Anzeige

Frühe Betreuung: "Ein Kind braucht andere Kinder"

Er kennt die Seelen von Kindern und plädiert gerade deshalb für eine frühe Betreuung: Remo Largo, Bestsellerautor und Kinderarzt, erklärt, woran man gute Kitas erkennt - und woher mehr Geld für den Ausbau kommen könnte.
Ist die frühe Betreuung in Krippen schlecht für unsere Kinder? Das fragen sich viele Eltern. Kinderarzt Remo Largo sagt: nein. Allerdings muss die Qualität der Betreuung stimmen.
Ist die frühe Betreuung in Krippen schlecht für unsere Kinder? Das fragen sich viele Eltern. Kinderarzt Remo Largo sagt: nein. Allerdings muss die Qualität der Betreuung stimmen.
© Dron/Fotolia.com

BRIGITTE: Bald haben Ein- und Zweijährige ein Recht auf einen Kita-Platz. Eine gute Nachricht für die Kinder?

Remo Largo: Eindeutig ja, zumindest für Kinder ab zwölf Monaten. Denn wir haben nicht nur das Problem: Eltern oder Kita - wer betreut unsere Kinder? Heute heißt das Problem auch: kindgerechte Entwicklung ermöglichen. Wir haben selten mehr als ein oder zwei Kinder pro Familie. So können sich Kinder aber nicht normal entwickeln. Eine Kleinfamilie ist leider nicht kindgerecht.

BRIGITTE: Das klingt ja dramatisch. Was fehlt da?

Remo Largo: Einfach gesagt: die anderen Kinder. Auch die beste Mutter kann andere Kinder nicht ersetzen. Ein Kind sollte jeden Tag mindestens drei Stunden mit anderen Kindern spielen können. Viele Kinder sind daher auf eine Kita angewiesen, damit sie sich normal entwickeln können.

BRIGITTE: Woran merke ich denn, dass mein Kind reif für die Kita ist?

Remo Largo: Zumindest nicht einfach am Alter. Emotionale Selbständigkeit und das Bedürfnis nach Geborgenheit sind sehr unterschiedlich ausgebildet. Können Sie das Kind gut mal der Nachbarin geben oder den Großeltern? Das ist ein Hinweis, wie die Eingewöhnung wohl wird.

BRIGITTE: Woher kommen die großen Unterschiede? Laut Bindungsforschung hängt es von der Qualität der Eltern-Kind-Beziehung ab, wie gut ein Kleinkind mit Fremdbetreuung zurechtkommt. Heißt das: Wenn mein Kind nicht in die Kita mag, habe ich's selber verbockt?

Remo Largo: Nein. Damit macht man den Eltern nur Schuldgefühle. Die Bindungssicherheit hängt nicht nur von den Eltern ab. Es gibt eine starke individuelle Komponente, eine Art Persönlichkeitsmerkmal. So wie Erwachsene ganz unterschiedlich offen mit fremden Menschen umgehen, tun das auch die Kinder. Auf der anderen Seite geht es sehr stark um die Qualität der Einrichtung. Grundregel ist: Je besser die Kita ist, desto früher können Sie das Kind dorthin geben.

BRIGITTE: Die Realität sieht meistens anders aus. Woran erkenne ich denn überhaupt eine gute Kita? Soll ich mich während der Abholzeiten vor die Kita-Tür stellen?

Remo Largo: Ja, warum nicht? Dann sehen Sie: In was für einer Stimmung kommen die Kinder da raus? Ich würde auch andere Eltern ansprechen und sie nach ihren Erfahrungen fragen. Sind die Erzieher daran interessiert, die Eltern mit einzubeziehen? Ansonsten sind wir ganz viel auf unser eigenes Bauchgefühl angewiesen. Wenn Sie das Kind der Erzieherin übergeben, und das Kind schreit, dann ist das beim ersten Mal zu erwarten.

BRIGITTE: Ich wäre eher beunruhigt, wenn es beim ersten Mal nicht so wäre.

Remo Largo: Richtig. Und jetzt sehen Sie ja sehr rasch: Wie geht die Erzieherin in dieser Situation mit dem Kind um, was schlägt sie vor, wie man diesen Übergang möglichst kindgerecht gestalten könnte? Nach einer Eingewöhnungsphase sollte es so sein: Sie bringen das Kind in die Kita, und da gibt es eine Bezugsperson, die das Kind so gut kennt, dass sich Ihr Kind innerhalb kurzer Zeit wohl fühlt. Und das spüren Sie als Eltern.

BRIGITTE: Die Nubbek-Studie, die erstmals die Qualität frühkindlicher Einrichtungen überprüfte und im Laufe des Jahres erscheinen wird, zieht eine bittere Bilanz: 80 Prozent der Kitas schnitten mittelmäßig ab, jede zehnte kassierte sogar das Prädikat "unerträglich".

Remo Largo: Und das wird durch den massiven Ausbau nicht besser. Die, die jetzt dafür verantwortlich sind, die Behörden in den Kommunen, haben leider oft zu wenig Fachkompetenz und zu wenig Geld.

BRIGITTE: Was können Eltern tun, um die Qualität der Kleinkindbetreuung zu verbessern?

Remo Largo: Als Einzelperson haben Sie keine Chance. Sie könnten sich mit anderen Kita-Eltern zusammentun und Forderungen stellen. Leider sind viele Eltern einfach nur froh, einen Platz zu haben, und darüber hinaus nicht bereit, sich allzusehr zu engagieren. Deshalb steht die Gesellschaft in der Verantwortung. Wir müssen Druck auf die Politik machen, enormen Druck. Die Politik müsste da mit der ganz großen Kelle ran.

BRIGITTE: ... wofür aber das Geld fehlt.

Remo Largo: Das stimmt doch nicht. Geld ist da. Wenn die Frauen mehr arbeiten, bekommt der Staat auch mehr Steuern. Davon sollte die Betreuung ihrer Kinder bezahlt werden. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass das sogar eine positive Bilanz ergibt. In Deutschland fehlen, um die Bevölkerungszahl stabil zu halten, über die letzten 40 Jahre etwa zwölf Millionen Kinder. Ich bin der Ansicht, dass das hauptsächlich auf eine ungenügende Familienpolitik zurückzuführen ist.

Remo H. Largo
Remo H. Largo
© Brigitte Largo

Der Schweizer Kinderarzt Remo H. Largo, 69, leitete über 30 Jahre lang die Abteilung Wachstum und Entwicklung des Kinderspitals Zürich. Er ist Autor zahlreicher Bestseller-Ratgeber, u. a. "Babyjahre: Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren" (592 S., 12,99 Euro, Piper). Remo Largo hat selbst drei erwachsene Töchter und vier Enkel.

Interview: Georg Cadeggianini Aus BRIGITTE Heft 8/2013

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel