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Viel zu früh verstorben Was ich meine Mama noch alles fragen wollte

Erinnerungen an die viel zu früh gestorbene Mutter: Mutter auf dem Sterbebett
© Photographee.eu / Shutterstock
Unsere Autorin Michaela Steinweg verliert als junge Erwachsene ihre Mutter. Als sie selbst ein Kind erwartet, kommt der Schmerz mit aller Macht wieder hoch.
Ich vermisse dich so sehr 

"Sie wissen schon, dass Ihre Mutter im Sterben liegt?", fragt die Pflegerin. Meine Schwester und ich sitzen am späten Abend des 8. Februar 2013 am Krankenhausbett unserer Mutter und machen uns Sorgen wegen ihrer unregelmäßigen Atmung. Nein, liebe einfühlsame Pflegerin, dass unsere Mutter bald nicht mehr leben wird, das wussten wir bis gerade eben nicht. Erst zweieinhalb Wochen zuvor wird bei ihr Lungenkrebs im Endstadium diagnostiziert. Als sie kurz darauf Metastasen im ganzen Körper entdecken, ahne ich: Meine Mama wird sterben. In ein paar Monaten vielleicht, oder in zwei, drei Jahren. Aber nicht gleich. Doch genauso kommt es: Wenige Minuten, nachdem die Krankenpflegerin das Zimmer verlässt, stirbt Mama.

Ein bestimmter Gedanke aus diesen Stunden ist mir klar präsent: Wer wird für mich da sein, wenn ich mal Kinder habe?, frage ich mich plötzlich, neben meiner Mutter sitzend, ihre noch warme Hand haltend. Ein Gedanke wie aus dem Nichts, denn Kinder sind zu jener Zeit noch kein akutes Thema für mich. Aber Mama hat sich immer Enkel gewünscht. Dass sich dieser Wunsch nie erfüllen sollte, tut bis heute weh – jedes Mal, wenn ich Frauen in ihrem Alter einen Kinderwagen schieben sehe oder auf dem Spielplatz begegne.

Ich schaue mir alte Videokassetten an

In den Tagen und Wochen nach Mamas Tod herrscht völliger Stillstand. Der Alltag besteht aus Weinen, Friedhofsbesuchen und Trauerkarten-aus-dem-Briefkasten-Fischen. Ich fühle mich als Vollwaise, denn zu meinem Vater besteht zu dieser Zeit kein Kontakt. Mein Volontariat in der Unternehmenskommunikation kündige ich, um in Mamas Haus wohnen zu können. Meine Mutter, meine beste Freundin, hat einmal gesagt, sie wolle 90 Jahre alt werden, jetzt ist sie tot mit 56. Das darf nicht sein. Ich lese Berichte von Menschen mit Nahtoderfahrungen und Theorien aus der Quantenphysik zum Fortbestehen der Seele – es muss doch einen Beweis dafür geben, dass Mama irgendwie noch lebt.

Stattdessen gibt es: Zeichen. Oder sagen wir: Schicksalswendungen, die ich als Zeichen interpretiere. Denn nach dem Stillstand nimmt mein Leben plötzlich Fahrt auf. Zwei Monate nach dem Tod meiner Mutter treffe ich – zuvor Ewigkeiten ohne feste Beziehung – Gregor, meinen jetzigen Mann. Weitere drei Monate später bin ich – arbeitslose Volontariatsabbrecherin – angestellt bei einem Verlag mitten in meiner Heimatstadt. Die alte Schnapsbrennerei, die die Verlagsräume beherbergt, liegt dem Krankenhaus direkt gegenüber; von meinem Büro aus blicke ich auf die Station, in der meine Mutter starb. Das finde ich erst gruselig, dann auf merkwürdige Art und Weise beruhigend. Als sei alles von ihr arrangiert.

Doch es gibt kein Happy End für diese Geschichte, jedenfalls kein rich­tiges: Die Trauer bleibt. Sie ist keine ständige Last mehr, sondern kommt in Wellen, wie es in der Fachliteratur so treffend heißt. Und plötzlich, drei Jah­re später, kehrt auch die Frage zurück, die ich mir am Sterbebett meiner Mutter stellte: Wer ist für mich da, wenn ich selbst Kinder habe? Denn 2016 bin ich zum ersten Mal schwanger. Jetzt vermisse ich meine Mutter genauso stark wie in den lähmenden Wochen nach ihrem Tod. Ich schaue mir auf alten VHS­-Kassetten an, wie Mama meine Schwester und mich beim Spielen filmt. Man sieht sie selten, doch ihre liebevolle Stimme aus dem Off wirkt tröstend.

Wie hättest du jetzt gehandelt?

Eine Sequenz zeigt, wie sie meine Schwester, vielleicht gerade drei Monate alt, wickelt und ihr das wehe Bäuchlein mit einer Salbe massiert. Diese Szene drängt sich mir immer wieder ins Gedächtnis, weil sie mich so deprimiert: Andere frischgebackene Mütter fragen ihre Mütter einfach, wie sie ihr Kind am besten wickeln, stillen oder pucken, sie können sich all das direkt von ihnen zeigen lassen. Ich habe nur ein 27 Jahre altes, vier Minuten kurzes Video.

Natürlich bekomme ich, als Arthur auf der Welt ist, alles irgendwie hin. Aber die Möglichkeit, jederzeit jemand Erfahrenen um Hilfe bitten zu können, und sei es mitten in der Nacht, fehlt ungemein. Gerade in den ersten Lebenswochen und -monaten, die so viel Unsicherheit mit sich bringen. Mama, schreit sich Arthur wegen seiner Bauchschmerzen die Seele aus dem Leib, oder ist es doch etwas Ernstes? Diese Frage hätte mir meine Mutter sicher schnell beantworten können – wie mein Sohn hatte auch ich als Baby einen Leistenbruch. Es folgt eine Routine-OP, und alles ist wieder gut. Als Arthur mit 15 Monaten noch keinerlei Interesse am Laufen zeigt, würde ich wieder so gern Mama fragen: Hat es damals bei mir auch so lang gedauert? Einen Monat später tut er die ersten Schritte, und heute habe ich nicht selten Mühe, ihn einzuholen, aber das weiß ich in seinem 15. Monat eben noch nicht. Und wenn ich mal krank bin, vermisse ich meine Mutter nicht nur deshalb, weil sie mich dann immer so rührend umsorgt hat. Sondern auch, weil es niemanden gibt, zu dem man sein kleines Kind mal eben schnell bringen kann, wenn es einem schlecht geht – meine Schwiegereltern wohnen 50 Kilometer entfernt.

Manche Sprüche machen mich ratlos

Den Verlust spüre ich auch jetzt, in der zweiten Schwangerschaft, wieder stärker. Wieder habe ich etliche Fragen an meine Mutter. War ich damals, als meine Schwester dreieinhalb Jahre nach mir auf die Welt kam, sehr eifersüchtig? Wenn ja, was hat dagegen geholfen? Wir erwarten ein Mädchen. Und wieder glaube ich zu wissen, dass meine Mutter, von wo auch immer, die Geschicke lenkt: großer Bruder, kleine Schwester, das habe ich mir immer gewünscht. Angesichts einer 50:50­-Wahrschein­lichkeit an Schicksal zu glauben, fände mein Mann sicher lächerlich. Hätten meine Mutter und er sich überhaupt gemocht? Er, Programmierer, Atheist, Realist und sie, eine gläubige Frau mit einem leichten Hang zur Esoterik: Engel, Kristalle, Bachblüten. Zwei Menschen, die sehr unterschied­lich waren und sind, die ich trotzdem beide sehr liebe. Belassen wir es dabei.

Ich habe festgestellt, dass es für mich das Beste ist, mit anderen so wenig wie möglich über den Verlust meiner Mutter zu sprechen. Zu schwer zu ertragen sind die sicher nett gemeinten, aber ungelenken Bemerkungen Außenstehender: Ach, deine Mama hätte so eine Freude an Arthur gehabt! Ein Spruch, der immer wieder kommt und der mich erst traurig, dann ratlos macht. Denn obwohl ich dasselbe denke, wenn ich meinen Sohn mit meiner Schwiegermutter spielen sehe, weiß ich doch: Ohne den Tod meiner Mutter, ohne die dadurch bedingte Rückkehr in meine Heimat hät­te ich meinen Mann wohl nicht kennengelernt, gäbe es Arthur also gar nicht.

Der Kommentar, der sich mir am meisten ein­geprägt hat, fällt lang, bevor ich selbst Mutter wer­de – kurz nach Mamas Beerdigung: "Für dich ist es bestimmt schlimm, aber für deine Oma ist es noch viel schlimmer!", sagt eine Bekannte aus dem Dorf fast vorwurfsvoll. Dieses Aufwiegen der beiden Trauerarten gegeneinander macht mich unfassbar wütend. Und bewirkt, dass ich noch weniger von meinem Schmerz preisgebe. Vielleicht hat sie ja recht, denke ich. Dass Kinder ihre Eltern begraben, nicht anders herum, das ist doch normal.

Der Tod hat Verlustängste geweckt

Dass es für eine 27-Jährige eben nicht normal ist, ihre Mutter zu verlieren, sollte sich später in PEKiP-, Babyschwimm- oder Rückbildungskursen zeigen, als die jungen Muttis von ihren eigenen Müttern schwärmten: Das Rezept für den Möhren-Fenchel-Brei hab ich von Mama, den mochte ich wohl als Baby furchtbar gerne. – Das süße Mützchen? Hat Mama gestrickt. Ich stelle dann auf Durchzug, konzentriere mich auf meinen Sohn, der Locken hat wie seine Oma im ... Himmel? Tja. Noch ist er zu klein, es zu begreifen, doch wie erkläre ich Arthur einmal, dass er zwei Opas, aber nur eine Oma hat? Nach der Antwort auf diese Frage suche ich noch.

Ein weiteres ungelöstes Problem: Wie werde ich als Mutter gelassener? Der Tod meiner Mutter hat Verlustängste geweckt, die ich bis dahin nicht kannte. Oft quäle ich mich mit der Vorstellung, mein Sohn könne schwer erkranken, von einem Auto erfasst werden oder sonst irgendwie verunglücken. Ich versuche, diese Ängste nicht zu mächtig werden zu lassen, und nehme mir meine eigene Mutter zum Vorbild. Mama, die meine Schwester und mich überall hat spielen lassen, solange es hell war, und mir die beste Kindheit geschenkt hat, die ich mir vorstellen kann. Heute empfinde ich, wenn ich an meine Mutter denke, zuerst eine tiefe Dankbarkeit – die Traurigkeit kommt später. Wenn mir das jetzt noch mit der Angst um meine Liebsten gelingt, bekommt diese Geschichte vielleicht doch noch ihr Happy End.

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Selbsthilfegruppen für mutterlose Mütter (oder vaterlose Väter) gibt es nicht flächendeckend. Anlaufstellen sind Onlineforen, Facebook-Gruppen wie "Töchter ohne Mütter" oder Blogs, die das Thema aufgreifen (z. B. stadtlandmama.de). Einen Überblick über Seminare oder begleitete Gruppen gibt’s unter gute-trauer.de.

Dieser Artikel ist ursprünglich auf Eltern.de erschienen.

Michaela Steinweg

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