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UN-Kinderrechtskonvention "Kinder brauchen Privatsphäre und Orte der Entspannung"

UN-Kinderrechtskonvention: Spielende Kinder
© Rawpixel.com / Shutterstock
Am 5. April 2022 sind genau 30 Jahre vergangen, seitdem die UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland in Kraft getreten ist. Wir haben mit der Autorin und Kinderrechtsexpertin Anke M. Leitzgen gesprochen und Bilanz gezogen: Wie steht es in Deutschland um die Kinderrechte? Was ist geregelt, aber noch nicht durchgesetzt? Was bringt die Zukunft? Und welche Rolle spielen die Pandemie und der Krieg in der Ukraine?

Eltern.de: Was können Kinder, Jugendliche und Eltern tun, um sich für die Kinderrechte starkzumachen?

Anke M. Leitzgen: Voraussetzung für ein Starkmachen ist vor allem, dass man die Chance erhält, die Kinderrechte kennenzulernen. Ein wichtiger Grundstein wird dafür oft schon in der Kita gelegt, weil dort bundesweit intensiv zum Recht auf Mitsprache gearbeitet wird. Und zwar nicht nur so, dass die Kinder von diesem Recht erfahren, sondern es als festen Bestandteil des pädagogischen Konzepts und damit des Kita-Alltags erleben. 

Danach ist es in Deutschland jedoch leider dem Zufall überlassen, ob ein Kind Zugang zu seinen Rechten erhält oder nicht. Denn einerseits gibt es die tolle Arbeit vieler Organisation dazu, andererseits fehlt es aber an Verbindlichkeit, die zum Beispiel vorsehen könnte, dass in der Grundschule die Kinderrechte Teil des Schulkonzepts sein müssen. Gerade unter Ganztagsbedingungen müssten wir hier als Erwachsene unsere Hausaufgaben machen – als Eltern, als Lehrerin oder Lehrer, aber auch als Architektin oder Architekt eines Schulgebäudes. In einer unserer Befragungen hat ein Mädchen gesagt, dass in der Schule die Toilette für sie der wichtigste Ort ist, weil es dort eine Tür gibt, die man hinter sich abschließen kann, um in Ruhe zu weinen. Ich wünschte, dass diese Aussage bei der Planung neuer Schulbauten berücksichtigt würde. Kinder brauchen Privatsphäre und Orte der Entspannung.

Was ist eigentlich schon längst gesetzlich geregelt, aber noch nicht umgesetzt?

Im Baugesetz ist zum Beispiel schon lange das Recht auf Beteiligung für Kinder und Jugendliche verankert, wenn ein geplantes Gebäude oder ein öffentlicher Platz zu ihrem Lebensbereich gehört. Das trifft natürlich auch auf die angesprochenen Schulbauten zu, aber da wird tatsächlich noch viel zu wenig nach den Erfahrungen, Ideen und Wünschen gefragt. Interessant ist ein noch relativ neues Gesetz, das Kindern heute auch in der Stadt das Recht auf Naturerfahrung zuspricht. Damit es aber tatsächlich umgesetzt wird, kann ich Eltern nur dringend empfehlen, Aufrufe zur Bürgerbeteiligung vor der eigenen Haustür wahrzunehmen – auch mit Kind, falls es sich um keine Abendveranstaltung handelt.

Wie steht es um die Umsetzung der Kinderrechte in kritischen Situationen und Krisengebieten, wie beispielsweise in der Ukraine oder Afghanistan?

Kinder auf der Flucht genießen das Recht auf besonderen Schutz. Geflüchtete Kinder, die allein in Deutschland angekommen sind, haben das Recht auf Nachzug ihrer Eltern. Und vor allem haben sie einen Anspruch darauf, dass für sie so gut gesorgt wird, wie für Kinder, die hier aufgewachsen sind. Ich finde die Bereitschaft, diese Aufgabe als Gesellschaft zu stemmen, aktuell absolut großartig. Da werden die Kinderrechte wirklich lebendig – auch wenn das vielen Menschen bei ihren ehrenamtlichen Hilfeleistungen vielleicht gar nicht bewusst ist. 

Was macht die Pandemie mit den Kinderrechten? Der Fokus liegt seit Corona ja selten auf Familien und deren Unterstützung – wie kann dann überhaupt gewährleistet werden, dass die Kinderrechte korrekt ausgeführt und vertreten werden?

Ohje, ein schwieriges Thema. Die Bedürfnisse von Kindern standen tatsächlich sehr weit unten auf der Agenda. Trotzdem haben sie alle so tapfer wie möglich mitgemacht. Vermutlich werden wir erst in einigen Jahren wissen, was dieser Einschnitt für ihre Entwicklung bedeutet hat. Persönlich glaube ich, dass die Jugendlichen besonders betroffen waren, weil sie sich in einer Lebensphase befanden, in der eigentlich Abnabelung auf dem Plan steht. Aber Sie haben danach gefragt, wie es eigentlich richtig gewesen wäre. Man hätte Kinder und Jugendliche stärker einbinden müssen. Ich fand zum Beispiel unerträglich, dass es in vielen Grundschulen vor allem darum ging, auf welchem Weg das Arbeitsblatt ans Kind kommt, anstatt erst einmal darüber zu sprechen: Wie machen wir jetzt persönlich das Beste aus diesen Einschränkungen, die diese globale Pandemie mit sich bringt? 

Gibt es Ideen oder Ansätze, wie man sich in dieser Situation mehr Gehör verschaffen könnte?

Ja, und dass das nun endlich möglich wird, dafür hat letztlich Corona gesorgt. Die Teilhabe von Kindern bezieht sich auf alle gesellschaftlichen Teilbereiche: Sie betrifft die Familie, Kita oder Schule ebenso wie die Stadtgestaltung, Vereine, aber auch die Politik – also ein weites Feld. Damit sich dort die Interessen und Bedürfnisse von Kindern und Familien besser abbilden, ist digitale Beteiligung ein wunderbares Instrument. Damit sie jedoch wahrgenommen werden kann, muss "digital literacy" ein fester Bestandteil in allen Bildungsbereichen werden. Denn die Fähigkeit, Informations- und Kommunikationstechnologien zu nutzen, um Informationen zu finden, zu bewerten, zu erstellen und zu kommunizieren – genau das meint "digital literacy" – bekommt man nicht geschenkt. Sie erfordert sowohl kognitive wie auch technische Fähigkeiten, die geübt werden müssen. Medienkompetenz ist damit eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche und autonome Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen.

Wo geht das Thema im Alltag schon los? 

Überall, wo ein Kind ist, gelten die Kinderrechte. Das heißt, es gibt gar keinen Alltagsbereich, in dem sie keine Rolle spielen. Ich finde aber ganz wesentlich, dass man als Kind nicht nur weiß, welche Rechte man theoretisch hat, sondern wie man sie auch ganz praktisch bekommt. Das heißt, ich muss als Kind gute Verhandlungstechniken lernen. Ich muss wissen, dass mir eher zugehört und auch zugestimmt wird, wenn ich mein Anliegen gut begründen kann und Quengeln eher selten zum Ziel führt. Im Grunde genommen sind das alles Fähigkeiten, die man für ein demokratisches Miteinander braucht und die man jederzeit miteinander trainieren kann.

Wie kann man sich als Eltern vorbereiten? Und auch: Wie kann man die eigenen Kinder gut vorbereiten? 

Wenn man sich als Eltern das Ziel setzt, das Kind auf seinem Weg des Erwachsenwerdens so zu begleiten, dass es immer selbstständiger wird und gute Entscheidungen für sich treffen kann, macht man bereits alles richtig. Wichtig ist doch, dass man miteinander in einer guten Beziehung ist und solche Sätze wie "Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst …" endgültig in der Mottenkiste vergräbt. Im Miteinander geht es darum, im Gespräch zu sein, Argumente sorgfältig miteinander abzuwägen, mutig etwas auszuprobieren und im Zweifelsfall auch mal zu sagen: "Ich weiß, du traust dir das zu, aber ich bin noch nicht so weit. Und da mich die Kinderrechte verpflichten, gut für dich zu sorgen, machen wir es jetzt, wie ich glaube, dass es am besten für dich ist." Dieser letzte Satz ist mir so wichtig, weil viele Eltern immer noch besorgt sind, dass die Kinderrechte bedeuten könnten, dass Kinder machen, was sie wollen. Aber das stimmt natürlich nicht. Kindeswohl heißt, dass wir als Eltern sehr genau hinschauen müssen. Aber wir entscheiden nicht über den Kopf eines Kindes hinweg, sondern sind mit ihm im Dialog. 

Wer mehr erfahren möchte:

Anke M. Leitzgen engagiert sich seit mehr als zehn Jahren für die Teilhabe von Kindern und die Kinderrechte. Dazu entwickelt sie mit einem multiprofessionellen Team Bücher, Lernmaterialien, Workshops und Apps. Für Kinder ab acht Jahren gibt es das Buch "Das sind deine Rechte" (Beltz & Gelberg, 14,95 Euro). Kostenlos gibt es den neuen Vokabeltrainer für geflüchtete Kinder aus der Ukraine unter digiclass-lab.de. Außerdem neu ist der mehrtägige, crossmediale Ferienworkshop "Kinderrechte to go" für Schulen und den Offenen Ganztag, der die Kinderrechte lebendig werden lässt (mehr dazu auf tinkerbrain.de). 

Mehr über die UN-Kinderrechtskonvention findet ihr bei Unicef unter Die UN-Kinderrechtskonvention.

Dieser Artikel erschien ursprünglich auf eltern.de

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