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Muttertät Was mir niemand über Mutterschaft sagte

Rückbildung: Eine junge Mutter hat ein Baby auf dem Arm
© Jacob Lund / Adobe Stock
Rückbildung – soll das ernsthaft die Beschreibung dafür sein, was nach der Geburt im Körper der Mutter passiert? Für die "Erdplattenverschiebung", die auch Gehirn und Psyche fundamental verändert, gibt es eine andere Erklärung: Das ist die Muttertät!

Nach der Geburt war ich mehr als meine Gebärmutter. Ich war meine geschwollenen Gliedmaßen, meine pochende Narbe, ich war die weiche, wellige Haut meines Bauchs, eine körperliche Konsistenz, die ich noch nie zuvor gespürt oder berührt hatte, ich war das Nichts, das sie umschloss, das Nichts, in dem mal ein ganzer Mensch gewohnt, der mir so vertraut gewesen und jetzt völlig fremd war. Ich war das Blut, das pausenlos aus meiner Vagina rann, die handballengroßen, blutigen Klumpen, ich war meine Brüste, meine riesigen, schweren Brüste, und die wunden Brustwarzen. Ich war die vor Anspannung hochgezogenen Schultern, ich war mein schmerzender Rücken, ich war ein nach vorne gebeugter, gebrochener Gang. Da war so viel mehr körperliche Veränderung, so viel körperliche Sensation, von der ich vorher nicht gewusst hatte, aber von der ich ahnte, dass sie sich nicht in sechs und auch nicht in acht Wochen zurückbilden, sondern bleiben würde, vielleicht Jahre, vielleicht für immer.

An mir war so viel mehr wund als nur meine Gebärmutter. An mir war so viel mehr Körper als nur meine Gebärmutter – aber vor allem war ich mehr als nur mein Körper. Es ging nicht nur darum, Dinge zurückzubilden. Ich wollte vor allem ordnen und begreifen können, was im Begriff war, sich in mir neu auszubilden.

Es machte mich fassungslos, wie sehr ich von all diesen Veränderungen, die ich nicht benennen konnte, überwältigt wurde. Und ich verstand nicht, wieso mich niemand darauf vorbereitet hatte! "Warum hat uns das niemand vorher gesagt?" ist ein Gedanke, den viele junge Mütter teilen.

Mütter unter sich: Der wissende Blick

Plötzlich sahen mich Freundinnen und Bekannte, die schon vor mir Kinder geboren hatten, anders an. Wissender, irgendwie. Als wären wir alle einem Geheimbund beigetreten. Einmal fragte mich F., die ihr zweites Kind drei Monate nach mir bekommen hatte: "Es ist echt krass, oder?" Ich brauchte nur zu nicken – und dann fingen wir beide an zu weinen.

Überhaupt gibt es diesen Blick, den ich mir, gerade im ersten Jahr meiner Mutterschaft, nur mit anderen Müttern zugeworfen habe. Wenn wir unsere Kinderwagen aneinander vorbeigeschoben oder an der Supermarktkasse unsere schreienden Babys in der Trage beruhigt haben. Es waren die verständnisvollsten, mitfühlendsten und gleichzeitig ohnmächtigsten Blicke, die ich in dieser Zeit bekommen habe.

Ich war die weiche, wellige Haut meines Bauches. Das Nichts, das sie umschloss

Der Tarnumhang der Sprachlosigkeit, der über dem Wochenbett liegt, hat aber nicht nur mit gesellschaftlichen Tabus und akuten Wortfindungsschwierigkeiten übermüdeter Wöchner:innen zu tun. Er ist auch aus all jenem Wissen gewebt, das es noch gar nicht gibt. Im Herbst 2019, als ich mein Kind gebar, gab es, zumindest im Deutschen, bestimmte Wörter noch nicht, die ich gebraucht hätte, um mein Erleben zu beschreiben – und die mein Gegenüber gebraucht hätte, um mich zu verstehen.

Ist etwas falsch mit mir?

Weil niemand in meinem Umfeld zu verstehen schien, was genau mich so sehr beschäftigte, dachte auch ich, es wäre etwas Grundlegendes falsch mit mir. Und so wurde aus einer anfänglichen Überforderung und dem Gefühl, selbst nicht so genau zu verstehen, was da eigentlich gerade mit mir passierte, etwas, das meine Gynäkologin einige Monate später als "postpartale Anpassungsstörung" diagnostizierte.

Etwa anderthalb Jahre nach der Geburt meines Kindes, als sich die Erdplattenverschiebung in mir langsam beruhigt hatte und ich anfing, mich an meine neue Landschaft zu gewöhnen, stieß ich beim Scrollen durch das Internet zufällig auf den Begriff "Muttertät". Und noch bevor ich erfassen konnte, in welchem Kontext dieser Begriff dort auftauchte, und obwohl ich ihn noch nie zuvor gelesen oder gehört hatte, wusste ich, was er meinte. Vor Erleichterung fing ich zu weinen an. Ich hatte endlich ein Wort für das gefunden, was mich so viele Monate verwirrt und auch verängstigt hatte. Es war nichts falsch mit mir. Und ich hatte mir auch nichts eingebildet.

Der Begriff "Muttertät" setzt sich zusammen aus den Wörtern "Mutter" und "Pubertät". Er beschreibt die Phase im Leben einer werdenden Mutter, in der sich hormonelle, neurologische, körperliche und emotionale Veränderungen ähnlichen Umfangs wie in der Pubertät vollziehen – nur in wesentlich kürzerer Zeit. Diese Veränderungen beginnen mit dem bewussten Kinderwunsch, spätestens jedoch mit der Schwangerschaft, und können bis zu zwei Jahren andauern.

Muttertät: So viel mehr als Rückbildung

"Muttertät" ist eine Wortneuschöpfung der Doulas und Schwestern Natalia Lamotte und Sarah Galan. Im März 2021 veröffentlichten sie ihre Gedanken erstmals auf ihrer Instagram-Seite @schwesterherzen.doulas in einem Beitrag. Darin heißt es: "Das Wissen über und der bewusste Umgang mit den bevorstehenden Herausforderungen des Mutterwerdens und eine liebevolle Begleitung kann Frauen entlasten und möglichen Schuld- oder Negativgefühlen vorbeugen." Der Beitrag hatte mein Interesse geweckt, und weil ich ansonsten kaum weiterführende Informationen dazu fand, fragte ich Lamotte und Galan für ein Interview an. In einem Videocall erzählten sie mir, dass auch ihnen im Zuge ihrer Arbeit dieser Konflikt, dieses Problem ohne Namen aufgefallen war. Während sie Wöchner:innen in der Zeit nach der Geburt begleiteten, begegnete es ihnen in unterschiedlichen Ausprägungen: mal als leises Zweifeln einer Mutter, die flüsternd feststellte, dass sie für das Muttersein wohl doch nicht so geeignet war wie angenommen. Mal waren es starke Gefühlsschwankungen sehr ambivalenter Emotionen, mal war es die Scham darüber, nicht richtig zu funktionieren. Also begannen Lamotte und Galan, Nachforschungen anzustellen.

Muttertät: ein vulnerabler Lebensabschnitt, der sich über mehrere Jahre hinziehen kann

Sie stießen auf die US-amerikanische Anthropologin Dana Raphael, die schon in den Siebzigerjahren ähnliche Beobachtungen gemacht und für sich entsprechend ausgewertet hatte. Sie erfand den Begriff matrescence, um zu markieren, dass Mutterwerden kein mehrstündiges Event ist, das bereits an der Kreißsaaltür endet. Sondern ein äußerst vulnerabler Lebensabschnitt, der sich über mehrere Jahre hinziehen kann. Raphaels Erkenntnisse fanden jedoch damals keine Resonanz und gerieten in Vergessenheit. Bis sich Anfang der Nullerjahre in den USA Forscher:innen der Reproduktionspsychologie für genau jene Phase zu interessieren begannen, für die Raphael bereits einen Namen gefunden hatte.

2008 wurde dieser von der Psychologin Dr. Aurélie Athan wiederentdeckt. Sie gründete ein eigenes Labor, um matrescence zu erforschen und leitet mittlerweile an der Columbia University ein Studienfach, in dem sie ihre Erkenntnisse weitergibt (matrescence.com). So hat sie unter anderem herausgefunden, dass Muttertät alle Menschen betrifft, die schwanger waren, geboren haben, Leihmutter gewesen sind oder ihr Kind durch Adoption bekommen haben. Laut Dr. Athan erlebten all jene Menschen "eine Beschleunigung in verschiedenen Bereichen, die für jeden Entwicklungsschub gilt: biologisch-psychologisch-sozial-kulturell-spirituell".

Eine Schwangerschaft ändert alles

Muttertät ist nicht nur ein psychologisches Phänomen. Die Verwandlung zur Mutter wird mittlerweile auch von Neurowissenschaftler:innen erforscht. So wies die Niederländerin Elseline Hoekzema mittels verschiedener Hirnscans nach, dass sich die Gehirnstruktur von Menschen, die durch Schwangerschaft und Geburt gehen, dauerhaft verändert. Sie verglich ihre Aufnahmen mit den Scans von Nicht-Müttern und stellte fest, dass die Veränderungen so stark waren, dass der Computer mit einhundertprozentiger Sicherheit feststellen konnte, ob es sich um die Gehirne von Müttern handelte oder nicht. Nach neuesten Erkenntnissen bleiben diese Veränderungen sogar sechs Jahre postpartum bestehen.

Die Neustrukturierung der betroffenen Hirnareale hat in etwa denselben Umfang wie die neurologischen Veränderungen, denen wir in der Pubertät unterworfen sind. Forscher:innen fanden außerdem heraus, dass beide Prozesse von denselben Hormonen ausgelöst werden: Niemals sonst im Leben sind wir einer höheren Konzentration von Östrogen und Progesteron ausgesetzt als in der Pubertät und in der Muttertät.

Das Gehirn verändert sich in demselben Umfang wie in der Pubertät

Bis ins 20. Jahrhundert hinein nannte man Jugendliche "verrückte Kinder", weil es den Begriff "Pubertät" und damit ein größeres Bewusstsein für diese sensible, transformierende Lebensphase noch nicht gab. Mittlerweile ist die Pubertät gut erforscht. Das Wissen, das wir heute haben, ist groß – ebenso wie das Bewusstsein dafür, dass Menschen pubertieren und dass diese Zeit unter Umständen herausfordernd sein kann. Benennen zu können, was in einer / einem selbst geschieht, Worte zu haben, um sich mit einer Gruppe Gleichgesinnter identifizieren und austauschen zu können, ist, das wissen wir sicherlich alle aus unserer eigenen Jugend, extrem wichtig und kann unter Umständen sogar lebensrettend sein.

Matrescence und Muttertät: Die Forschung steht erst am Anfang

Gleiches wünsche ich mir für die Phase des Mutterwerdens und für alle Menschen, die die Muttertät noch durchlaufen werden.

Einige journalistische Beiträge und Sachbücher sind in den letzten Jahren bereits erschienen. Das wissenschaftliche Forschungsfeld der Muttertät / matrescence bietet großes Potenzial. Dennoch steht die Forschung erst am Anfang. In einer Sache sind sich alle Hauptakteur:innen jedoch einig: Es braucht mehr Wissen über Muttertät, um ein realistisches Bewusstsein dafür zu schaffen, was es bedeutet, Mutter zu werden.

Die US-amerikanische Psychiaterin Alexandra Sacks, deren Hauptfokus ebenfalls auf der Erforschung und Beratung werdender Mütter liegt, hielt 2018 ihren beeindruckenden TED-Talk "A new way to think about the transition to motherhood". Darin spricht sie unter anderem über die Erfahrungen mit ihren Klient:innen. Immer wieder erlebt sie die gleiche Situation: Eine Person, die gerade ein Kind geboren hat, sucht sie auf, weil sie sich sorgt, psychisch erkrankt zu sein. Der Grund dafür: Sie ist sich sicher gewesen, Mutter zu werden würde sich anders anfühlen. "Ich dachte, als Mutter würde ich mich vollkommen und glücklich fühlen. Ich dachte, durch meine natürlichen Instinkte würde ich wissen, was ich zu tun hätte. Ich dachte, ich würde mein Kind immer an erste Stelle stellen wollen."

Ambivalente Gefühle sind die Regel

Laut Alexandra Sacks sind das jedoch unrealistische Vorstellungen. Nicht jede Mutter ist automatisch überglücklich. Nicht jede Mutter, die ihrer Mutterschaft mit ambivalenten Gefühlen gegenübersteht, leidet an einer psychischen Störung oder Erkrankung. Im Gegenteil, betont Sacks, wären ambivalente Gefühle nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel: "Wenn Frauen den natürlichen Prozess der Muttertät verstehen würden, wenn sie wüssten, dass Ambivalenzen unter diesen Umständen normal wären und nichts, wofür man sich schämen müsste, würden sie sich weniger alleine fühlen, sie würden sich weniger stigmatisiert fühlen. Und ich denke, dieses Wissen würde sogar die Zahl postpartaler Depressionen reduzieren. Ich würde gerne eines Tages dazu forschen."

Mich würde eine Studie dieser Art jedenfalls sehr interessieren. Noch heute frage ich mich, inwiefern das Wissen über Muttertät meine mentale Gesundheit im Wochenbett beeinflusst hätte. Vermutlich hätte ich meiner Wahrnehmung mehr vertraut. Stattdessen hatte ich versucht, meine Gefühle zu unterdrücken, weil sie nicht den gesellschaftlichen und meinen familiären Erwartungen entsprachen.

Jana Heinickes Buch "Aus dem Bauch heraus. Wir müssen über Mutterschaft sprechen" (hier ein Auszug) hat uns sehr beeindruckt. Auch wir wünschen uns mehr Studien zur "Muttertät“ und dass Janas kluge Betrachtungen viele Leser:innen finden (17 Euro, Goldmann).

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Weitere Infos: Prof. Dr. Svenja Krämer / Hanna Meyer: "Muttertät" (18 Euro, mvg)

Brigitte

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