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Magersucht: "Hört endlich auf, den Müttern die Schuld zu geben!"

Magersucht: Mädchen kauert auf dem Boden, vor ihr eine Waage
© Photographee.eu / Shutterstock
Mütter stehen auch heute noch am Pranger, wenn ihr Kind magersüchtig wird. Sie müssen sich fragen lassen, was sie falsch gemacht haben,
auch von Therapeuten. Das muss aufhören. Meint jedenfalls unsere Autorin Caroline Wendt*, deren Tochter jahrelang an Magersucht litt.

Seit ihrer Teenagerzeit kämpfte sie mit Anorexie

Unserer Tochter geht es heute gut. Natürlich ist nicht alles Gold, aber sie geht ihren Weg, lebt in einer WG, lässt sich psychologisch beraten - immer wieder mal, so genau weiß ich das gar nicht.

In Berlin hat sie eine richtige Clique, in ihrer Heimatstadt hingegen nur wenige Freunde. Das liegt daran, dass sie so viel in Kliniken war. Die ganze Teenagerzeit hindurch kämpfte sie mit Anorexie. Das war eine schlimme Zeit. Niemand hatte mit der Magersucht gerechnet, obwohl es psychische Störungen sowohl in meiner als auch in der Familie meines Mannes gab.

Unsere Tochter war ein solcher Sonnenschein, energiegeladen, hübsch und schlau. Nur dass sie irgendwann beschloss, dünner sein zu wollen - und merkte, sie konnte das, hungern und dünn werden, so gut, dass sie auf dem Schulhof dafür bewundert wurde. 

Der Schock: 15 Kilo in 15 Wochen

Aber dann, Gott sei Dank, wies sie sich selbst in eine Klinik mit einer Abteilung für Essstörungen ein. Eine Kinderklinik, sie war ja erst 14 Jahre alt. Mein Mann und ich waren so erleichtert, dass sie sich helfen ließ. Und ich war gespannt auf die Familientherapie, die nach vier Wochen erstmalig stattfand. Vielleicht würden wir hier lernen, besser mit Konflikten umzugehen? Denn seit Marie krank war, hatten wir viel Streit.

"Sie sind anspruchsvoll", das war der erste Satz des Familientherapeuten. Wir hatten uns da noch gar nicht gesetzt, und ich fragte mich sogleich: Wie meint er das? Positiv oder negativ? Muss ich etwas dazu sagen? Der Satz irritierte mich.

Im Verlauf stellte sich heraus, dass er meinen Mann und mich als Ursache des ganzen Problems im Verdacht hatte, nein, eigentlich hatte er nur mich im Verdacht. Ich war ihm suspekt, und er fing an, mich zu prüfen. Wie denn unsere Essgewohnheiten seien? Aßen wir regelmäßig als Familie zusammen? Natürlich aßen wir zusammen. Wir liebten unsere Abendessen und die Gespräche dabei. Das ist also kein Problem, merkte er an. Ich sah ihn innerlich ein Häkchen machen. 

Fragen über Fragen - die Suche nach der Schuld für die Magersucht

Waren wir ehrgeizig mit Marie? Was bedeutete Leistung für uns? Marie war gut in der Schule und wir stolz auf sie - war das ein Problem? Wie war Maries Pubertät bisher verlaufen? Gab es Konflikte? Ja, was denken Sie denn, hätte ich da am liebsten gerufen, eine Pubertät ohne Konflikte? Ja, sagte ich etwas kleinmütig, es gab Konflikte, auch zwischen Mutter und Tochter. Die Sache mit dem Konzert, das ich nicht erlaubt hatte. Maries Rückzug daraufhin, ihre manchmal harsche Art mir gegenüber.

War es ein Fehler, das zuzugeben? In dem Deutungszusammenhang, in dem wir inzwischen steckten, wahrscheinlich schon. Der Therapeut machte seine Häkchen - und ich fühlte mich missverstanden und fand zugleich, dass es hier um mich doch gar nicht gehen sollte.

Bei den folgenden Sitzungen war ich heilfroh, dass unser Jüngster zwischen uns herumturnte. Der Fünfjährige war der lebende Beweis dafür, dass unsere Familie nicht komplett gestört war. Einmal sprang auch Marie für mich in die Bresche und sagte, natürlich kann ich mit der Mama reden, und sie hört mir auch zu. Mann, war ich erleichtert! Und bei der Familienaufstellung, die Marie auf Anregung des Therapeuten machen wollte, kam sogar heraus, dass wir alle miteinander verbunden, aber nicht verflochten und schon gar nicht verstrickt waren. 

Wieso musste man das überhaupt prüfen?, frage ich mich bis heute.

Wieso hat man sich nicht auf die akute Erkrankung und deren Therapie konzentriert?

Warum hat man nach Schwächen in der Familie gesucht und nicht deren vorhandene Stärken ausgebaut? Weil man Ursachen finden wollte - und auch ich versuchte ja Gründe für Maries Erkrankung zu finden. Nächtelang befragte ich mich selbst. Was ist falsch gelaufen in Maries Kindheit? Habe ich etwas fundamental verkehrt gemacht mit ihr? Quälende Fragen, aber ich fand keine Antwort, zumindest keine, die der Schwere ihrer Erkrankung entsprochen hätte. Es gab kein Trauma in Maries Leben. Aber die Magersucht war dennoch da.

Du kannst dein Kind lieben und dir alle Mühe mit seiner Erziehung geben,
und genau das solltest du auch tun - und dennoch bist du vor nichts gefeit im Leben.

Einer Mutter im Angesicht ihres verhungernden Kindes zu sagen: Es ist immer die Mutter - das ist vernichtend. Diesen Satz habe ich damals, so um das Jahr 2010 herum, von einer Freundin gehört. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser Satz auch im Kopf des Familientherapeuten herumspukte. Und es heute noch in vielen Köpfen tut. Dabei ist die Wissenschaft inzwischen von der Vorstellung der "Magersuchtfamilie" abgerückt - aber das ahnte ich natürlich nicht.

Man hat mit der Krankheit zu kämpfen - und mit den Vorurteilen

Obwohl ich in der Familientherapieimmer kleiner wurde, versprach ich mir etwas davon, von Sitzung zu Sitzung. Denn ich hätte moralische Unterstützung sowie eine Art Angehörigentraining dringend benötigt. Mein Mann war ebenfalls komplett hilflos und überfordert von der Magersucht. An den Wochenenden, wenn Marie nach Hause durfte, stemmten wir uns mit aller Kraft gegen die Krankheit - und machten Fehler. Auch aus Unwissenheit. Zum Beispiel schaffte ich es nicht, während der Mahlzeiten gelassen zu bleiben, und registrierte jeden Bissen, den sie zu sich nahm. Vor allem natürlich die Bissen, die sie nicht zu sich nahm. Es war zudem ganz falsch, dass wir die Magersucht und Marie monatelang in einen Topf geworfen haben, anstatt die gefährliche Störung von der geliebten Tochter zu trennen. Marie hatte sich die Störung schließlich nicht ausgesucht.

Wenn dein Kind Krebs hätte, dachte ich, hättest du die Unterstützung der Welt. Stattdessen musst du dich mit Vorurteilen auseinandersetzen, auch im Freundeskreis. Dein Mann ist ja beruflich viel unterwegs gewesen. Du bist ja auch schlank. Solche Sätze fielen plötzlich wie nebenbei. Ebenso ist mir das Vorurteil, nach dem Familien, in denen eine Essstörung vorkommt, grundsätzlich ess-­ und kommunikationsgestört sind, öfter begegnet. Dabei fühlte es sich anders an, nämlich so, dass erst die Essstörung große kommunikative Probleme macht. Sie greift massiv ins Familienleben ein und verhärtet die Fronten. 

Als Mutter muss man sich von den Schuldgefühlen lösen

Heute weiß ich, dass es schon vielen Müttern so ergangen ist wie mir. Und immer noch ergeht. Sie sitzen auf der Anklagebank, wenn ihr Kind psychisch erkrankt oder psychische Probleme hat. Sie sind wahlweise zu stark, zu nachlässig, zu ängstlich, zu zwanghaft und immer das Gegenteil von dem, was richtig wäre. Und wenn wir Mütter uns verteidigen oder uns über Unterstellungen aufregen, heißt es: Aha, Sie regen sich also auf. Dann muss wohl was dran sein an meiner Beobachtung.

Kurzum: Die Mütter sind in der Zwickmühle, und die Deutungshoheit der Psychologie ist verdammt unfair. Meine Erfahrung mit unserer Tochter hat mir gezeigt: Du kannst dein Kind lieben und dir alle Mühe mit seiner Erziehung geben - und dennoch bist du vor nichts gefeit im Leben. Du selbst nicht und deine Kinder auch nicht. Du kannst gesund leben - und dennoch Krebs bekommen. Du kannst eine liebevolle Mutter sein - und dein Kind kriegt eine Zwangsstörung oder die Magersucht. Und es dann loszulassen, die Verantwortung für sein Leben an das kranke Kind abzugeben, das war für mich die größte Herausforderung meines Lebens.

Und heute? An meinem Schreibtisch hängt immer noch ein Zettel: Du musst dich nicht rechtfertigen. Ich bin gelassener geworden, bei unseren Kindern kann mich kaum etwas schrecken. Sie können machen, was sie wollen. Hauptsache, sie essen.

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Brigitte WOMAN 08/2018

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