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Und dann kamst du "Eltern von Kindern mit Behinderung leisten Übermenschliches"

Und dann kamst du: Eine Hand hält die kleine Hand eines neugeborenen Babys
© Rattanachat / Adobe Stock
Kerrin Stumpf war gerade mit der Ausbildung fertig und wollte beruflich durchstarten. Dann kam Pelle. Und er war anders als alles, was sie erwartet hatte.

Pelle wurde mit einem Sauerstoffmangel geboren. Ohne Brille habe ich zuerst nur etwas Blaues gesehen. Alle waren sehr aufgeregt, ich dachte: Wenn er jetzt tot ist, kann ich ja gleich wieder arbeiten. Ich hatte erst kurz vorher mein zweites Staatsexamen gemacht. In dem Moment stand ich tatsächlich unter Schock. Als ich ihn dann am nächsten Tag auf der Intensivstation besucht habe, stand die Zeit still. Heute sage ich immer: Wir sind verrückt. Im dem Sinne, dass man uns aus der Wirklichkeit geschoben hat. Die Realität von Müttern und Vätern, die ein Kind mit Behinderung haben, ist nicht dieselbe wie von anderen Eltern.

Schon damals hatte ich das Bewusstsein: Es ist sein Schicksal, nicht meins. Ich habe mich dafür entschieden, Mutter zu werden, und kann, zumindest theoretisch, meine Koffer packen und gehen. Für meinen Sohn ist das nicht denkbar, er kann aus seiner Behinderung nicht aussteigen. Diese Perspektive hat mir geholfen, mich immer wieder bewusst zu entscheiden, ihm zu helfen, damit er Freude im Leben findet.

Heute ist Pelle 21 und geht tagsüber mit hoher Arbeitsmoral in eine Tagesstätte. Er sitzt im Rollstuhl und braucht viel Unterstützung, auch nachts, weil er sich nicht allein umdrehen kann. Er kann nicht sprechen, aber er teilt sich mit den Augen und dem ganzen Körper mit. Er ist sehr empathisch, und es ist für mich immer wieder faszinierend, wie er es schafft, Menschen zu öffnen.

Keine einfache Balance: Arbeit und Kinder

Dass Pelle erwachsen wird, war für mich lange unvorstellbar. Damit hat das Thema Tod immer eine große Rolle gespielt, und natürlich lag unsere Aufmerksamkeit oft voll bei Pelle. Deswegen wurden wir auch noch mal Eltern. Einfach um den älteren Sohn, der damals zwei war, zu entlasten. Unsere Tochter kam dann anderthalb Jahre später zur Welt, sechs Monate nach ihrer Geburt habe ich mich als Anwältin zulassen lassen. Ich wollte unbedingt arbeiten, zumindest stundenweise, während sich meine Schwester um die Kinder gekümmert hat. Natürlich habe ich mich damit überfordert, aber Berufstätigkeit ist so wichtig, um die eigene Identität zu erhalten. Irgendwann dachte ich: Das wird doch nichts, jetzt find dich mal damit ab.

Doch als Pelle fünf war, hat der Elternverein, in den ich gleich nach seiner Geburt eingetreten bin, angerufen und gefragt, ob ich mitarbeiten wolle. Ich habe mit einer halben Stelle als rechtliche Betreuerin angefangen, ein Job, der für mich aufgrund meiner Ausbildung gut zu leisten war, auch wenn ich eigentlich erst weniger Stunden arbeiten wollte. Inzwischen bin ich dort seit acht Jahren Geschäftsführerin in Vollzeit.

Obwohl wir Kompetenzen gewinnen, wenn wir pflegen, sind viele Frauen mit einem Kind mit Behinderung beruflich abgehängt. Zudem ist die Gefahr groß, dass Frauen in eine Spezialistenrolle geraten. Dann weiß zum Beispiel nur die Mutter, wann welche Medikamente gegeben werden müssen. Ich lege großen Wert darauf, dass es bei uns nicht so ist. Es war für meinen Mann, der ebenfalls Jurist ist, immer selbstverständlich, dass ich arbeite und er mitmachen muss. Er ist auch die Pflegeperson und hatte ein paar Jahre beruflich reduziert.

Man braucht ein Netzwerk

Eltern von Kindern mit Behinderung leisten Übermenschliches. Das geht nicht allein, dafür brauchen wir ein Netzwerk. Dass wir gemeinsam eine große, starke Gruppe sind, erlebt man bei "Leben mit Behinderung Hamburg". Hier können wir uns austauschen, uns solidarisieren, Kraft tanken, aber auch Politik machen. Das gibt mir ganz viel zurück.

Letztes Jahr war Pelle so krank, dass er fast nicht überlebt hätte. Nachdem er eine Magensonde bekommen hat und deshalb andere Nahrung, wird er jetzt immer größer. Er ist mir sozusagen entwachsen, irgendwann wird er ausziehen. Dieses Loslassen fällt schwer, das lernen wir als Eltern von einem Kind mit Behinderung nicht richtig.

Pelle hat mich auf einen neuen Weg gebracht, dafür bin ich dankbar. Er ist ein sehr weiser Mensch. Er ist ein Coach, ein fantastischer Kritiker und Begleiter. Wie gehen Menschen miteinander um, wie kommunizieren wir – diese Dinge nehme ich durch Pelle noch einmal ganz anders wahr. 

Kerrin Stumpf sagt, dass Pelle mehr Verständnis für Sprache hat, als er zum Ausdruck bringt. Zum Beispiel lacht er immer an der richtigen Stelle.

Die Themenwoche ist Teil der Initiative "Vielfalt verbindet" von RTL Deutschland, die Aufmerksamkeit für Diversity-Themen schafft und crossmedial für Gemeinschaft, Toleranz und Gleichberechtigung eintritt. "Vielfalt verbindet" möchte Sichtbarkeit schaffen für Vielfalt – in all ihren Erscheinungen. Mehr Infos gibt es unter: rtl.de/vielfalt
Die Themenwoche ist Teil der Initiative "Vielfalt verbindet" von RTL Deutschland, die Aufmerksamkeit für Diversity-Themen schafft und crossmedial für Gemeinschaft, Toleranz und Gleichberechtigung eintritt. "Vielfalt verbindet" möchte Sichtbarkeit schaffen für Vielfalt – in all ihren Erscheinungen. Mehr Infos gibt es unter: rtl.de/vielfalt
© RTL
Brigitte

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