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Ist mein Kind zu dick?

Ist mein Kind zu dick?
© Puetzer / Corbis
Wenn Tanja* ihre Tochter sieht, sieht sie Speckröllchen. Ist das schon dick? Diät oder cool bleiben? Und: Ist man als Mutter eines dicken Kindes eigentlich eine Versagerin?

Sarah, meine neunjährige Tochter, war gerade nach einer Woche Pfadfinderlager nach Hause gekommen. Sie sprühte und sprudelte, wusste gar nicht, wo sie mit dem Erzählen anfangen sollte. Beim Reden zog sie sich aus, um unter die Dusche zu gehen. Und mit einem Schlag konnte ich mein fröhliches, glückliches, selbstbewusstes Mädchen, das eben noch dagewesen war, nicht mehr sehen.

Alles, was ich wahrnahm, waren die Speckröllchen auf ihren Hüften und der runde Popo, größer als der ihrer drei Jahre älteren Schwester. Nach einer Woche Abstand traf mich der Anblick wie ein Schlag. Gleichzeitig hasste ich mich für meinen bösen, negativen Blick auf mein wunderbares Kind. Aber ich kann nicht anders. Sarahs Gewicht beschäftigt mich. Ich weiß einfach nicht, wie ich am besten damit umgehen soll.

Ich bin keine Tiger-Mom, die fanatisch auf die Optimierung ihrer Töchter bedacht ist. Keine Dara-Lynn Weiss, die amerikanische Autorin, die ihre siebenjährige Tochter auf Diät gesetzt und erst einen Artikel für die Vogue und dann ein Buch darüber geschrieben hat. Ich bin auch selbst nicht übermäßig schlank. Ich trage Größe 40/42, finde, dass ich auf ganz normale Art hübsch aussehe und wünsche mir nichts mehr, als dass Frauen sich in ihren Körpern wohl und akzeptiert fühlen. Ich freue mich über jedes Plus-Size-Model, das ich in einer Zeitschrift entdecke, und bewundere die Schauspielerin Lena Dunham dafür, dass sie die amerikanische Medienwelt dazu zwingt, ihren unperfekten, eher stämmigen Körper als normal wahrzunehmen.

Ich habe Angst vor dem Tag, an dem andere Kinder sie "dick" nennen.

So weit die Theorie. Und dann sehe ich, wie meine Tochter ein neu gekauftes T-Shirt für Zwölfjährige überzieht, und es spannt über ihrem Bäuchlein. Und ich bin unglücklich. Sarah zum Glück nicht, noch nicht. Bisher ist die Moppeligkeit meiner Tochter ausschließlich mein Problem. In erster Linie belastet sie mich, weil ich mein Kind schützen möchte. Ich will Sarah nicht traurig sehen. Ich fürchte den Tag, an dem andere Kinder ihre Unbeschwertheit zerstören, indem sie sie dick nennen. Ich habe Angst davor, dass Sarah sich selbst nicht mehr leiden mag. Sich als anders wahrnimmt als ihre dünnen Freundinnen. Als weniger hübsch und damit als weniger wertvoll. Ich habe Angst, sie könnte irgendwann glauben, dass sie weniger vom Leben zu erwarten hat, weil sie nicht der Norm entspricht. Obwohl sie so schön ist.

Ich sehe zwei Wege, Sarah das zu ersparen. Entweder kann ich ihr helfen, nicht dicker zu werden. Noch ist Zeit dafür: Sie ist kräftiger und schwerer als andere Mädchen in ihrem Alter, aber wir reden nicht von einem besorgniserregenden Fall. Oder ich kann ihr den Rücken stärken: Ihr immer wieder vor Augen führen, was alles bezaubernd ist an ihr - und was ihr Vater und ich so sehr an ihr lieben. Ihre warmen braunen Augen, ihre tollen Locken, ihr strahlendes Lachen. Ihr wacher Verstand, ihre Fantasie, ihr Witz. Ihre Freundlichkeit. Ich kann ihr immer wieder sagen, dass sie stolz sein kann auf ihren Körper, mit dem sie schneller rennen kann als alle anderen Mädchen und die meisten Jungs in ihrer Klasse, und mit dem sie auf Sachen balanciert, auf denen andere sich keine drei Sekunden halten könnten.

Es hört sich richtig an, ihr den Rücken stärken zu wollen. Die kluge, aufgeklärte Frau, die Feministin in mir nickt: Ja, genau so musst du es machen. Nur: Hört es sich nicht auch deshalb richtig an, weil es der bequemere Weg ist? Ein bisschen Aufmunterung, ein paar gute Worte und fertig? Wie viel anstrengender wäre es doch, die Ernährungsgewohnheiten einer ganzen Familie umzustellen. Das heißt mehr, als nur fettarme statt Vollmilch zu kaufen. Keine warmen Abendessen mehr, auch wenn es noch so gemütlich ist - schließlich haben ja alle schon mittags etwas Warmes gehabt. Kein Nachschlag. Keine Croissants zum Sonntagsfrühstück. Für Sarah nicht, aber eben auch nicht mehr für ihre Schwester, für mich, für meinen Mann. Essgewohnheiten ändern klappt nur, wenn alle mitziehen.

Kritik an ihr ist Kritik an mir

Wenn ich ganz tief in mich hineinhöre, gibt es noch einen anderen Grund, warum ich keine pummelige Tochter möchte. Übergewicht ist keine Privatangelegenheit. Jeder kann sie sehen. Schon jetzt höre ich hier und da Bemerkungen. Sie versetzen mir Stiche: "Na, deine Kleine steht ja gut im Futter!" "Der Sarah schmeckt's immer, oder?" Für mich nichts anderes als Hinweise auf mein Versagen als Mutter: Na, so doll gesund scheint bei euch zu Hause ja nicht gegessen zu werden. Übergewicht hat in unserer Gesellschaft nie etwas Lustbetontes. Übergewicht ist die Unfähigkeit, auf den eigenen Körper zu achten. Und bei übergewichtigen Kindern ist es eben die Unfähigkeit der Mutter.

Fast noch schlimmer: In kritischen Blicken auf Sarah glaube ich, in Wirklichkeit Kritik an meinem eigenen Körper zu lesen. Klar, wie die Mutter, so die Tochter. Und sie haben ja recht: Sarah kommt in jeder Hinsicht nach mir. Stella, unsere Große, zwölf Jahre alt, ist das Abbild meines Mannes, schlank, hoch aufgeschossen, hibbelig, mäßig an Essen interessiert. Sarah hat meinen Optimismus geerbt, meine Fröhlichkeit, meine Neugier, aber eben auch meine Veranlagung, schnell zuzunehmen. Als Kind sah ich exakt so aus wie Sarah heute, mit Bäuchlein und kleinen Speckröllchen. Als ich neun war, hat mich das genauso wenig gestört, wie es jetzt sie stört. Ich war genauso fröhlich, selbstbewusst und unbefangen. Für meine Mutter war mein Gewicht nie ein Thema.

In der Pubertät nahm ich zu, und Jungs fingen an, mich zu hänseln. Aus meinem Vornamen Tanja wurde Tonnja oder gleich Tonne, obwohl ich nie wirklich dick war. Nur eben rundlicher als die meisten Mädchen. Ich schwärmte die Jungs, die mir gefallen haben, immer nur aus der Entfernung an, weil ich sowieso davon ausging, dass die ein dünnes Mädchen lieber mögen. Und genau das soll meine Sarah nicht erleben müssen. Aber ich habe auch Angst davor, den Grundstein für eine Essstörung zu legen, wenn ich Ernährung und Gewicht vor ihr zum Thema mache.

Ich wünsche mir eine Welt, die Schönheit an inneren Werten misst, nicht am BMI.

Ich möchte, dass sie isst, wenn sie Hunger hat, und zwar so viel, bis sie satt ist. Sie ist ein Kind. Sie muss nicht wissen, wie viele Kalorien Lasagne hat, sondern nur, ob sie Lasagne mag. Ich habe keine Lust, ihr das zweite Frühstücksbrötchen zu verbieten, das Eis im Schwimmbad oder den Kuchen auf einer Geburtstagsfeier. Limo dürfen meine Mädchen höchstens mal im Restaurant trinken, Junkfood gibt's bei uns gar nicht. Ich kaufe gute Lebensmittel und koche gern. Es ist nur einfach so: Während Stella einen kleinen Teller von meiner frisch gekochten Kürbissuppe isst, nimmt Sarah gern zweimal nach. Muss ich ihr das verbieten? Mit welcher Begründung? Oder soll ich einfach glücklich sein, dass sie so viel Freude am Essen hat?

Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, dann, dass Sarah weiterhin mit der gleichen Begeisterung und Lust futtern kann, ohne dick zu werden. Oder dass wir in einer Welt leben würden, in der die Schönheit eines Menschen an seinen inneren Werten gemessen wird und nicht an seinem BMI.

Wunschdenken, zu schön, um wahr zu sein. Aber kann mir nicht wenigstens ein einziger Wunsch erfüllt werden? Kann ich nicht eines Morgens aufwachen und plötzlich wissen, was der richtige Weg ist, meine Tochter zu einem dauerhaft glücklichen, von sich selbst und anderen geliebten Menschen mit tollem Körpergefühl zu machen?

* Name von der Redaktion geändert

Ist mein Kind zu dick?
© Brigitteonline

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