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Rabea Edel "Während der Geburt berührt jede Frau den Tod"

Frau liegt auf dem Sofa mit Baby im Arm
© Rabea Edel
Die Geburt eines Kindes ist auch die Geburt einer Mutter. Ihr Körper trägt ein zweites Herz. Wenn dieses plötzlich außerhalb des Körpers schlägt, verändert sich alles: Die Fotografin und Schriftstellerin Rabea Edel erzählt hier von einer Frau, die sich nach der Geburt ihres Kindes komplett zurückzieht und ihr Zuhause nicht mehr verlässt. Ein selbst auferlegter Lockdown sozusagen. Drei Jahre ist das Haus Schutzraum und Kokon zugleich, bis die Mutter – Schritt für Schritt – den Weg hinausfindet.
Frau schaut in den Spiegel
© Rabea Edel

Das Kind wirft sich nach hinten, bäumt sich auf, als müsste es seinen winzigen neugeborenen Körper gegen die ganze Welt stemmen, dann lässt es sich mit ausgebreiteten Armen rückwärts fallen, in die Leere hinein. Das Geräusch meines Blutes fehlt, das des Fruchtwassers und des Herzschlags. Stattdessen ist da zu viel Luft ringsum und die Schwerkraft. Ich liege auf dem Bett neben ihm. Mein Körper ist von der Hüfte abwärts taub. Ich bäume mich auf, drücke den Rücken durch, ein stechender Schmerz zieht durch die frische Wunde, ich lasse mich mit geschlossenen Augen fallen. Eine kurze Schrecksekunde.

Dann das zu weiche Kissen, in das ich einsinke. Es ist der heißeste Tag des Jahres. Das Gewitter hängt über den Weinbergen fest, Wetterleuchten, irgendwann Glockengeläut im Tal.

Der Regen kommt spät in der Nacht. Der Herzmuskel in mir, der für den Bruchteil einer Sekunde zusammenzuckt, weil das Gegenstück fehlt, stolpert und schlägt weiter. Er passt den Takt an die Leere in Brustkorb und Bauchraum an. Die Nachgeburt ist schon im Garten vergraben. Das zweite Herz hat sich einen Körper angezogen, es schaut mich an, versucht zu fokussieren, wirft sich immer wieder rückwärts in die Leere hinein. Ich schiebe meine Hand unter den Kopf, eierschalendünn passt er genau hinein, die Fontanelle pocht. 

Frau steht am Fenster
© Rabea Edel

Ab jetzt bin ich nie wieder alleine

Die ersten Tage und Nächte lasse ich das Kind auf mir schlafen. Ich öffne die Tür nicht, wenn es klingelt. Ich halte es im Arm, bis es den Raum fühlen kann, der sich bis in die Nacht biegt und zurück in den Morgen, der auf wenige Meter zusammenschnurrt – die Gewissheit, ab jetzt nie wieder allein zu sein. Ein Kind sortiert die Sternbilder neu. Alle sicher geglaubten Koordinaten verschieben sich. Der Mond dreht sich um die Sonne. Die Erde steht still. Oder: So schief auf der Achse nehme ich ihre Bewegungen nicht mehr wahr.

Schere im Waschbecken
© Rabea Edel

Ich finde mich an einem Ort wieder, den es zuvor nicht gab und den niemand außer uns betreten kann. Ich merke, wie das Haus unsichtbar wird, wenn jemand vorbeiläuft, ein Hologramm, es flackert, verschwindet, ein Loch in der Matrix, nur die Wiese bleibt, die Rose unten am Weg und die Bäume, die das plötzlich unbehauste Grundstück umzäunen. Nachtfalter, die sich aus der Wahrheit des Bildes fallen lassen: Tagnachtzeiten gleichen sich an. Sobald die Straße wieder leer ist, glimmt das Haus wieder auf, verfestigt sich, steht dort, als wäre nichts gewesen, darin wir, in blaues Licht getaucht, ein wenig durchscheinend noch.

Etwas ist verloren gegangen, etwas anderes hat sich eingeschlichen.

Das Kind trinkt mich auf

Die linea negra ist noch nicht verblasst, und ich bilde mir ein, dass sie entgegen aller Vernunft dunkler wird. Auf der Haut meines Kindes zieht sich ein Streifen über den Rücken, ein wässriges Blau, kaum zu sehen, eine Druckstelle vielleicht. 

Frau liegt auf Sofa
© Rabea Edel

Was ich weiß, ist: Wir sind eine Kreatur, ein Ort, ein Resonanzraum. Sein Weinen hallt in mir nach, sein Lachen schwingt in meinem Körper, der sich fortwährend anpasst. Ich schrumpfe, die Gebärmutter zieht sich zusammen, alle Organe schieben sich zurück an ihren Platz. Während das Kind wächst, ändert sich die Zusammensetzung meines Blutes. Die Person, die Ich ist und die nicht mehr mein Körper ist, die außerhalb von ihm existiert. Wenn das Kind an der Brust trinkt, verknüpfen sich unsere Gehirnströme, synchronisieren sich.

Die ersten Tage durchnässt die Milch meine Kleidung, ich trage den immer selben Kimono, ich schwitze, ich betrachte die Kleider, die im Schrank hängen oder auf dem Boden liegen, abgeworfene Schlangenhäute, die Person, die ich einmal war. Das Kind trinkt mich auf.

Überall Gefahr

Frau sitzt vorm Spiegel
© Rabea Edel

In den Ecken der Zimmer sitzen gebändigte Tiere, den Kopf auf die Pfoten gelegt beobachten sie uns mit zusammengekniffenen Augen. Draußen bin ich ihnen ausgeliefert. Verlasse ich das Haus und stehe alleine auf der Wiese im Garten, fühle ich mich völlig ungeschützt. Nicht einmal bis zum Nussbaum kann ich laufen. Bis zur Rose und wieder zurück. Zu weit ist der Himmel über mir, zu entfernt bin ich von dem winzigen Körper, der oben im Bettchen liegt und mit den Armen rudert.

Ich sehe der Amsel zu, die den zweiten Sommer ihr Nest in einem der Sträucher am Rand der Wiese baut, wie eifrig sie Zweige sammelt und Moos aus dem Rasen pickt. Die Elstern warnen vor den umherstreunenden Katzen. Ihr lautes Keckern entlang der Katzenspur wandert von Baum zu Baum, die Gefahr ist überall.

Ich renne hinein, das Kind schläft, es hat sich nicht bewegt, ich halte mein Ohr an seinen Mund.

Kein Zurück mehr

Haut an Haut wird es dunkel. Schlafwarm liegt ein Vögelchen in meiner Hand, zuckt mit den Füßen.

Während der Geburt berührt jede Frau den Tod, wenn auch nur für wenige Sekunden. Der Kontrollverlust setzt noch früher ein: Auf dem Ultraschall greift eine Hand nach meiner Hand, die auf meinem Bauch liegt. Das orangefarbene Bild verschwimmt. Ich tauche unter Wasser, lasse die Luft aus den Lungen. Tauche auf.

Selbst unter Wasser würde ich das Weinen hören. Für wenige Sekunden nur ist der Körper leicht und schwebend, ich atme so lange aus, wie ich kann. Die Narbe am unteren Bauch schmerzt im Wasser nicht mehr. 

Eierschalen
© Rabea Edel

Ich träume und weiß, dass ich träume, auf dem Weg von einem Ich zu einem anderen, aber das Zurück gibt es nicht mehr. Ich wache nicht auf.

Tag für Tag, Woche für Woche

Die Fasern des Traums verweben sich mit dem Tag, manchmal gleichen sich Situationen: das Geräusch eines vorüberfahrenden Autos auf der Straße, wie ich zwei Wochen nach der Geburt am Herd stehe und koche, wie ich irgendetwas esse und nichts dabei schmecke, während das Kind schläft Bestellungen über das Telefon an den Lebensmittelladen durchgebe, wie ich neben dem Gitterbett auf dem Boden einschlafe und davon träume, zu schlafen und aufzuwachen, so wie ich später den einsetzenden Schnee hören kann, der sich auf die Landschaft legt und der uns, das Haus und alles darin zudeckt.

Versatzstücke von Geschichten, die wir bereits erlebt haben, vor uns, als kämen wir immer und immer wieder zusammen nach Hause.

Ab jetzt gibt es jederzeit die Möglichkeit, dass etwas Schlimmes passieren könnte. Ab jetzt kann ich den warmen Schweiß im Nacken des Kindes mit den Fingerspitzen auftupfen, kann über Haut pustend Wunden heilen und den Zeitpunkt des eigenen Todes verschieben, weil ich es muss, weil er ab jetzt unmöglich sein wird. Ich hatte nie Angst vor dem Tod, ich habe nie an ihn gedacht.

Manchmal schaut der Fuchs vorbei

Kind liegt auf Mutter
© Rabea Edel

Mit der Geburt des Kindes ist er überall. Das glimmende, warme Gefühl gebraucht zu werden, nicht gehen zu dürfen, nicht jetzt und nie wieder. Und zugleich die Freiheit gehen zu können, falls ich jemals wieder alleine wäre. Die Gewissheit darum und die Angst davor. Ich puste über die geschlossenen Augenlider – das Kind lächelt im Schlaf und greift nach etwas Unsichtbarem.

Das Licht ändert sich. Das Kind wächst, ich sehe ihm zu. Das spitze Gras unter seinen Füßen, ich stehe auf dem Balkon, die Schatten wandern weiter, von links nach rechts, es wird kälter, irgendwann färben die Blätter sich rot, dann braun, die Rose verliert ihre Farben, Eichhörnchen, Elstern, manchmal schaut der Fuchs vorbei.

An Tagen mit Regen schieben sich die Weinbergschnecken träge die Steinplatten hinauf. Alles blüht, verblüht, fällt ab, wächst nach. Ich mache Kerben in die Türleiste mit dem Messer, schon kann das Kind stehen, ohne umzufallen. Ich gehe von Raum zu Raum, Hand in Hand, von Zimmer zu Zimmer, von oben nach unten.

Kein Schlaf

Ab und zu stehe ich vor dem Haus auf der Straße und der weite Raum ringsum überwältigt mich. Nach allen Seiten Luft, reflexartig will ich mich aufbäumen und nach hinten fallen lassen, um den Boden zu finden, irgendetwas Hartes, das mich begrenzt.

Nachts höre ich auf den Atem. Nur darauf. Den des Kindes. Ich kann nicht schlafen. Ich kann nicht schlafen. Ich kann nicht. Ich höre nur auf den Atem.

Die Amselmutter sitzt auf dem Nest und brütet.

Die Nachbarin geht mit dem Kind spazieren.

Routine. Aufwachen. Warten. Stillen. Trösten. Anziehen. Vorsingen. Tragen. Spielen. Mittagessen. Stillen. Schlafen. Stillen. Schlafen. Wach. Spielen. Wach. Spielen. Frühstücken. Füttern. Schlafen. Vorlesen. Lachen. Warten. Ausziehen. Weinen. Waschen. Aufstehen. 

Mutter trägt Kind auf Schultern
© Rabea Edel

Einen Schritt und noch einen

Dann ziehe ich den Fellmantel über, ein Wolfsfell, mitten im Sommer. Das Kind läuft im Garten in Brennnesseln und nichts passiert. Ich ziehe das Fell fester um mich. Kurz erscheinen rote Pusteln auf der glatten weißen Haut, die wieder verschwinden.

Ich war im Bauch meiner Mutter, als sie im Bauch ihrer Mutter war, und immer so weiter. Ich finde mich nicht mehr zurecht. Das Haus speichert die Geschichten. Es summt und vibriert, das Holz arbeitet, knackt, verschiebt sich.

An manchen Tagen halte ich eine Muschel an das Ohr des Kindes und erzähle ihm vom Meer. Das Rauschen in der gedrechselten Hülle aus Kalk. Es ist nur ein Trick, den das Ohr dir spielt, das ist dein eigenes Blut, das da rauscht, sage ich. Die Muschel lässt es lauter klingen, so wie ein Stethoskop den Herzschlag hören lässt. Aber vielleicht hörst du auch das Meer, weil die Muschel sich an ihr Zuhause erinnert, an den Ort, von dem sie kommt. Das Kind liegt mit dem Kopf auf meinem Bauch, nickt. Vielleicht erinnert sich sein Körper an den Ort, von dem er kam. Vielleicht erinnert sich mein Körper an das Meer, an das Rauschen des Blutes darin, an die Stille, wenn die Wellen sich zurückziehen und den Strand freifegen.

Ich habe uns 41 Wochen, 2 Jahre und 8 Monate in die Welt gebracht. Die Welt ist ein Kokon, eine warme pulsierende Höhle, ein Haus, ein Garten, eine Straße, ein Dorf, ein Berg, eine Gewissheit, in der ich aufstehe, mein Kind auf meine Schultern setze und einen Schritt ins Dunkle hinein mache, das sich im Morgengrauen bereits aufzulösen beginnt, einen Schritt und noch einen.

Rabea Edel (geboren 1982 in Bremerhaven) ist Schriftstellerin und Absolventin der Ostkreuzschule für Fotografie in Berlin. In ihrem künstlerischen Fotoband "A Second Beating Heart" (104 S., 35 Euro, SHIFT BOOKS) findet sie Bilder für "die Geburt einer Mutter". Die Fotos sind sorgfältig inszeniert und fangen die widersprüchlichen Gefühle nach der Geburt eines Kindes ein. Und so macht sich Rabea Edels autofiktionale Figur am Ende des Buches vorsichtig mit dem Nachwuchs auf den Weg ins Außen. "Einen Schritt und noch einen."

Brigitte

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