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Pflegekind Susanne hatte fünf Kinder, als sie Daniel bei sich aufnahm

Pflegekind: Hände halten die ausgeschnittenen Silhouetten einer Familie aus Papier
© SewcreamStudio / Adobe Stock
Susanne Mohnsen hatte bereits fünf Kinder, als sie beschloss, ein Pflegekind aufzunehmen. Was dann geschah, erzählt sie hier.

Ein großes Foto von einem kleinen Jungen mit traurigem, verlorenem Blick, einer Träne im Augenwinkel und einem verlotterten Teddy unterm Arm. Das Bild klebte an einer Litfasssäule, darunter die Aufschrift: "Pflegefamilien gesucht." Das Bild berührte mich zutiefst. Ich notierte die angegebene Nummer. Der Aufruf ließ mich nicht los. So fing alles an.

Ein fremdes Kind in der Familie? Aus einem sozialen Brennpunkt der Stadt? Die meisten Menschen aus meinem Umfeld zeigten kein Verständnis für meine Idee, ein Pflegekind aufzunehmen. Auch meine Familie hielt die Idee für vollkommen absurd. Fünf Kinder. Alleinerziehend. Zwei Pflegefälle im engeren Familienkreis.

Trotz aller Bedenken rief ich bei der Nummer an. Meine Kinder waren damals, wie man so schön sagt, aus dem Gröbsten raus, die Großen studierten bereits. Ich hatte Platz, ein großes Haus, ein offenes Herz und alles, was so ein Kind brauchte.

Die Vorbereitung beginnt

In den kommenden Monaten absolvierte ich Seminare, empfing Hausbesuche des Jugendamts, führte Interviews, bestand Gesundheitstests – kurz: erfüllte alle erforderlichen Auflagen. Die größte jedoch war das Warten. Jahre vergingen – in denen ich immer wieder von schrecklichen Vorfällen in der Presse las. Von Jessica, Chantal, Tayler. Verhungert, misshandelt, unterernährt. Vorfälle, die, wie sich später herausstellte, vermeidbar gewesen wären, wenn die Behörden rechtzeitig und angemessen reagiert hätten. Und ich bekam kein Pflegekind. Wie konnte das sein? Auf meine Nachfragen beim Jugendamt erhielt ich selten eine Antwort. Niemand schien sich zuständig zu fühlen. Unterbesetzt. Überlastet. Urlaub, Krankheit. Burnout. Kur. Ich verstand es nicht!

Im Oktober 2012 kam schließlich der Anruf: Es gebe da einen siebenjährigen Jungen, für den man eine liebevolle Familie suche.

So kam Daniel zu uns. Ungepflegt. Zahnlos. Kahlgeschoren. Abweisend. Mir ging, muss ich gestehen, nicht unbedingt das Herz auf vor Sympathie. Meinen beiden Söhnen, die noch zu Hause lebten, noch viel weniger. Es war nicht klar, ob er überhaupt normal beschulbar war. Zweifel keimten auf. War ich dem überhaupt gewachsen? Was hatte er alles erlebt? Ich war keine Pädagogin, auch keine Psychologin. Doch ich sagte mir: Mit Geduld, Verständnis und Liebe kriegen wir das hin. Das Projekt Pflegekind begann.

Darüber hatte mich niemand informiert

Innerhalb kürzester Zeit zeigte sich, dass Daniel stark verhaltensauffällig war. Rast- und ruhelos, übersprunghaft in seinen Handlungen, distanzlos und schwer zu bändigen. Mal zündete er im Haus alle Kerzen an, mal schlug er mit einem Hammer die Treppenkanten ab, mal hüpfte er auf der Kühlerhaube unseres Autos auf und ab, bis sie komplett zerbeult war. Über seine Verhaltensauffälligkeiten hatte mich niemand informiert. Es war kaum möglich, mit ihm einkaufen zu gehen oder gar einen Ausflug zu machen.

Der Satz, den ich in dieser Zeit am meisten hörte, war: "Können Sie vielleicht mal auf Ihr Kind aufpassen?" Ich weiß nicht, wie oft ich mit hochrotem Kopf Geschäfte verließ, Daniel hinter mir herziehend, denn er ließ sich nicht an die Hand nehmen, überhaupt kaum Berührungen zu. In den Gesichtern der anderen konnte ich lesen, was sie dachten: Ist die Frau nicht in der Lage, ihr Kind zu bändigen? Die Antwort ist: Nein. Ich war es tatsächlich nicht.

Am schlimmsten war es, wenn Daniel nach mir schlug und brüllte: "Du bist nicht meine Mutter! Du hast mir gar nichts zu sagen!" Dann guckten WIRKLICH alle.

Wie geht es weiter?

Ich war verzweifelt, meine Familie komplett entnervt. Auch die Lehrer sahen sich am Ende ihrer Möglichkeiten. So konnte es nicht weitergehen. Ich schimpfte und brüllte nur noch mit Daniel. Dabei wollte und sollte ich dem armen Kerl doch nur Liebe und Zuwendung geben! Wir brauchten Hilfe. Ich rief das Jugendamt an. Die Antwort: "Sie wussten, dass das kein Spaziergang wird!" Erst nach unzähligen Telefonaten und E-Mails bekam ich die Zusage für eine Schulbegleitung und ein Au-pair. Das tägliche Leben wurde damit etwas entspannter. Einige Lehrer hätten ihn am liebsten auf eine Förderschule geschickt. Doch bei allem Ärger konnten auch sie nicht umhin, etwas zu bemerken: seine auffallend hohe Intelligenz. Dass wir sie durch entsprechende Tests nachweisen konnten, ermöglichte den Verbleib auf der Schule.

Es geschahen aber auch schöne Dinge: ein erstes richtiges Weihnachtsfest. Ein erster Urlaub. Ein erster richtiger Geburtstag. Mit Kuchen, Kerzen, Geschenken. Am Abend war Daniel so gerührt, dass ich versuchte, ihn ganz vorsichtig zu umarmen. Er ließ es zu. "Das war der schönste Tag in meinem Leben", sagte er. Ich sah ihn an. Er hatte sich optisch verändert seit unserem ersten Treffen. Die neuen Zähne waren sichtbar, die Haare länger, der Blick offener. Solche Momente machten alle anderen wieder wett. Insgesamt war Daniel ein fröhliches und erstaunlich empathisches Kind. Wenn er sich freute, sprang er wie ein kleines Fohlen durchs Haus. Machte einen Hüpfer über unseren schlafenden Hund und platzte vor Lebensfreude. "Hallöööchen!" Das war sein Begrüßungsruf, wo immer er hinkam.

"Warum kann meine Mutter nicht so sein wie du?", fragte er mich einmal. "Vermutlich ist in ihrer eigenen Kindheit einiges schiefgegangen", versuchte ich ihm zu erklären. "Deshalb hat sie nicht gelernt, sich um ihre eigenen Kinder zu kümmern." Ich wollte seine Mutter nicht schlechtmachen. Das Verhältnis zu den Eltern ist archaisch. Alle Kinder wollen ihre Eltern lieben. Egal, was vorgefallen ist. Daniels Mutter war in der Zwischenzeit aufgrund von Vernachlässigung, Verwahrlosung, häuslicher Gewalt und Kindesmisshandlung das Sorgerecht und die Erziehungsfähigkeit entzogen worden.

Der lange Weg zum normalen Alltag

Sauberkeit, Ehrlichkeit, Regeln, Achtung, Pünktlichkeit, Verantwortung – all das hatte ihm niemand beigebracht. Er hatte überhaupt kein Gefühl für Moral und Wertigkeit. Er war schlicht nicht erzogen worden. Dafür hatte er eigene Methoden entwickelt, um sich selbst zu helfen: Er log, ohne mit der Wimper zu zucken, vertraute keinem außer sich selbst und hortete Essen – für schlechte Zeiten. Einmal erschrak ich über eine vermeintlich tote Ratte in seinem Kleiderschrank. Dabei war es nur eine bis zur Unkenntlichkeit verschimmelte Banane in einem Nebel aus Fruchtfliegen.

Ich meldete ihn bei Sportvereinen an – damit er seine Energie dort rauslassen würde. Das tat er auch. Allerdings so intensiv, dass er meist nach wenigen Wochen nicht mehr weiter teilnehmen durfte. Ich schleppte ihn zum Augen- und Hörtest. Vielleicht konnte er uns einfach nicht gut hören oder sehen? Doch die Ursache für sein Verhalten war eine andere: Er war traumatisiert. Er brauchte therapeutische Hilfe. Und ich auch. Oft wusste ich nicht, wie ich mich richtig verhalten sollte. Wie ich auf seine Ausfälle reagieren sollte. Gesunder Menschenverstand und Lebenserfahrung reichten nicht aus. Daniel verhielt sich immer anders als erwartet.

Mit der Therapie stellten sich erste Erfolge ein. Er machte drei Entwicklungsschritte nach vorn. Kurzes Aufatmen. Und wieder zwei Schritte zurück. So lief das meistens. Immer wieder fiel er in alte erlernte Verhaltensmechanismen. Es war mühsam, aber mir wurde bewusst: Nach allem, was er in seiner frühen Kindheit erleben musste, hätte er noch viel schwerere Verhaltensauffälligkeiten zeigen können.

Aufgeben kam nicht infrage

"Wie hältst du das nur durch?", wurde ich oft gefragt. Ich glaube, aus einem einfachen Grund: Aufgeben, ihn "zurückgeben", kam für mich nicht infrage. Das hätte bedeutet, dass er in ein Kinderheim gemusst hätte. Oder dorthin, wo er herkam. Unvorstellbar.

Von den eigenen Eltern getrennt zu werden, weil diese unfähig sind, ihr Kind zu versorgen, bleibt eine lebenslange Wunde. Was solche Kinder in der frühkindlichen Prägungsphase erlebt haben, ist häufig ein lebenslanger, kaum zu reparierender Schaden. Doch Daniel hatte Glück: Er hatte Menschen um sich, die an ihn glauben. Seine Klassenlehrerin – und wir, seine Familie. Er, das unbeschulbare Kind, erhielt schließlich eine Gymnasialempfehlung. Und einen Platz an der Kinder-Mathe-Universität. Er hält Vorträge vor 300 Schülern in der Aula, schlägt Erwachsene beim Schachspiel und kann die verzwicktesten Computerprobleme lösen. Nie hadert er mit seinem Schicksal. Er verfügt über eine hohe Resilienz.

Heute besucht er die elfte Klasse seines Gymnasiums und hat gute Chancen, das Abitur zu bestehen. Manchmal, wenn ich abends zu Bett gehe, an Daniels Zimmer vorbeikomme und ihm gute Nacht zurufe, denke ich immer noch: "Meine Güte, du hast das tatsächlich gemacht! Ein fremdes Kind aufgenommen!" Es gibt auch nach zehn Jahren noch Situationen, in denen sich das fast unwirklich anfühlt. Andererseits ist er mir so vertraut und gehört so sehr zu uns, dass ich mir ein Leben ohne ihn gar nicht mehr vorstellen kann. Er hat unglaublich viel gelernt. Und ich auch. Es war hart. Für alle. Aber es hat sich gelohnt. Wie es weitergeht? Es bleibt spannend. Und wir bleiben an seiner Seite.

Die Aufnahme eines Pflegekindes

Die Regelungen sind in jedem Bundesland anders. Grundsätzlich gilt: Die emotionale und finanzielle Stabilität für das Kind muss gesichert sein. Verpflichtende Voraussetzungen sind: ein Seminar auf der Pflegeelternschule, ein Gesundheits- sowie ein erweitertes Führungszeugnis, ein negativer Drogentest, ein Interview mit dem Jugendamt, ein eigenes Zimmer für das Kind, man darf nicht älter als 63 Jahre sein, u. U. kann man, v. a. anfangs, nicht arbeiten. Auch Alleinstehende, Homo- und Transsexuelle und in Wohngemeinschaften Lebende sind möglich. Das Pflegegeld beträgt ca. 700 bis 800 Euro monatlich. Pflegekinder können ggf. jederzeit wieder in ihre Herkunftsfamilie zurückgeführt werden.

Buchtipp: Susanne Mohnsen, In Obhut genommen. Die Geschichte einer Pflegschaft, 230 Seiten, 19,95 Euro, Tredition. Infos: in-obhut-genommen.de

Brigitte

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