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"Leider glauben viele Eltern noch, dass Kinder geformt werden müssen"

Fördert autoritäre Erziehung rechtes Gedankengut? Frau ermahnt Kleinkind
© KieferPix / Shutterstock
Was hat Erziehung mit politisch rechten Einstellungen zu tun? Sind Helikoptereltern wirklich unerträglich? Der Kinderarzt Herbert Renz-Polster wirft einen neuen Blick darauf, wie wir unsere Kinder prägen.

RIGITTE: In diesem Jahr wird in Brandenburg, Sachsen und Thüringen gewählt, erwartet werden hohe Werte für die AfD. Für den allgemeinen Rechtsruck machen Sie eine autoritäre Erziehung verantwortlich. Wie kommen Sie darauf?

HERBERT RENZ-POLSTER: Wir leben in einer Welt mit deftigen Problemen: soziale Ungleichheit, Klimawandel, eine Globalisierung, die Menschen in Gewinner und Verlierer teilt. Natürlich klingt es logisch, den Rechtsruck als Antwort auf schwierige Lebensbedingungen oder selbst erfahrene Ausgrenzung zu sehen. Schaut man aber, wer mit Populisten sympathisiert, ist es sofort aus mit der Logik.

Wie meinen Sie das?

Längst nicht jeder, der auf dem Arbeitsmarkt unter Druck steht oder auf dem Wohnungsmarkt plötzlich mit Migranten konkurriert, wählt Populisten. Und von denen, die ihr Kreuz bei den neuen Rechten machten, sind viele gut situiert, von Abstieg keine Spur. Wer allein äußere Faktoren betrachtet, kommt nicht weiter. Es gibt einen missing link. Ein Augenöffner sind die Parolen der Rechtspopulisten.

Warum?

Weil es da doch gar nicht um Lösungen auf drängende Probleme geht, sondern um die immer gleichen Fragen: Wer bin ich? Welche Rolle spiele ich? Werde ich gehört? Das sind Identitätsfragen, die eigentlich in der Kindheit verhandelt werden. Bekommen wir keine befriedigenden Antworten, bleiben Leerstellen, und diese machen uns empfänglich für ein äußeres Ersatzangebot: Du bist toll – weil du ein Deutscher bist. Du gehörst dazu – weil du keine Muslima bist.

Für Ihr Buch "Erziehung prägt Gesinnung" gruben Sie tiefer. Wie gingen Sie vor?

An der Wahl Trumps sieht man, dass strenge Kindheiten mit strengen politischen Überzeugungen einhergehen. Nimmt man die Frage: "Meinen Sie, es ist okay, ein Kind zu schlagen?" und erstellt eine Reihenfolge der Bundesstaaten, so gingen alle Staaten mit hoher Zustimmung an Donald Trump.

Wer streng erzogen wird, tritt eher für eine strafende, kontrollierende Politik ein, die kein Problem darin sieht, Überlegenheit auszunutzen und Ressourcen auszubeuten, wo immer es geht.

Die "Prügellandkarte" der USA deckt sich also mit den politischen Wahlergebnissen?

Ja, eins zu eins. Und nicht nur dort: In Frankreich sind rechte und linke Populisten erfolgreich, zugleich wird die Mehrheit der Kinder überraschend streng erzogen. Über drei Viertel der Drei- bis Sechsjährigen erleben Ohrfeigen oder Schläge auf den Hintern, nur acht Prozent wachsen gewaltfrei auf.

Sie schauten sich auch die DDR an. Was fanden Sie?

Kurz nach dem Mauerfall, als es also noch keine Ausgrenzungserfahrungen wie Massenentlassungen gab, entdeckte ein Forscherteam, dass rechtsfundamentale oder generell autoritäre Haltungen bei den in der DDR aufgewachsenen Jugendlichen viel häufiger waren als bei den West-Jugendlichen. Eine Erklärung könnte in der Kindheit liegen: In der DDR gab es ein streng hierarchisches Kita-System. Das Ziel war die "Einordnung ins Kinderkollektiv", die Bedürfnisse des Einzelnen wurden den Normen der Gruppe untergeordnet. Augenöffnend ist auch die Arbeit des Gewaltforschers Sven Fuchs, er untersucht die Kindheiten von politischen Extremisten, Gewalttätigen, Diktatoren und Dschihadisten, Männern wie Frauen. In der warmen Kuhle einer liebevollen Kindheit lag da niemand.

Warum halten Sie streng erzogene Kinder für anfälliger für Radikalität und Populismus?

Weil es für Kinder brenzlig wird, wenn sie in einem Gefälle von oben nach unten aufwachsen. Wer so erzieht, stellt seinen Willen über den des Kindes.

Was macht das mit den Kindern?

Sie können nicht das aufbauen, was es für ein gesundes, selbstbewusstes und auch selbstbestimmtes Erwachsenenleben braucht, nämlich eigene, innere Stärke. Konkret: Sie bleiben von äußerer Stärke abhängig, und das nutzen Populisten, die ja genau diese Stärke versprechen. Betrachtet man Kindheitsmuster, und zwar weltweit, kristallisiert sich rasch heraus: Wer streng erzogen wird, tritt eher für eine strafende, kontrollierende Politik ein, die kein Problem darin sieht, Überlegenheit auszunutzen und Ressourcen auszubeuten, wo immer es geht.

Die Nachkriegsgeneration und auch meine Generation, ich bin knapp 40, wurde aber deutlich autoritärer erzogen als heutige Kinder. Wie passt das zum Erstarken des Populismus?

Das passt wunderbar. Heutige Eltern erziehen im Gros liebevoller, da bin ich bei Ihnen. Und wie ich es erwartet hatte, zeigt sich das an den politischen Überzeugungen der Kinder. Hätten Jugendliche wählen dürfen, gäbe es keinen Endlos-Brexit, und bei den unter 25-Jährigen kam die AfD bei der Europawahl auf fünf Prozent. Donald Trump hätte keine Chance gehabt, wenn es allein nach den unter 40-Jährigen gegangen wäre. Das heißt aber nicht, dass weltweit oder in Deutschland die autoritäre Erziehung schon überwunden wäre, wir haben eindeutig noch einen Weg vor uns. Und natürlich spielen bei dem Rechtsruck auch soziale und ökonomische Einflüsse eine Rolle, aber sie brauchen einen Haftgrund. Da müssen wir auf die Kindheiten schauen.

Leider geistert noch durch viele Köpfe, dass Kinder geformt, korrigiert und gelenkt werden müssen.

Die Persönlichkeitspsychologin Jule Specht hält Kinder für robust und sagt, dass für 50-Jährige Ereignisse aus den vergangenen Jahren viel entscheidender sein können als Kindheitserlebnisse. Messen Sie der Kindheit nicht sehr viel Macht bei?

Natürlich sind Kinder robust, und Kindheit ist bestimmt kein Schicksal. Aber sie ist wirkmächtig. Denn als Kinder werden wir das erste Mal "regiert". Wir erfahren, ob es in Beziehungen um Macht oder um Vertrauen geht, ob wir mitgestalten können oder nach Vorgaben leben müssen, ob wir okay sind oder immer zu kurz springen. Gute Kindheitserfahrungen sind keine Impfung gegen späteres Unglück – aber sie machen widerstandsfähiger. Ich will da klar sein: Wer als Kind immer nur funktionieren und kämpfen muss – um Schutz, Anerkennung, Liebe – trägt ein schweres Gepäck mit sich. Menschenkinder müssen auch in der warmen Kuhle des Lebens liegen dürfen, um wirklich stark zu werden.

Wie bereiten denn Eltern ihren Kindern eine warme Kuhle?

Indem sie sie nicht als Menschen mit Mängeln und Defiziten sehen. Leider geistert das Bild des Tyrannen immer noch durch viele Köpfe und mit ihm die Vorstellung, dass Kinder geformt, korrigiert, gelenkt werden müssen. Kinder fordern, was sie für ihre Entwicklung brauchen, nicht mehr und nicht weniger.

Womit wir bei der Gretchenfrage sind: Wie gelingt gute Erziehung?

Indem Eltern ihre Kinder wohlwollend begleiten. Das machen sie, wenn sie die Bedürfnisse des Kindes sehen – und diesen dann mit Verständnis und Empathie begegnen. Das meint übrigens nicht, dass Eltern keine Grenzen setzen dürfen. Aber Grenzen funktionieren nur, wenn das Miteinander stimmt: Du kommst bei uns nicht in Not, wir gestalten einen Alltag, der für alle passt. Erlebt ein Kind, dass seine Bedürfnisse und eigenen Impulse zählen, erlebt es sich als wertvoll und anvertraut. Und damit schließt sich der Kreis: Dieses Erleben macht ein Kind selbstbewusst und sowohl von der Meinung anderer Menschen als auch von der Motivation durch äußere Anreize unabhängig.

Sind nicht die Werte, die Eltern vermitteln, viel entscheidender als der Erziehungsstil? Ich kenne Familien, da gibt’s beim Üben des Instruments oder bei Tisch kein Pardon, aber es werden menschliche Werte gelebt, das Kümmern um Benachteiligte beispielsweise.

Ich kann in die Familien nicht reinschauen. Was ich aber sagen kann: Bei Kindern, die autoritär erzogen werden, wird der Kompass auf das Einhalten äußerer Normen geeicht. So wie der eigene Wille über den des Kindes gestellt wird, können auch moralische Regeln von oben vorgegeben werden, beispielsweise "Kümmere dich um Benachteiligte". Aber das muss von einer inneren Bereitschaft gedeckt sein, sonst tragen die Werte nicht. Und: Um wen wird sich gekümmert? Schließt das manche explizit aus? Mich erinnert das ja ans Dankesagen. Eltern wünschen sich brave Kinder, die Bitte und Danke sagen. Ich wünsche mir Kinder, die das Danke auch innerlich empfinden. Das ist Arbeit. Ich muss auf Augenhöhe gehen, reden, zuhören. Werte wachsen nicht, wenn sie aufgestülpt werden. Sie wachsen von unten, und zwar dann, wenn ein Mensch in sich selbst sicher ist.

Spricht man über Erziehung, kommt man schnell auf die Helikoptereltern. Diese machen ihren Job sehr gut, behauptet eine aktuelle Studie der Elite-Uni Yale. Sie zeigt, dass Helikopterkinder lebenslang Vorteile haben, betrachtet man ihre Bildungschancen und den Berufsweg.

Puh. Darf ich das aufdröseln?

Nur zu.

"Du Helikoptermama" ist doch ein Kampfbegriff. Eltern helikoptern angeblich schon, wenn sie ihr Kind in den Schlaf begleiten oder es zur Schule fahren. Vielleicht nimmt aber Papa den Sohn oder die Tochter auf seinem Arbeitsweg eben ein Stück mit, und diese zehn Minuten im Auto sind für die zwei eine ganz wertvolle Miteinander-Zeit? Klar, Kinder verplempern ihre Kindheit, wenn es nur um die Pläne und Animierprogramme der Erwachsenen geht. Bindung ohne Freiheit funktioniert für Menschenkinder nicht. Aber ist dem so bei allen Eltern, die angeblich helikoptern? Zur aktuellen Yale-Studie: Das sind doch Tiger-Moms, mein Wille ist dein Wille. Wie wurde denn der Erfolg des Erziehungsstils gemessen?

Es geht bei der Erziehung unserer Kinder auch immer darum, in was für einer Welt wir leben wollen.

Über die universitären Abschlüsse.

Aha. Also, mein Sohn lernt gerade Schreiner. Ist er weniger erfolgreich als ich, der ich studiert habe? Es kommt mir schon aus den Ohren raus: Eltern sagen, dass sie glückliche Kinder wollen. Dann geht’s aber doch nur um Status, und das Glück fällt ruck, zuck hinten über. Sind Kinder nicht viel eher dann erfolgreich, wenn sie ein menschliches Herz und strahlende Augen haben? Erziehung ist politisch.

Aber wenn Erziehung Gesinnung prägt, stehen wir dem Erstarken der Populisten machtlos gegenüber: Wie andere erziehen, kann ich nicht beeinflussen.

Jein. Erziehung findet nicht allein in den Familien statt. Wie gehen wir in Kitas und Schulen mit Kindern um? Und es gibt weitere Hebel: Familien müssten entlastet werden, viele zerreiben sich zwischen Job und Familie. Auch die Prioritäten der Gesellschaft gehören überprüft. Was mir Hoffnung macht, ist, dass sich jetzt so viele Jugendliche engagieren.

Zum Beispiel bei "Fridays for Future", andere sind aktiv gegen Rechts. Haben da die Eltern mit ihrem Erziehungsverhalten den Grundstein gelegt?

Ja, das sehe ich schon so. Entlarvend finde ich, dass einige Politiker wie autoritäre Väter reagieren: Ich allein kenne den Weg und die Lösung, deine Stimme zählt nicht und ich will sie auch nicht hören. Kinder aber, die gut erzogen wurden, lassen sich das nicht gefallen. Und das ist gut so, denn ja, eindeutig: Es geht bei der Erziehung unserer Kinder auch immer darum, in was für einer Welt wir leben wollen.

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BRIGITTE 18/2019

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