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Autistisches Kind Warum Marison über ihren autistischen Sohn bloggt

Autistisches Kind: eine junge Mutter mit kurzen platinblonden Haaren liegt mit ihrem jungen Sohn im Gras und gucken hoch
© Marie Haefner / Brigitte
Als Marisons Sohn Jim gerade vier geworden ist, bekommen sie und ihr Freund die Diagnose: Jim ist Autist. Kurz darauf fängt sie an, über ihr Leben mit Jim zu bloggen – gerade auch über das, was schön ist und Mut macht. MOM-Kolumnistin Alena Schröder ist Marisons Schwester und hat mit ihr über die Erleichterung nach der Diagnose, über Krisen und Marisons Gründe für den Blog gesprochen.

Brigitte Mom: Jim ist dein erstes Kind. Wann hast du zum ersten Mal das Gefühl bekommen, dass an ihm irgendetwas anders ist?

Marison: Als er etwa ein Jahr alt war. Da habe ich noch nicht gedacht, er könnte Autist sein, aber er war im Vergleich zu anderen Kindern einfach ungewöhnlich entspannt. Er hat die meiste Zeit in seiner Wippe gesessen, gegessen, geschaut und geschlafen. Erst dachte ich: Cool, Jackpot! Ein echtes Anfängerbaby, man konnte ihn überall mit hinnehmen. Aber so mit eineinhalb, als die anderen Kinder angefangen haben, die ersten Wörter zu sprechen, war bei Jim einfach Stille. Er hat erst noch ein paar Brabbellaute gemacht und dann plötzlich ganz damit aufgehört. Außer Lachen und Weinen war er im Prinzip stumm.

Ich kann mich daran erinnern, dass ich dich manchmal beneidet habe um dein ruhiges, entspanntes Kind.

Klar, und erst mal beruhigen einen ja auch alle. Der lernt das schon noch, der ist halt einfach ein bisschen später dran, Kinder entwickeln sich nun mal unterschiedlich. Aber als Jim zweieinhalb war, war ich mal mit ihm beim Kinderarzt, um abzuklären, ob er vielleicht eine Bronchitis hat, und der Arzt wollte von mir wissen, ob Jim irgendwas wehtut. Und ich musste ihm sagen: Keine Ahnung, er kann es mir leider nicht sagen. Der wurde dann hellhörig. Und dann ging die Suche nach der Ursache los.

Aber das Wort "Autismus" ist da noch nicht gefallen?

Nein, das würde man – außer bei glasklaren Fällen – offiziell auch nicht vor dem vierten Lebensjahr diagnostizieren, weil vieles tatsächlich einfach eine Entwicklungsverzögerung sein kann, die von allein weggeht. Aber mir wurde es mehr und mehr klar an seinem Verhalten. Er war zwar immer schon sehr fröhlich und offen, aber er hat nicht gespielt wie die anderen Kinder im Kindergarten, dafür aber gern Dinge sortiert. Oder einfach der sich drehenden Waschmaschinentrommel zugeschaut. Mit drei konnte er mit so kleinen Magnetbuchstaben das Alphabet vorwärts und rückwärts legen, aber immer noch nicht Mama sagen. Und er brauchte sehr klare Routinen, um sich wohlzufühlen. Als dann kurz nach seinem vierten Geburtstag die Diagnose kam, wussten wir es im Grunde schon.

Und was war das für ein Gefühl, die Diagnose zu bekommen?

Totale Erleichterung. Weil ich endlich bestätigt bekommen habe, dass mein Gefühl mich nicht trügt. Ich habe schon auch an mir gezweifelt, ob ich da was in mein Kind reininterpretiere, was gar nicht stimmt. Und weil wir dann anfangen konnten, Hilfe in Anspruch zu nehmen und unterstützende Therapien wie Logopädie gezielter auszurichten.

Inzwischen spricht Jim ja eine ganze Menge, aber er benutzt Sprache anders als zum Beispiel meine Kinder, oder?

Ja, von Stille kann hier echt keine Rede mehr sein, Jim quatscht jetzt den ganzen Tag. Aber sein System, Sprache zu nutzen, ist ein anderes als bei nicht autistischen Menschen, man nennt das "Echolalie". Er lernt Wörter und Sätze auswendig, die er irgendwo aufschnappt, und benutzt sie dann in ähnlichen Situationen. Auf dem Spielplatz, wenn er schaukeln will, sagt er zum Beispiel: Bobo schaukelt. Das hat er sich gemerkt, weil er gern "Bobo Siebenschläfer" schaut und Bobo da eben schaukelt. Einmal hat er furchtbar geweint und dann immer "Weiß! Weiß!" gerufen und ich wusste überhaupt nicht, was er will. Bis er sich schließlich selber ein Taschentuch aus der Box genommen und es mir hingehalten und "Weiß!" gesagt hat. Er hatte sich gemerkt: Das Taschentuch ist weiß, dann muss Mama ja wohl wissen, was ich meine. Er kann seine Bedürfnisse gut kommunizieren, also dass er Durst hat oder noch einen Schokokeks will. Aber er fragt keine "Warum"-Fragen, wie andere Kinder in seinem Alter. Und wenn ich ihn frage, wie sein Tag im Kindergarten war, kann er das nicht erzählen. Dafür singt er mir dann vielleicht ein Lied vor, das er dort gelernt hat.

Mal abgesehen vom Sprechen, wie wirkt sich Jims Autismus sonst auf euren Alltag aus?

Manche Dinge sind mit Jim vielleicht sogar einfacher als mit neurotypischen Kindern. Man kann mit ihm zum Beispiel problemlos stundenlange Autofahrten unternehmen, er liebt das. Ich könnte mir vorstellen, dass das mit deinen Kindern nicht so war.

Allerdings, die hassen es bis heute, lange im Auto zu sitzen.

Andererseits braucht Jim sehr klare Routinen. Und manchmal werden für ihn Dinge zu Routinen, die wir gar nicht beabsichtigen. Zum Beispiel einkaufen nach dem Kindergarten. Manchmal habe ich das mit ihm gemacht und plötzlich war es für ihn ganz wichtig, das jetzt auch wirklich jedes Mal zu machen, wenn ich ihn abhole. Aber so viel brauchen wir gar nicht, man kauft ja auch nicht jeden Tag ein. Oder neulich, da sind wir zu einem Spielplatz gefahren, bei dem es einen Parkplatz mit Schranke gibt, und normalerweise darf Jim immer das Parkticket zahlen. Die Schranke war aber auf, man konnte gar kein Ticket ziehen und es dann eben auch nicht bezahlen. So was bringt Jim total aus der Spur, er hat dann richtige Krisen.

Wie sieht das dann aus?

So eine Krise oder ein Meltdown ist ein schrecklicher Zustand, gegen den dann auch gar nichts hilft. Totale Kernschmelze. Man kann nichts tun, außer bei ihm zu bleiben und es mit ihm zusammen auszuhalten. Manchmal hilft es ihm, wenn ich ihn fest umarme und möglichst nicht mit ihm rede. Er ist dann richtig verzweifelt, kaum ansprechbar und wirkt fast so, als hätte er körperliche Schmerzen.

Das passiert ja vermutlich oft draußen. Was würdest du dir wünschen, wie Leute dann reagieren?

Am besten einfach weitergehen. Ich weiß, die allermeisten meinen es gut und sprechen Jim an, was er denn hat und dass er doch nicht weinen braucht, aber das feuert das Ganze nur noch an. Manche reagieren ziemlich doof mir gegenüber, so als sei ich unfähig und hätte eben mein bockiges Kind nicht im Griff. Und andere sind total hilfreich und unterstützen kurz, in dem sie mir vielleicht kurz den Hund halten oder meine runtergefallene Handtasche aufsammeln.

Vor einem Jahr hast du angefangen, über Jim zu bloggen. Was hat den Anstoß dazu gegeben?

Ich habe im Internet selbst wenig Deutschsprachiges gefunden, was mir geholfen hat. Es gab nur sehr medizinische Blogs oder Elternforen, in denen es die ganze Zeit nur darum geht, wie schwierig und anstrengend das Leben mit einem autistischen Kind ist. Ich wollte aber was Schönes und Bestärkendes lesen – also habe ich es dann eben selber geschrieben. Denn das Leben mit Jim ist wunderschön, er ist ein fröhliches, neugieriges, soziales Kind, und das möchte ich feiern. Außerdem hat es mir gutgetan, einfach ein bisschen aus unserem Alltag zu erzählen, ohne ein Gegenüber zu haben, das mir dann einen guten Ratschlag geben will. Und weil ich gehofft habe, so auch andere Familien kennenzulernen, die in einer ähnlichen Situation sind. Weil ich mich auch ganz schön isoliert fühle manchmal, man gehört dann eben zu den klassischen Mütterzirkeln auf dem Spielplatz nicht so dazu. Wobei die mich nicht aktiv ausgeschlossen haben, ich habe mich da schon auch selber ein bisschen rausgezogen, weil ich nicht immer alles erklären will und weil ich nicht immer vergleichen mag. Und auch wenn es Jim, glaube ich, nichts ausmacht, trifft es mich immer noch ein bisschen, wenn zum Beispiel Kindergeburtstage gefeiert werden und er ist nie eingeladen.

Und was bekommst du für Reaktionen auf den Blog?

Die Resonanz ist toll und ich habe tatsächlich ganz viele tolle Leute kennengelernt. Es gibt schon auch Kritik, auch von Autisten, die es befremdlich finden, dass ich als nichtautistischer Mensch über mein autistisches Kind spreche. Einiges kann ich durchaus nachvollziehen, andererseits: Wenn wir nie darüber reden, bleibt es immer ein Tabuthema.

Bei mir hat das Lesen deines Blogs auch den Blick auf meine Kinder verändert, und auf meine Erwartungshaltung ihnen gegenüber. Und wie viel ich in Wahrheit gar nicht für sie, sondern für mich mache.

Ja, das ist vielleicht auch der Punkt, in dem ich mich durch Jim am meisten verändert habe. Ich nehme die Dinge jetzt so an, wie sie sind. Jim will auch im Sommer seine dicke Winterjacke anziehen? Egal, dann macht er das eben. Wir wollen eigentlich zum Spielplatz und auf dem Weg setzt Jim sich auf den Gehsteig und bleibt eine halbe Stunde da sitzen? Setze ich mich halt dazu und mache mit ihm Pause. Und ich hinterfrage meine Erwartungen. Es gibt so viel, von dem ich dachte, das gehört einfach dazu zu einer glücklichen Kindheit: Plätzchenbacken im Advent zum Beispiel, Ostereiersuchen. Interessiert Jim aber alles nicht die Bohne, er kann mit dem ganzen Konzept gar nichts anfangen. Das musste ich richtig lernen, loszulassen. Und es dann halt trotzdem zu machen, einfach nur für mich, auch wenn er nicht mitmachen will.

Auf ihrem Blog jimsjourney.at schreibt Marison offen, ehrlich und mit viel Humor über das Leben mit Jim.

Dieser Text stammt aus der BRIGITTE MOM.

Brigitte

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