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"Nenne dein Kind doch gleich 'Du Opfer'!"

Zu altmodisch, zu belastet, zu verrückt. Autor Christian Hanne beschreibt sehr lustig eine der härtesten Prüfungen für Eltern: die Namenswahl.

So eine Namenswahl ist eine äußerst verantwortungsvolle Aufgabe. Schließlich behält ihn das Kind sein ganzes Leben. Erkläre der Freundin, sie sei mittlerweile schon im fünften Monat schwanger, und da sollten wir die Namenssuche mit Hochdruck angehen.

Sonst würden wir irgendwann von der Geburt überrascht, uns fiele dann auf die Schnelle nichts ein, und das Neugeborene hieße plötzlich Kunigunde oder Giselher. Da möchte man später nicht in der Haut des Kindes stecken, wenn es sich in der Tanzschule vorstellen muss. Und die astronomisch hohen Rechnungen zur therapeutischen Behandlung des durch den Namen ausgelösten Traumas möchte man auch nicht bezahlen.

Die Freundin ist sofort Feuer und Flamme. Sie habe auch schon einen ganz tollen Mädchennamen. Danach macht sie eine effekthaschende Kunstpause. Tue ihr den Gefallen und fordere sie auf, damit herauszurücken und mich nicht länger auf die Folter zu spannen. "Elisabeth!", verkündet sie stolz. Nun mache ich eine Kunstpause. In erster Linie, um herauszufinden, ob die Freundin möglicherweise – und hoffentlich – einen Witz gemacht hat. Hat sie aber nicht. Sie bleibt todernst.

Elisabeth? So heißen Greisinnen, keine Babys!

Um Zeit zu gewinnen, nehme ich einen großen Bissen von meiner Leberwurststulle. Nachdem ich diesen 98-mal gekaut habe, wird die Freundin allmählich unruhig. Sie erwartet irgendeine Reaktion von mir. Schüttele zögerlich und dann immer bestimmter den Kopf. Elisabeth sei ein Name für 80-jährige Frauen, aber nicht für kleine Säuglinge, die einen mit kindchenschematisch großen Augen, süßen Stupsnäschen und weichen Pausbäckchen verzaubern, sage ich. Solange sie nicht vorhabe, eine betagte Greisin zu gebären, komme Elisabeth nicht infrage.

Die Freundin akzeptiert widerwillig meinen Einwand und schlägt vor, wenn wir einen Jungen bekämen, könnten wir ihn Paul nennen. Drücke erneut durch Kopfschütteln meine Ablehnung aus. Der Name berge ein zu großes verballhornendes Reimpotenzial. Die Freundin schaut mich fragend an. "'Paul ist faul'. 'Der Gaul heißt Paul'. 'Wem hauen wir aufs Maul? – Paul!'", verdeutliche ich meinen Standpunkt anschaulich. Die Freundin sieht ein, dass der Name ausscheidet, um das arme Kind nicht zur Zielscheibe verbalen Spotts zu machen. Es dauert dann auch nicht lange, sie davon zu überzeugen, dass aus dem gleichen Grund der Name Uschi keine Option sei.

Erkläre, ich sei ohnehin skeptisch, was diese traditionellen Namen angeht, die gerade wieder en vogue sind. Marie, Friedrich, Hanna, Georg. Das klänge alles nach wohlstandsverzogenen, laktoseintoleranten Gören aus dem Prenzlauer Berg, die von ihren von sozialen Abstiegsängsten gepeinigten Eltern zum Frühchinesisch, kreativen Malen und Kinderyoga geschleppt werden, um sie für den globalisierten Arbeitsmarkt fit zu machen.

Wie wäre es mit Mehmet?

Leicht genervt fordert mich die Freundin auf, dann solle ich halt mal einen konstruktiven Vorschlag machen, anstatt immer nur rumzumosern. Überlege eine Weile. "Wie wäre es mit Mehmet?", frage ich. Ihrem entgeisterten Blick entnehme ich, dass sie denkt, ich habe den Verstand verloren.

Erkläre, dass ich einen türkischen Klassenkameraden namens Mehmet hatte. "Das war ein supercooler Typ. Der musste sich schon mit zwölf rasieren. Und mit seinem anatolischen Temperament und seiner rohen, animalischen sexuellen Ausstrahlung hat er alle Mädels rumgekriegt", gerate ich ins Schwärmen.

Die Freundin ist wenig begeistert von meinem Vorschlag. Es sei rassistisch, von der Herkunft eines Mannes auf seine sexuelle Wirkung zu schließen, muss ich mich von ihr belehren lassen. Und antifeministisch sei es auch. Bin mir ziemlich sicher, dass Mehmet es nicht rassistisch fand, dass alle Mädchen auf ihn standen. Und für die war ein bisschen Antifeminismus sicherlich okay, solange sie mit dem heißesten Typen der Schule knutschen konnten.

Ein Junge namens Judith

Die Freundin schlägt vor, wir sollten uns bei der Namenswahl nicht von kruden Männerfantasien treiben lassen, sondern sollten das Kind, wenn es ein Mädchen wird, Judith nennen. Aber englisch ausgesprochen, so wie Judith Butler.
Das sei eine poststrukturalistische Feministin, die sehr überzeugend argumentiere, dass Geschlecht keine biologische Kategorie, sondern sozial konstruiert sei. Indem wir unsere Tochter Judith – englisch ausgesprochen – nennen würden, könnten wir zeigen, dass wir progressive Eltern sind, denen an einer Gleichberechtigung der Geschlechter gelegen ist.

"Quatsch!", werfe ich ein. "Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith. Das wäre mal richtig progressiv."

Im weiteren Verlauf des Abends bleibt die Namensfindung eine zähe Angelegenheit. Stelle fest, dass sehr viele Namen tabu sind, weil wir sie mit unbeliebten und wenig sympathischen Menschen verbinden. So entsteht ein recht umfangreicher Katalog unerwünschter Namen: Johanna (nervige Kusine zweiten Grades), Bernhard (schleimiger Klassenkamerad von früher), Valerie (intrigante Kollegin), Dorothea (übereifrige Kommilitonin), Norbert (cholerischer Ex-Chef), Torben (doofer Handballkollege aus der B-Jugend). Nach einigen Stunden hat die Liste Tapetenrollenausmaße angenommen. Wir vertagen das Projekt "Kindsnamen".

Demütigung auf dem Schulhof vorprogrammiert

Verbringe den größten Teil des nächsten Arbeitstages im Büro mit einer akribischen Recherche zur Namensgebung. Finde heraus, dass die deutsche Rechtsprechung zunehmend exotische Namen zulässt. Das ist einerseits erfreulich, erweitert es das zur Verfügung stehende Namensspektrum doch erheblich.

Andererseits stellt sich aber die Frage, wie groß das intellektuelle Vakuum bei Menschen ist, die ihre Kinder mit Namen wie Cinderella oder Pumuckl strafen. Insbesondere bei Nachnamen wie Rockhausen-Fleischmann oder Schulze-Rinksdorf ergibt dies befremdliche Kombinationen.

Damit sind demütigende Erfahrungen auf Schulhöfen und Sportplätzen vorprogrammiert und die Kinder von Geburt an jeglicher Chancen auf soziale Teilhabe beraubt. Da könnten sie das Kind auch gleich "du Opfer" nennen. (...)

Keine Überschneidungen in unseren Top-Listen

Abends empfängt mich die Freundin freudestrahlend zu Hause. Mit ihrem Sinn fürs Pragmatische hat sie "Das große Buch der Vornamen" gekauft. Mit mehr als 10.000 Einträgen inklusive Angaben zur Herkunft und Bedeutung der Namen. Sie erzählt, sie habe aus dem Namenskompendium ihre Top 10 der Mädchen- und der Jungennamen rausgesucht, und ich solle das ebenfalls machen. Einen der doppelten Namen nähmen wir dann einfach.

Ein Vorgehen, das in der Theorie sehr überzeugend klingt, sich in der Praxis aber als tückisch erweist. Nachdem ich zwei Stunden später meine Liste fertiggestellt habe, müssen wir ernüchtert feststellen, dass es bei den insgesamt 40 Namen keine einzige Überschneidung gibt.

Habe ich etwa keine Namensauswahlkompetenz?

Als die Freundin in meiner Mädchenliste den Namen Serafina entdeckt, wirft sie mir vor, meine Auswahl sei gar nicht ernst gemeint und ich wolle sie wohl auf den Arm nehmen. Erwidere beleidigt, mir gefalle der Name, da ich ein Faible für Italien und insbesondere die italienische Küche hätte. Die Freundin erwidert, sie äße gerne Schokolade, deswegen wolle sie ihr Kind aber noch lange nicht Milka nennen. Max und Moritz, die ich auf meine Jungennamenliste gesetzt habe, lehnt die Freundin ebenfalls kategorisch ab. Schließlich wolle sie keine Wilhelm-Busch-Figuren großziehen.

Langsam geht mir ihre Anzweiflung meiner Namensauswahlkompetenz auf den Wecker. Nehme mir die Aufzeichnungen der Freundin vor, um sie einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Muss leider konzedieren, dass sie eine Auswahl recht wohlklingender Namen zusammengestellt hat. Allerdings möchte ich das in dieser Eindeutigkeit nicht laut zugeben, denn so etwas wird dann schnell bei irgendeiner unpassenden Gelegenheit gegen einen verwendet.

Rege stattdessen an, wir könnten dem Kind doch einfach unsere Vornamen geben. Das wäre effizient und hätte außerdem einen royalen Anklang. Christian II. oder Christian jr. Das klinge nach erfolgreicher amerikanischer Öl-Dynastie. Die Freundin findet, es klinge hauptsächlich danach, dass die Eltern ideenlose Einfaltspinsel sind oder einen veritablen Dachschaden haben.

Zeugnisse für Jesus

Im Bett beschäftigt mich die Namensfindung weiter. Wir könnten uns ja an biblischen Personen orientieren. Vielleicht nicht gerade an umstrittenen Charakteren wie dem Brudermörder Kain, dem Verräter Judas oder dem immerzu schlechte Nachrichten verbreitenden Hiob.

Aber in Südamerika ist es ja durchaus üblich, dass Jungen den Namen des Heilands tragen. Sollten wir einen Sohn bekommen, könnten wir in seinem ersten Zeugnis lesen: "Der kleine Jesus legt ein weit überdurchschnittliches Sozialverhalten an den Tag und verteilt in der Pause immer seine Stullen und seinen Pausentee unter den Mitschülern – und zwar nicht nur seiner Klasse, sondern der ganzen Schule.

Im Deutschunterricht besticht er durch eine sehr ausgeprägte Fantasie und unterhält die Klassengemeinschaft mit selbst ausgedachten Geschichten, die er Gleichnis nennt. Bedenklich ist allerdings sein Mangel an Respekt gegenüber Obrigkeiten und Vorschriften. So weigert sich der kleine Jesus beispielsweise beharrlich, das Schwimmen zu erlernen, sondern läuft stattdessen über das Wasser."

Beschließe, morgen der Freundin vorzuschlagen, unseren Erstgeborenen Jesus zu nennen. Sie wird bestimmt begeistert sein.

Ihr wollt mehr über Christian Hanne und seinen "Familienbetrieb" lesen? Dann empfehlen wir sein neues Buch "Wenn's ein Junge wird, nennen wir ihn Judith" - mit 12 Kurzgeschichten aus seinem herrlich verrückten Alltag als Familiengründer (Seitenstraßenverlag, 9.90 Euro). Hier könnt ihr es direkt bestellen.

Text: Christian Hanne. Gekürzter Auszug aus dem Buch "Wenn's ein Junge wird, nennen wir ihn Judith" (Seitenstraßenverlag, 128 S., 9.90 Euro))

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