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Sorgen eines Kindes: So fühlt sich Armut in Deutschland an

Die Kinderarmut in Deutschland wächst. Alarmierend findet das Bloggerin Roksana. Sie selbst hat Armut als Kind erlebt - und weiß, wie belastend diese Sorgen sind. Noch über Jahre.

Ich möchte eines vorweg sagen. Mir fiel dieser Beitrag unglaublich schwer. Das hier ist ein Teil meiner Vergangenheit und es ist das bisher persönlichste was ich geschrieben habe. Man liest immer Statisken von Kindern in Armut, die wenigsten Kinder kommen selbst zu Wort. Jetzt da ich selbst Kinder habe, blicke ich häufig zurück auf meine Vergangenheit. Ich sehe vor allem die Liebe meiner Familie, aber auch die nicht so schönen Dinge.

Ich bin ein Scheidungskind. Meine Mutter hat meine beiden Schwestern und mich alleine großgezogen. Meine jüngste Schwester hat allerdings noch ihren Vater, der sich nicht nur finanziell um sie kümmert, sondern noch sehr eng mit meiner Mama und damit mit ihr verbunden ist. Wir anderen beiden, wir haben keinen Vater. Ich habe ihn das letzte Mal gesehen als ich 12 war und seitdem nur noch einmal (er erkannte mich aber nicht, was mir ganz recht war).

Drei Kinder - kein Unterhalt vom Vater

Da mein Vater sich nicht um uns kümmerte und meine Mutter auch keinen Unterhalt für uns bekam, weiß ich aus erster Hand wie es ist, eines dieser Kinder zu sein, die "arm" sind. Arm in diesem Zusammenhang bedeutet das, was man in Deutschland als arm versteht. Wir hatten immer zu essen und immer ein Dach über dem Kopf. Egal, wie klein dieses auch gewesen sein mochte.

Meine Mutter hat immer versucht, es uns nicht spüren zu lassen. Meine Mutter verzichtete auf jeden Luxus, egal, wie winzig er gewesen sein mag, um uns etwas bieten zu können. Ich bekam es dennoch mit.

Zum Monatsende wurde die Stimmung anders

Nicht nur die offensichtlichen Dinge wie keine Markenkleidung oder dass meine Sneaker statt drei nur zwei Streifen hatten, sondern auch, wie zum Monatsende die Stimmung anders wurde. Ich bekam mit, dass sie sich nie etwas Neues zum Anziehen kaufte. Ich bekam mit, wie jedes Jahr zum neuen Schuljahr die Laune bedrückter wurde.

Ich weiß noch, wie ich ein Jahr lang geschenktes Geld von meiner Verwandtschaft sparte, damit ich mir die benötigten Zusatzbücher selbst kaufen konnte und meine Mutter das nicht tun musste. Klassenfahrten waren zwar ein Spaß, aber in Hinterkopf hatte ich immer den Preis und die Frage, ob es okay ist, Spaß zu haben.

Das kaputte Schulbuch bezahlte ich von meinem Gesparten - heimlich

In der Oberschule ruinierte ich einmal ein Buch. Nicht absichtlich, aber natürlich sollte ich es ersetzen. Das Buch kostete 30 Mark. Um meine Mutter nicht noch zusätzlich zu belasten, habe ich ihr nie erzählt, was passiert ist, und bezahlte das Buch von meinem Gesparten.

Damals sind wir gerade nach Neukölln gezogen (unsere erste Wohnung nach Frauenhaus und Zufluchtswohnung), und wir Kinder mussten noch mit der S-Bahn und dem Bus zur Grundschule in Grunewald fahren. Bis zum Schulwechsel dauerte es noch ein paar Wochen, meine Mutter wollte nicht, dass wir Kinder (wieder) mitten im Schuljahr auf eine neue Schule kommen.

Jedenfalls fuhr meine Schwester immer mit mir oder ihren Freunden, die in unserer Nähe wohnten und die wir auch aus dem Frauenhaus kannten. Eines Tages kamen sie und die Nachbarskinder nicht pünktlich nach Hause und ich sollte ihr entgegenfahren, während meine Mutter erst die Polizei informierte und dann mit dem Auto losfuhr, um die Kinder zu suchen.

Mit zehn war ich komplett fertig mit der Welt

In all der Aufregung vergaß ich meine Monatskarte, und es kam, wie es kommen sollte. An der Schule war meine Schwester nicht, und als ich zurückfuhr, kamen Kontrolleure in die Bahn. Ich fing an zu weinen und zu schluchzen, weil ich schwarz fuhr und meine Mutter jetzt auch noch für meine Dummheit bezahlen musste. Die neue Wohnung war kaum eingerichtet, alle Möbel mussten nach und nach gekauft werden und dann passiert mir so etwas.

Irgendwer hat wohl Mitleid mit mir gehabt, denn es passierte nichts. Ich habe nie erfahren, ob der Kontrolleur an mir vorbeigegangen ist oder einer meiner Sitznachbarn für mich einsprang. Ich war komplett fertig mit der Welt. Da war ich zehn.

Die Sorgen von damals prägen mich bis heute

Egal, wie sehr man es versucht, vor den Kindern kann man nicht alles verbergen. Die Armut und die Sorge prägt einen. Ich verstehe bis heute nicht, wie man 60 - 70 Euro für Schuhe ausgeben kann, wenn ich ein ähnliches Modell für die Hälfte bekommen kann. Das gesparte Geld kann man zum Monatsende gebrauchen.

Es ist immer noch so, dass, obwohl ich von meinem verdienten Geld gut leben kann, zum Monatsende hin anders werde. Besorgter. Stiller. Weil es immer so war.

Vor ein paar Tagen stand ich im Netto und habe überlegt, ob ich mir das Häkelbuch für 3,99 Euro kaufen soll oder nicht doch lieber etwas für die Kinder. Ich schlafe auf einer 800 Euro Matratze und frage mich, ob es nicht auch günstiger geht. Jede größere Ausgabe tut mir fast schon körperlich weh, ich frage mich immer, ob es wirklich nötig ist.

Etwas für mich kaufen? Oder doch lieber für die Kinder?

Obwohl ich keine großen Geldsorgen habe, überlege ich dreimal, ob ich etwas für mich kaufe oder doch lieber für die Kinder. Ich habe seit Jahren keine Winterjacke gekauft, weil ich nicht einsehe, wofür ich 200 Euro ausgeben soll, wenn mir in Pullover und Übergangsjacke genau so warm ist.

Ich sehe die jetzigen Kino-Preise und komme auf den Gedanken nicht klar, dass es so viel kostet, sich für 98 Minuten berieseln zu lassen. Wenn mein Freund mich zum Essen ausführt, bestelle ich nie etwas über 10 Euro. Ich kaufe meine Klamotten entweder im Sale oder Second Hand.

Ich wünschte mir nichts zum Geburtstag, weil ich nicht zur Last fallen wollte

Als sich die Situation bei uns entspannte, weil meine Mutter einen besser bezahlten Job gefunden hat und ich später auszog, da war ich richtig glücklich, als ich sah, wie meine Mutter sich endlich mal was gönnte. Oft genug wünschte ich mir zum Geburtstag nichts, weil ich meiner Mutter nicht zur Last fallen wollte.

Es gab aber nicht nur Sorge bei uns. Was meine Mutter geben konnte, gab sie in Hülle und Fülle. Sie hat so viel Liebe zu geben, so viel Fürsorge. Sie ist immer da für mich, für uns. Wenn ich krank bin, kocht sie heute noch Suppe für mich und fährt zu uns um mir mit den Kindern zu helfen.

Im Improvisieren sind wir "dank" unserer Situation ganz groß. Wir reparieren, bevor wir neu kaufen. Ich kann dank ihr alleine Möbel aufbauen, ich weiß, wie ich mit wenig Mitteln etwas gestalten kann. Wir freuen uns über jede noch so kleine Geste. Die Armut hat uns als Familie zusammengeschweißt, hier steht jeder für jeden ein ohne Fragen zu stellen.

Ich bin dankbar. Ich versuche immer, ihr etwas wiederzugeben. Weil sie so lange für uns Kinder verzichtet hat, sind es kleine Dinge im Vergleich zu ihren. Ob ich mit meiner Schwester shoppen gehe oder wenn ich für meine Mutter einkaufen gehe, einfach, weil es für mich jedes mal ein kleines Danke ist.

Geld macht nicht glücklich, aber sorgenfreier

Meine Mutter hat sich nicht ausgesucht, jahrelang mit Geldsorgen zu leben. Sie hat aber das Beste gemacht, was man in der Situation machen kann.

Mag sein, dass Geld nicht glücklich macht, aber es lebt sich wesentlich sorgenfreier, wenn man nicht abends überlegt, welche Rechnung jetzt dringender bezahlt werden muss oder wie teuer ein neuer Schulranzen ist.

Meine Kindheit war nicht einfach, aber ich war größtenteils glücklich.

Armut in Deutschland muss nicht sein!

Wenn ich heute über Kinderarmut in Deutschland lese, in einem der reichsten Länder der Erde, dann werde ich sauer. Denn das müsste nicht sein. Alleinerziehende werden allein gelassen. Die Leidtragenden sind die Kinder.

Auch wenn meine Geschichte harmlos ist im Vergleich zu anderen, ist es meine Geschichte, die mich zutiefst geprägt hat.

Ich musste nie Hunger haben oder frieren. Dass ich damit noch zu den Glücklicheren gehörte, ist mir bewusst.

Text von Roksana Winkler, ursprünglich erschienen auf lottesmotterleben.wordpress.com

Armut in Deutschland: Jedes fünfte Kind betroffen

Deutschland ist ein reiches Land. Trotzdem leben hier laut einer neuen Studie der Bertelsmann Stiftung rund 20 Prozent der Kinder mindestens fünf Jahre lang in Armut. Für weitere zehn Prozent ist Armut zumindest kurzzeitig ein Problem. Alarmierend sei laut der Forscher auch, dass es für die betroffenen Kinder kaum möglich sei, sich aus dieser Armut zu befreien - auch Jahre später noch. Mehr Infos zu der Studie findet ihr hier. 

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