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Führender Psychiater Das macht die Pandemie mit unseren Kindern

Führender Psychiater : Das macht die Pandemie mit unseren Kindern
© fizkes / Shutterstock
Paul Plener leitet die Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Wien. Im Interview erklärt er, wie wir unsere Kinder in der Pandemie stärken können.

Wie sehr leiden Kinder unter Corona? Verlieren sie nur, oder gewinnen sie auch etwas? Der Kinder- und Jugendpsychiater Paul Plener zeichnet in seinem Buch "Sie brauchen uns jetzt - Was Kinder belastet, was sie schützt" das Bild einer Generation mit Potenzial, die unsere Unterstützung braucht. Aber was genau können wir für sie tun?

BRIGITTE.de: Herr Professor Plener, nach monatelangen Schulschließungen hat Ihre Klinik im Herbst einen besonders großen Andrang erlebt. Was hat der Lockdown mit den Kindern gemacht? 

Paul Plener: Wir haben vor allem bei den Depressionen und bei den Essstörungen Zuwächse gesehen. 

Wie erklären Sie sich das? 

Mit dem Lockdown haben wir eine Situation geschaffen, die in eine depressive Abwärtsspirale führen kann. Das liegt vor allem am Fehlen von Sozialkontakten und anderer Dinge, die normalerweise als positiv erlebt werden. Zeitgleich haben wir bei vielen unserer Patient*innen einen Verlust der Tag-Nacht-Struktur gesehen – die Kinder kamen abends nicht mehr ins Bett und morgens nicht mehr raus. Teilweise konnten sie den Distanzunterricht und ihren Tag nicht mehr bewältigen, weil sie zu müde waren. 

Welche Auswirkungen hat das Homeschooling auf die Kinder? 

Homeschooling erfordert ein hohes Maß an Konzentration und Selbststrukturierung, weil man Aufgaben über einen gewissen Zeitraum in Eigenregie bewältigen muss. Das hat dazu geführt, dass einige Schüler*innen erkannt haben, was sie alles können, während andere sich komplett aus dem Lernen zurückgezogen haben. Studien haben gezeigt, dass zwischen 10 und 30 Prozent der Kinder beim Distanzunterricht gar nicht erreicht werden. Insgesamt hat die Bildungsgerechtigkeit stark gelitten, weil digitales Lernen natürlich auch eine Frage der Unterstützung und der IT-Ausstattung zu Hause ist.

Viele Eltern machen sich Sorgen, weil ihre Kinder jetzt noch mehr vor ihren Bildschirmen hängen als vorher. Wie problematisch ist das wirklich? 

Prinzipiell würde man sich natürlich immer reale Kontakte und körperliche Begegnungen wünschen. Ich denke aber, dass man das hinnehmen kann, solange es eine vorübergehende Dynamik ist. Doch wenn Eltern den Medienkonsum ihrer Kinder bemängeln, müssen sie sich selbst auch die Frage stellen, was sie bereit sind, an Zeit oder Alternativprogramm zu investieren. Nur den Wunsch zu formulieren, "häng mal weniger am Smartphone rum", das ist zu wenig. 

Jugendliche haben aber meist gar keine Lust auf das Alternativprogramm der Eltern. 

Ich gebe Ihnen recht, die Wanderung mit den Eltern erfreut kaum einen 17-Jährigen. Aber sich gemeinsam hinzusetzen und den Tag durchzustrukturieren und zu überlegen, was machst du wann, das können Eltern leisten. 

"Wenn eine Gesellschaft nicht mehr so recht weiterweiß oder verängstigt ist, dann beeinflusst das immer auch die Stimmung der Allerjüngsten", schreiben Sie. Wie können wir den Kleinsten helfen? 

Es ist immer das bessere Gefühl, dass man den Dingen nicht ohnmächtig ausgeliefert ist. Es geht also darum, den Kindern zu vermitteln, was sie im Kleinen tun können, um sich und andere vor dem Virus zu schützen – etwa die AHA-Regeln einzuhalten –, und zu betonen, dass jeder etwas dazu beitragen kann, um die Situation zu bewältigen. Außerdem sollte man keine Versprechen machen, die man nicht halten kann. Da ist es besser, Unsicherheit zuzulassen und etwa zu sagen: "Ich hoffe sehr für dich, dass die Kita bald wieder aufmacht, aber ich kann dir leider jetzt noch nicht genau sagen, wann das sein wird." 

Die größten psychischen Gefahren für Kinder sind Depressionen, Sucht und Angststörungen. Was können Warnsignale sein? 

Wenn es Änderungen im typischen Verhalten gibt und man das Gefühl hat, dass die Kommunikation verloren geht und die Kinder sich zurückziehen. Oder wenn man merkt, dass beim Homeschooling ein kompletter Ausstieg erfolgt ist. Ein weiteres Alarmzeichen ist eine massive Veränderung des Schlaf-Wach-Rhythmus. Auch wenn Gedanken des Lebensüberdrusses geäußert werden, muss man auf jeden Fall nachfragen und sich gegebenenfalls professionelle Hilfe holen. 

Sie befürchten, dass einige Folgen der Pandemie erst später sichtbar werden, so wie schon 2009 bei der Finanzkrise. Was kommt da auf uns zu? 

Paul Plener leitet die Kinder-und Jugendpsychiatrie der Medizinischen Universität Wien.
Paul Plener leitet die Kinder-und Jugendpsychiatrie der Medizinischen Universität Wien.
© Lukas Beck

Uns machen die wirtschaftlichen Schäden der Pandemie und die sich daran anschließenden psychosozialen Folgen Sorgen. Es wird vermutlich mehr Arbeitslosigkeit und Suchterkrankungen in den Familien geben. Das wird sich auf die Kinder auswirken. 

Die psychischen Belastungen wachsen aber auch unabhängig von der Pandemie, glauben Sie: Die Welt verändert sich so schnell wie nie, es drohen Wirtschaftskrisen und der Klimawandel. Was können Eltern tun, um ihre Kinder dafür zu wappnen? 

Es ist wichtig, dass man schon als Kind das Gefühl bekommt, dass man Dinge selbstwirksam verändern kann. Und dass man immer wieder die Erfahrung macht, dass sich schwierige Situationen meistern lassen. Das ist etwas, was man im Leben braucht, wenn man mit den bisherigen Strategien nicht weiterkommt und man schneller und kreativer werden muss in der Problemlösung. Eltern können ihre Kinder dabei unterstützen, indem sie Talente benennen und fördern, auch solche, die nichts mit Leistung im herkömmlichen Sinn zu tun haben.

Unicef wies früh darauf hin, wie Kinder und Jugendliche unter der Pandemie leiden, sprach sogar von einer "verlorenen Generation." Teilen Sie diese Einschätzung? 

Das ist ein defizitärer Begriff, der betont, was verloren wurde. Es mag ja sein, dass in der Pandemie weniger klassischer Schulstoff gelernt wird, aber auf der anderen Seite erwerben die Kinder im Rahmen der Krise Kompetenzen wie keine andere Generation zuvor - etwa digitales Lernen oder Selbstorganisation. Daher würde ich mich hüten, von einer "verlorenen Generation" zu sprechen.

Führender Psychiater : Das macht die Pandemie mit unseren Kindern
© edition a GmbH

"Sie brauchen uns jetzt - Was Kinder belastet. Was sie schützt" (edition a GmbH, 20 Euro).

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