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Mutterliebe Eine Mutter gesteht: "Ich habe ein Lieblingskind"

Mutterliebe: Frau mit zwei Kindern auf Bank
© Stock-Studio / Shutterstock
Ein zärtliches Wort. Und ein gemeines. Denn Kinder sind verschieden, unsere Gefühle für sie auch. Die ehrliche Beichte einer Mutter.

Gestern habe ich das schlimme Wort gesagt. Als gäbe es nicht genügend andere. Schätzchen, Räuber oder einfach den Namen meines Sohnes, Jakob. Aber nein, da war ein anderes, das unbedingt herauswollte, als er aus dem Kinderzimmer nach mir rief. „Ja, mein Lieblingskind?“, hörte ich mich antworten. „Lieblingskind“ geht gar nicht. Das dürfen nur Eltern von Einzelkindern ungestraft benutzen. Ab Nummer zwei gehört es in den Giftschrank. Bei uns gibt es offiziell den Lieblingssohn und die Lieblingstochter. Das ist auch nicht gelogen, denn ich liebe beide, und ich habe von jeder Sorte nur eins. Einen Jakob, eine Marlene. So schön, so gerecht. Es gibt aber noch eine andere Wahrheit, und die ist hässlicher.

Ja, ich weiß, ich bin damit nicht allein. Das gesteht man einander beim zweiten Glas Wein nach dem Elternabend, davon handeln alttestamentarische Geschichten, das kann man auch googeln. Gibt man den Begriff „favoritism“ ein – etwa: Bevorzugung –, dann poppen beeindruckende Prozentzahlen auf dem Bildschirm auf. Etwa eine viel zitierte Studie der US­amerikanischen Cornell University: 70 Prozent der Müt
ter und 65 Prozent der Väter, so heißt
es darin, bevorzugen eines ihrer Kinder. Fragt man die Kinder selbst, sa
gen sogar 85 Prozent: Klar, Mama
und Papa haben einen Liebling. Im ungünstigsten Fall denselben. Zu spüren, dass ein Kind einem näher steht als seine Geschwister, geht einher mit einem Gefühlsgebräu aus Schuld, Unzulänglichkeit und Verrat. Auch wenn man im Alltag noch so akribisch auf Gerechtigkeit achtet – von der Größe der Geburtstagsgeschenke bis zur Quadratmeterzahl des Zimmers –, Kinder haben ein feines Gespür für die kleinen Unterschiede. Und diese Unterschiede können weitreichende Folgen haben. Unter anderem erleben Geschwisterpaare, die als Kind Ungerechtigkeit erfahren haben, ihre Beziehung als Erwachsene eher als weniger tragfähig; und wer sich weniger geliebt fühlt, neigt im späteren Leben auch eher zu depressiven Symptomen.

Niemals hätte ich vor ein paar Jahren gedacht, dass ausgerechnet meine Tochter vielleicht einmal davon betroffen sein könnte. Als ich zum zweiten Mal schwanger war, war es genau umgekehrt: Meine größte Befürchtung war, es könnte nicht genügend Gefühl für das jüngere Baby übrig bleiben. Weil die Stelle in meinem Herzen doch schon besetzt war. Weil meine Welt sich um eine Dreijährige drehte, die so finster dreinschauen konnte und so herzhaft lachen. Meine Mutterliebe kannte Ausschläge nach oben und unten, aber welche Liebe kennt die nicht? Wenn ich wütend war und sie weinte, erklärte ich ihr: Du und ich, wir haben uns immer, immer lieb.

Von Anfang an im Takt

Und dann lag Jakob im Kreißsaal auf meinem Bauch, und ich dachte: So einfach kann das sein. Vom ersten Tag an taten er und ich uns zusammen leichter, drehten unsere Runden wie ein geübtes Tanzpaar. Während Marlene und ich uns manchmal gegenseitig auf den Füßen standen wie zwei Anfänger in der ersten Tangostunde. Alles an Jakob war unkompliziert: die Geburt, das Stillen, das Einschlafen. Sogar schwanger geworden war ich beim zweiten Mal schneller. Ich war erleichtert, wie viel Platz sich plötzlich in meinem Herzen auftat. Als hätte ich den Geheimcode zu einem noch größeren Tresorraum gefunden. Und hatte Marlene nicht vom ersten Tag an ein genauso inniges Verhältnis zu ihrem Vater gehabt? Nun war er eben besonders gefragt. Wir Eltern spielten also ein neues Spiel, das „Mein Kind dein Kind“-Spiel, und die Regeln ergaben sich von selbst: Kleinkinder-Entertainment für Papa und Tochter, mit Zoo, Spielplatz und Eisdiele, Sofa-Chillen für Mutter und Sohn. Das machen viele Eltern beim zweiten Kind so, und es ist ja auch nicht falsch. Trotzdem glaube ich heute, dass sich Marlene damals zum ersten Mal zurückgesetzt fühlte. Weil das Mehr an Papazeit nie ganz aufwiegen konnte, wenn ich unsere Vorlesestunden für den Kleineren unterbrach. Oder ich Marlene zurechtwies, wenn sie sich ausgerechnet dann an mich klammerte, während ich den Kleineren fütterte.

Offen eifersüchtig war meine Tochter nie.

Aber vielleicht merkte sie, dass ich Jakob manchmal anders ansah, anders umarmte. Plötzlich war sie das Kind mit den Sonderwünschen, den plötzlichen Befindlichkeiten, den Bauch-, Kopf-, Fußschmerzen, immer ohne organische Ursache. Vielleicht ihre Art, mir zu sagen: Schau mich an! Hauptsache, Aufmerksamkeit – selbst wenn sie mit genervten Blicken einherging. Jakob hatte dieses Werben um mich nie nötig. Als er fünf war, ging er allein zum Bahnhofsbäcker und kaufte Brötchen für alle. Er strahlte vor innerer Sicherheit, war immer felsenfest überzeugt: Auch wenn er sich abwendet, sind wir noch da. Damit bestätigt er, was Wissenschaftler der Brigham-Young-Universität in Utah letztes Jahr herausfanden: Wenn jüngere Geschwister sich als Liebling ihrer Eltern fühlen, profitiert ihr Selbstbewusstsein enorm – fühlen sie sich weniger wahrgenommen als ältere Brüder oder Schwestern, leiden sie allerdings auch überproportional. Für die Erstgeborenen, so sagt das Team um Professor Alex Jensen, sind die Ausschläge in beide Richtungen weniger dramatisch. Und noch etwas fanden die Forscher heraus: Es tut weniger weh, im Vergleich mit einem Geschwisterkind vom anderen Geschlecht den Kürzeren zu ziehen. Für Marlene eine gute Nachricht: Den Titel „Lieblingstochter“ kann ihr niemand streitig machen. Andere Eltern brauchen eine Portion mehr Kreativität. Vielleicht steht ihnen ein Sohn oder eine Tochter näher – dafür ist der andere Sohn eben der erklärte Lieblingsmaler, die zweite Tochter die Lieblingsspaßmacherin. Solche Nischen suchen sich Geschwister oft auch von allein, wir können sie darin bestätigen.

Wir spiegeln eigene Wünsche

Kinder sind zu Besuch in unserem Leben. Egal, ob wir sie eingeladen haben oder ob sie zufällig vorbeigekommen sind. Die verbindlichsten Blind Dates, die man haben kann. Wenn sie heranwachsen, werden sie immer mehr sie selbst, und wir suchen etwas in ihnen, an das wir anknüpfen können. Etwas Bekanntes. Vielleicht eine ideale Version unserer selbst. Jakob ist jetzt acht, und er ist mehr wie ich: Für ihn ist die Welt Verheißung und Herausforderung, er ist morgens in fünf Minuten angezogen, tut sich beim Lernen leicht und hält auch im Regen tapfer auf dem Fußballplatz durch. Da spiegelt man sich gern. Für Marlene ist die Welt Anstrengung und Zumutung, sie bleibt gern bis nachmittags im Schlafanzug, braucht zwei Stunden, um mit dem Vokabellernen auch nur anzufangen und lässt Bonbonpapierchen immer neben den Mülleimer fallen. Vielleicht ist sie damit nicht weniger Spiegel – aber eher für die Seiten an mir, die ich nicht mag. Auch mit dieser Beobachtung bin ich übrigens nicht allein: Der Wissenschaftsjournalist Jeffrey Kluger erklärt, dass Eltern oft besonders entzückt sind, wenn sie eigene Züge in einem Kind des anderen Geschlechts wiedererkennen. Etwa, wenn sich die Gedichte schreibende Mutter ihrem zarten, künstlerisch veranlagten Sohn besonders nahe fühlt und der sportliche Vater seiner Fußballer-Tochter. Es gibt aber auch eine Art von Nähe, die ich mit meinem Sohn niemals haben kann, sondern nur mit meiner Tochter. Und die tut uns beiden gut. Ich weiß nämlich genau, wie sie sich gerade n ihrem Körper fühlt, der seine Reise Richtung Frausein antritt. Man muss das Gespräch nur darauf bringen, und auf Verlieben, Gefühle und die verzwickten Dinge des Lebens, dann sitzt Marlene mit leuchtenden Augen da und will reden. Während Jakob „iih!“ schreit und wegläuft. Dann denke ich: Solche Gespräche werden Marlene und mir erhalten bleiben. Sie werden uns noch verbinden, wenn sie eine erwachsene Frau ist – genau so, wie sie mich mit meiner Mutter verbinden. Neulich war Marlene übrigens mit einem Jungen aus ihrer Klasse im Kino, inklusive Popcorn und Händchenhalten im Dunkeln. Hat sie mir anvertraut. Sie ist nämlich sein Lieblingsmädchen. Es gibt eben mehrere Arten von ausgleichender Gerechtigkeit. Und Familie ist nicht alles im Leben. Welch ein Glück.

Dieser Artikel ist ursprünglich auf Eltern.de erschienen. 

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