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Schuldgefühle nach Abtreibung: "Ich verachtete meinen Körper"

Schuldgefühle nach Abtreibung: Frau vergräbt Gesicht in der Hand
© Marjan Apostolovic / Shutterstock
Die Entscheidung für eine Abtreibung fiel Nadine, 28, zunächst leicht. Aber dann schlugen die Schuldgefühle mit voller Wucht zu.

Selber schuld!

Wer war die Frau im Spiegel? Anlächeln konnte ich sie nicht. Was sollte sie anziehen? Keine Rüschen oder Farben. Lieber schwarz. So fühlte ich mich. In meinem Kopf dröhnten zwei Worte in Endlosschleife: selbst schuld. Selbst. Schuld. Warum hatte ich meinem jüngeren On-Off-Freund geglaubt, als er mir in jener Nacht ins Ohr flüsterte: Kein Kondom, bitte. Ich komm nicht, ich versprech’s dir. Ich war zu schwach und wurde schwanger. Trotz Pille danach. Ich wusste sofort: Das kann ich nicht.

Das war vor zwei Jahren. Damals wie heute finde ich: Jede Frau hat das Recht zu entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft austragen kann. Sie muss ja sowohl den Körper als auch das ganze Leben dazugeben! Ich hatte doch selbst noch keine Wurzeln geschlagen, im Studium, ohne Einkommen. Mein Bekannter stand mit seiner Mutter vor meiner Tür: Wir wollen das Kind. Wir? Ich konnte mir nicht vorstellen, für den Rest meines Lebens mit dem 22-Jährigen - und seiner Mutter - verbunden zu sein.

Ich verachtete meinen Körper, vernachlässigte Freundschaften und Studium

Nach dem Eingriff war ich erleichtert. Aber nicht lange. Es gelang mir nicht, den Faden meines Lebens wieder aufzunehmen. Warum hatte ich im entscheidenden Moment nicht für mich gesorgt? Ich war wütend auf mich. Fiel in ein tiefes Loch. Alles schien mir grau in grau. Die Marketingprüfung im Sommersemester bestand ich so gerade mit einer Vier plus, wirklich anwesend war ich nicht. Wie machten das Menschen, die sich selbst ritzten? Wäre es eine Erleichterung gewesen, Blut fließen zu sehen? Am liebsten hätte ich mir die Fruchtbarkeit herausgeschnitten. Ich verachtete meinen Körper, der so weiblich reagiert hatte.

Erschreckende Gedanken, die ich von mir nicht kannte. Und immer wieder diese anklagende Endlosschleife in meinem Kopf: selbst schuld. Ich zog mich aus allem heraus, vernachlässigte Freundschaften genauso wie mein Studium, nichts schien mehr Sinn zu machen.

Schließlich drückte mir meine Schwester einen Zettel mit der Nummer einer Therapeutin in die Hand: Melde dich dort, sonst mach ich das. Allein hätte ich den Weg nicht gefunden. Endlich gab es einen Ort, an dem ich meine Selbstzweifel lassen konnte. Die Erfahrungen mit meinem Körper. Mit der Frauenärztin, die mir das Abbruchsmedikament nach einer Stunde noch mal gab - es ging ihr nicht schnell genug.

Der heilsamste Moment kam in einem Gespräch mit meiner Großmutter

Ein wichtiger Satz der Therapeutin war: "Auch Sie haben ein Recht auf Trauer." Menschen sind fehlbar, und das ist in unserer perfektionistischen Welt nicht leicht zu akzeptieren. Ich musste mir verzeihen, dem Schmerz Raum geben. Ich fand ein Abschiedsritual für die Seele, der ich keine Heimat geben konnte - weil ich sie erst für mich finden musste.

Dass ich in jenem Moment im Bett schwach gewesen war, das kristallisierte sich für mich zum Lebensthema heraus: Wie geht das, besser für mich einstehen, für mich selbst sorgen? Lange Gänge durch den Wald gaben mir wieder Boden unter den Füßen, mein Blick hob sich. Ich nahm mein Leben wieder in Angriff , begriff mein Studium wieder als Chance, sah Land. Aber der heilsamste Moment kam bei einem Gespräch mit meiner Großmutter. Sie sagte plötzlich: Weißt du, ich habe das auch erlebt. Anfang der Sechziger. Der Mann war verheiratet, aus demselben Dorf, ein Skandal wäre das gewesen. Sie fuhr damals zum Abbruch mutterseelenallein nach Holland. Wir lagen uns heulend in den Armen und fühlten uns einander so nah wie nie zuvor.

Wenn ich heute auf Partys Leute treffe, die über Schwangerschaftsabbrüche urteilen, mit Sätzen wie: "Wie kann das heute noch passieren?", schnürt es mir den Hals zu. So einfach ist das Leben nicht. Vielleicht war das die wichtigste Lektion dieser schweren Zeit: mitfühlend sein, sich selbst und anderen gegenüber. Nicht vorschnell urteilen, über andere und über sich selbst.

BRIGITTE 04/2019

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