner sich gegenseitig immer beobachten und wahrnehmen, was in der Familie vor sich geht. Kann der andere seine Ziele erreichen? Kann er sich durchsetzen? Die Konflikte lösen? Falls es immer nur Streit gibt, kann man natürlich Hilfe anbieten. Aber niemals, indem man sich gegenseitig kritisiert. Und auch dieses freundliche Hilfsangebot sollte nur in einem Moment erfolgen, in dem der Partner signalisiert, dass er offen ist für ein Gespräch. Alles andere wäre fatal für die Beziehung.

Sie sagen, dass Streit in der Familie oft dadurch entsteht, dass viele Eltern – so wie Sie selbst als junger Vater – viel zu starre Vorstellungen haben, wie ihre Kinder, der Partner und das ganze Leben miteinander aussehen soll.

Ich empfehle niemandem, seine Werte und Prinzipien über Bord zu werfen, nur um zu gefallen oder Konflikte zu vermeiden. Aber wenn man eine Familie gründen oder heiraten will, muss man flexibel sein und in der Lage, andere Menschen in sein Leben zu integrieren – selbst, wenn uns ihre Art manchmal seltsam oder fremd vorkommt.

Sie fordern deutlich mehr Empathie füreinander. Das sagt sich leicht, aber kann das nicht schnell überfordern?

Empathie ist die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Wenn wir anderen mit Empathie begegnen, fühlen sich diese in ihren Gefühlen, Bedürfnissen und Nöten wahrgenommen und somit auch anerkannt. Empathie beinhaltet aber nicht die Verpflichtung, jedem zu helfen, der Hilfe braucht. Das ist unsere Entscheidung. Wir müssen alle irgendwann im Leben lernen, wie viel wir geben wollen und können. Das gilt auch und vor allem in Partnerschaften und Familien.

Zumal übertriebene elterliche Fürsorge ja auch zu einer Belastung für die Kinder werden kann.
Das passiert, wenn Eltern ihre Kinder überbehüten. Wenn sie immerzu versuchen, das Verhalten ihrer Kinder zu kontrollieren und ihre Umwelt so zu gestalten, dass die Kleinen keine Enttäuschungen erleben. Dieser Kokon schließt das echte Leben mit all den Konflikten und Rückschlägen aus. Ein Kind, das so aufwächst, wird meist ein schüchterner und ängstlicher Mensch.

Was ist der richtige Weg?

Müttern und Vätern empfehle ich immer, Orientierung zu bieten – den eigenen Kindern wie eine Art Fremdenführer die Welt zu zeigen, all die Möglichkeiten, Regeln und Grenzen. Solange sie offen bleiben und neugierig auf die Reaktionen, werden sie gut miteinander klarkommen. Natürlich wird es auch mal Zeiten geben, wo sie frustriert sind und unglücklich. Das ist normal und völlig in Ordnung.

Sie sprechen in Ihrem Buch auch darüber, dass es eine besondere "intuitive Verbindung" zwischen nur einem der beiden Elternteile und dem Kind gibt.

Seit vielen Generationen wissen Eltern, dass es das gibt: eine tiefe und ganz besondere Beziehung zwischen der Mutter oder dem Vater und einem Kind. Die Bedeutung dieser Beziehung wird allerdings meist erst in dem Moment klar, wenn ein Kind dieses Elternteil durch Scheidung oder Tod verliert. Die normale Reaktion ist Trauer. Wenn es aber um diesen besonderen Elternteil geht, dann hinterlässt er eine Leere, ganz gleich, wie alt das Kind ist. Ein Gefühl tiefster Einsamkeit.

Das klingt tragisch.

Deshalb sollten wir offener über diese intuitive Verbindung sprechen. Es ist für die Kinder eine große Hilfe, wenn sie Zugang zu einem Elternteil haben, der sich seiner eigenen Bedeutung bewusst ist. Denn er kann das Kind nicht nur besser verstehen, er kann ihm auch müheloser ins Leben helfen, in der Erziehung viel mehr bewirken.

Kann das für die Partnerschaft zum Problem werden?

Nur dann, wenn sich ein Partner bedroht fühlt. Aber das sollte er nicht, denn hier geht es wirklich nicht darum, wer mehr geliebt wird. Und es hat auch nichts damit zu tun, wie viel Zeit einer mit dem Kind zubringt. Es handelt sich vielmehr um eine Seelenverwandtschaft, die einen direkten Zugang ermöglicht. Doch während der eine das Kind besser formen kann, wird der andere als Halt benötigt. Ich sage es ganz deutlich: Beide Eltern sind wichtig für das Kind. Und wenn jeder seine Rolle akzeptiert, kann die ganze Familie davon profitieren.

Das viele Diskutieren, das stetige Ringen der Eltern um den richtigen Weg – wo bleibt da die Leidenschaft?

Natürlich kann ewiges Debattieren die Leidenschaft zerstören. Als Faustregel kann man sich merken, dass es sinnvoll ist, Ruhe zu geben, wenn man den eigenen Standpunkt klar und deutlich präsentiert hat. Sobald man anfängt, auf den anderen einzureden mit dem Ziel, ihn zu überreden, verschwendet man seine Zeit und erzeugt überdies eine Distanz, die man ja gerade durch das Reden zu überwinden wünscht.

Sie sagen allerdings auch, dass viele Frauen kein gutes Gefühl für ihre eigenen Bedürfnisse haben. Wie sollen sie da ihren Standpunkt vernünftig formulieren, sodass der Partner ihn versteht?

Ich arbeite inzwischen seit 40 Jahren mit Frauen aus allen Schichten als Therapeut und Paarberater, und deshalb kann ich wohl mit einiger Autorität sagen, dass sich hier sehr viel getan hat. Frauen gehen heute viel besser mit sich selbst um und schützen ihre eigenen Grenzen. In Liebesbeziehungen – als Töchter, Mütter und Partnerinnen – neigen sie allerdings nach wie vor dazu, sich den Wünschen und Bedürfnissen des anderen unterzuordnen. Und das sogar dann, wenn sie nicht einmal darum gebeten werden. Meist wachen sie erst auf, wenn sie ein Burn-out haben.

Die Leidenschaft ist allerdings nicht nur durch die ewigen Debatten bedroht, sondern auch durch den Nachwuchs.

Es sind vor allem die Männer, die darunter leiden. Sie vermissen nach einer Weile den physischen Kontakt – kuscheln, küssen und Sex –, aber zeigen das oft nicht. Manche aus Respekt vor dem anstrengenden Alltag junger Mütter. Andere wegen einer kindischen Eifersucht auf das Kind, das sie zunehmend als Konkurrenz empfinden. Sie ziehen sich in ihre Welt zurück oder fangen an, die Frau zu kritisieren, sie kümmere sich zu viel um den Nachwuchs. Diese Männer verlieren rasant an Attraktivität, und auch wenn Frauen insgeheim wissen, woran das liegt, sind sie oft nicht in der Lage, die Familiendynamik zu ändern.

Sie empfehlen Männern in solchen Zeiten mehr Pragmatismus.

Eine junge Mutter nimmt Sex oft wahr als etwas, das sehr viel Energie kostet. Und sie ist doch ohnehin schon überlastet. Also sollte der Mann nicht eingeschnappt sein, sondern überlegen, wie er sie geschickt verführt. Denn dann kann sie Sex wiederentdecken als Geschenk, das Energie in ihr Leben pumpt. Und so hat er am Ende nicht nur die Leidenschaft gerettet, sondern auch die Beziehung.

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Interview: Caroline Schmidt, ein Artikel aus BRIGITTE Heft 4/2017

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