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"Ich war süchtig danach, mein Kind krank zu machen"

"Ich war süchtig danach, mein Kind krank zu machen"
© DmitriMaruta / shutterstock
Frauen mit Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom bringen ihre Kinder immer wieder in Lebensgefahr, damit sie sich kümmern können. Was geht in so einer Mutter vor?

Meine Welt zerbrach, als ich zehn war und meine Mutter ein zweites Mal heiratete. In den folgenden Jahren hat mein Stiefvater jeden zweiten bis dritten Tag an mir massive gewalttätige sexuelle Übergriffe verübt. Er war ein pädosexueller Sadist. Meine Mutter wusste das. Wenn ich meine blutige Wäsche in die Mülltonne warf, hat meine Mutter sie rausgeholt und mich gezwungen, sie zu waschen. Schon immer fühlte ich mich weniger geliebt als mein Bruder, aber seitdem das mit den Vergewaltigungen losging, kann ich mich an keine Zärtlichkeit meiner Mutter mehr erinnern.

Mein Stiefvater hat "danach" oft Geld in mein Zimmer gelegt. Ich hab mir dann sofort was Neues zum Anziehen gekauft. Wenn ich was Neues anhatte, war ich sauber. Wenn ich kein Geld zum "Verkleiden" hatte, habe ich alles gegessen, was ich bekommen konnte. Ich hatte ständig das Gefühl zu verhungern. Meine Eltern riegelten schließlich die Küche ab. Dann habe ich aus Mülltonnen gegessen.

Als ich 14 war, war auf einen Schlag Schluss mit den Vergewaltigungen. Ich habe meinem Stiefvater eine Feile in die Rippen gerammt. Die Quälereien hörten daraufhin auf - meine Symptome blieben. Ich musste mich weiter "verkleiden". Nur in völlig neuer Kleidung war ich für einige Stunden sauber und konnte selbstbewusst, aufrecht und stolz auftreten.

"Ein eigenes Kind würde mich retten"

Als ich 15 war, ging es los mit dem Kinderwunsch. Ich wollte ganz unbedingt, ganz heftig, ganz dringend ein Kind. Es würde mich retten. Dann würde mein ganzes Leben neu anfangen und ich wäre ein neuer Mensch.

In den nächsten Jahren war ich mit jedem im Bett, der mit mir schlafen wollte - aber nur wenn der Zyklus stimmte. Schwanger bin ich dann erst mit 18 geworden.

Ein Jahr vorher habe ich meine Ausbildung zur Krankenschwester begonnen. Ich habe den Beruf gelernt, weil ich gehofft habe, dann würde meine Mutter mich endlich lieb haben. Sie war Krankenschwester, ich war Krankenschwester, das würde uns einander näherbringen. Hat aber nicht geklappt.

Meine Tochter kam dann mit vielen Komplikationen zur Welt. Sie hatte einen Sauerstoffmangel erlitten und Schwierigkeiten mit der Atmung. Sie war praktisch ihr ganzes erstes Lebensjahr in der Klinik.

"Plötzlich war meine Tochter ein Notfall. Und ich habe perfekt funktioniert."

Drei entscheidende Dinge sind in dieser Zeit passiert: 1. Ein Kinderarzt in der Klinik hat mich gefragt, wie es mir geht. Bis heute glaube ich, dass dies die allererste Situation in meinem Leben war, in der mich ein Mensch mal gefragt hat, wie es mir geht. 2. In meinem Beruf als Krankenschwester war ich top. Ich habe gemerkt, wie kompetent und konzentriert ich bei Notfällen reagieren kann - und ich bekam Anerkennung. Ich war die richtige Frau zur richtigen Zeit am richtigen Ort, alles war gut. 3. Einmal kam ein Anruf aus der Kinderklinik, meiner Tochter gehe es sehr schlecht, und sie wüssten nicht, ob sie überleben würde. In dieser Situation hat meine Mutter zum allerersten Mal Anteil genommen und Mitleid gezeigt, sie ist sogar mit mir gemeinsam in die Klinik gefahren. Das war völlig neu für mich, die Erfüllung einer lebenslangen Sehnsucht.

Meine Tochter hat überlebt. Zu ihrem ersten Geburtstag wurde sie nach Hause entlassen. Ihr Gesundheitszustand hatte sich deutlich stabilisiert. Doch der Alltag zu Hause wurde ein sehr schwieriger: Ich war alleinerziehend, meine Tochter konnte trotz Behinderung inzwischen in die DDR-übliche Krippe, und ich war ganztags berufstätig. Der Stress in der Arbeit tat mir gut, wirkte aber auch immer wieder als Auslöser für schlimme Erinnerungen.

Nein, es waren mehr als Erinnerungen: Ich erlebte die sadistischen Gemeinheiten meines Stiefvaters wieder. Sie drängten sich mir regelrecht auf und machten die Wahrnehmung der Gegenwart völlig platt. Diese sogenannten Intrusionen gingen nur weg, wenn ich mich verkleiden konnte.

Für neue Kleidung brauchte ich Geld, und das bekam ich am besten, wenn ich mich prostituierte. Ich hatte einen Mann kennengelernt, der nach kurzer Zeit da weitergemacht hat, wo mein Stiefvater aufgehört hatte. Er hat mich sadistisch behandelt, und ich ließ mich für den sadistischen Sex bezahlen. Ich sah diesen Teufelskreis, aber wusste nicht, wie ich ihm entkommen sollte.

"Alle lobten mich, weil ich das Kind so gut betreute"

Mehr und mehr wurde ich suizidal. Meine Tochter war noch nicht ganz zwei Jahre alt, da habe ich es das erste Mal getan. Ich habe meine Tochter zum ersten Mal krank gemacht.

Bis heute kann ich mich nicht genau erinnern, was dem Ganzen direkt vorausging. Es war überhaupt nicht geplant, nicht vorbereitet. Plötzlich war meine Tochter benebelt, hatte Tabletten intus und war ein Notfall. Und ich habe wie auf Knopfdruck perfekt funktioniert. Ich war kompetent, ich wurde gebraucht, ich habe meine Tochter gerettet. Ich habe sie in die Klinik gebracht, und alle lobten mich, weil ich das Kind so gut versorge. Ich war eine klasse Mutter. Es ging mir richtig gut.

In dieser Situation und auch später hatte ich nie Angst, dass die Ärzte merken würden, was ich meiner Tochter angetan habe. Sie hatte einen leichten Hirnschaden, da kann es schon mal zu Anfällen kommen.

"Ich blendete mein eigenes Handeln völlig aus"

Alles, was ich den Ärzten erzählt habe, stimmte. Ich habe nur weggelassen, was ich getan habe. Und das nicht einmal bewusst. Wenn ich in der Klinik war und meine Tochter den Ärzten übergab, war mein eigenes Handeln vorher immer völlig ausgeblendet, es war mir überhaupt nicht mehr präsent.

Inzwischen hatte ich die Arbeitsstelle gewechselt. Ich war eine geachtete, kompetente Krankenschwester in einem Verbund von Kinderärzten mit neurologischem Schwerpunkt. Ich habe da alle möglichen Medikamente mitgenommen und sie eingesetzt. Mein Kind galt inzwischen als schwer anfallskrank. Offen gesagt weiß ich nicht, ob meine Tochter je einen Anfall hatte ohne mein Zutun. Wieder und wieder war sie in der Klinik, auch auf der Intensivstation.

Wenn meine Tochter ein Notfall war, sprang in mir ein anderes Programm an: "Opfer, traumatisiert, gedemütigt, verabscheuungswürdig - bring dich um!" wurde abgelöst durch "Tolle Mutter, kompetent, leistungsfähig, prima, vorbildlich". Ich war im Flow.

Das Krankmachen wurde zur Sucht

"Proxy - dunkle Seite der Mütterlichkeit"
Dieser Text ist ein Auszug aus dem ersten Kapitel des Buches "Proxy - dunkle Seite der Mütterlichkeit", herausgegeben von Ulrich Sachsse (152 S., 24,99 Euro, Schattauer Verlag).
© PR

Intrusionen, also traumatische Kind- und Jugendlichen-Zustände, sind so unerträglich, dass sehr viele Menschen nach einem Symptom, das diese Zustände sicher beendet, fast süchtig werden. Für manche sind das Selbstverletzungen. Für andere ist es Heroin oder Alkohol, bei einigen reicht schon eine Bulimie.

Ich wurde süchtig danach, dass ich dann, wenn ich innerseelisch ein Kind in höchster Not wurde, mein reales Kind in höchste Not brachte, um es daraus zu retten. Leider funktionierte das nie lange. Manchmal waren es wenige Wochen, manchmal auch nur Tage, dann waren die Intrusionen wieder da. Dann musste ich meine Tochter krank machen, meine Tochter retten.

Und dann bin ich völlig übergeschnappt. Als meine Tochter so vier oder fünf war, wollte ich unbedingt wieder schwanger werden. Und: Ich wollte unbedingt ein schwerstbehindertes Kind zur Welt bringen. Ich wurde tatsächlich schwanger und habe auf meiner Arbeit alles an Medikamenten geklaut, wo draufstand, dass es in der Schwangerschaft nicht gut ist. Und das dann geschluckt.

Wunsch nach einem schwerstbehindertes Kind

Ich wollte ein Kind, das nichts alleine tun kann. Das mich als hochkompetente Retterin und Mutterjederzeit braucht. Ich muss dann immer funktionieren, ich werde immer funktionieren. Habe ich mir jemals klargemacht, was ich meinem zweiten Kind da antue? Nein, habe ich nicht. Ich habe nicht einmal darüber nachgedacht.

Dann wurde meine Tochter geboren: als völlig gesundes Kind! Mein Leben als alleinerziehende Mutter ging weiter, jetzt mit zwei Kindern. Alles war unverändert schwierig: verkleiden - prostituieren - verkleiden - prostituieren.

Ende 1991 konnte ich nicht mehr. Ich machte meinen ersten ernsthaften Suizidversuch, überlebte die Tabletten und kam in die Psychiatrie.

So begann meine Psychotherapie. Seitdem bin ich in ständiger stationärer oder ambulanter therapeutischer Behandlung und Begleitung. Mal waren es kurze Kriseninterventionen, mal längere Zeiten, häufig auf geschlossenen Stationen. Fünf stationäre Behandlungen waren Trauma-Therapien. Und: Sechs Monate nach dem ersten ambulanten Therapietermin habe ich mein erstes Kind das letzte Mal geschädigt. Danach nie wieder.

Opfer und Täterin

Seitdem war mein eigener Körper dran. Es gab schwere Selbstverletzungen, ich habe mir die Brüste und auch den Bauch zerschnitten. Eine Zeit lang habe ich Medikamente genommen, mit denen die Gerinnung gehemmt wird. Mein Körper sollte entscheiden, ob ich weiterleben soll - oder nicht. Ich musste selbst in intensivmedizinische Behandlung.

Gut 15 Jahre hat es schließlich gedauert, bis ich bei meiner damaligen Therapeutin angefangen habe, von meinem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom zu erzählen. Ich hatte wahnsinnige Angst. Anfangs waren es nur sporadische Erinnerungen an das, was ich meinem Kind angetan habe. Das alles durfte ja auch gar nicht passiert sein. Meine Therapeutin hatte Verständnis - das war anfangs noch schlimmer.

Heute bin ich Opfer und Täterin. Ich finde es entsetzlich, was mir angetan wurde. Und ich finde es entsetzlich, was ich meinen Kindern angetan habe. Mir ist klar: Meine Handlungen waren ein Symptom meiner eigenen Traumatisierung. Die Therapie hat mir geholfen, für mich selbst Verständnis zu entwickeln.

Als Frau fühle ich mich heute wie zwölf oder 13 Jahre alt. Irgendwie pubertär, ganz am Anfang des Frau-Seins. Erst jetzt beginne ich, meine Weiblichkeit zu mögen. Übrigens bin ich mir sicher, dass ich mich irgendwann verlieben werde. Ich weiß nur nicht, wann und ob in eine Frau oder einen Mann, aber es wird passieren.

Inzwischen bin ich sozial gut eingebunden. Ich engagiere mich, bin geachtet und beliebt. Seit mehr als fünf Jahren wohne ich in der selben Wohnung. In den 25 Jahren davor bin ich 23-mal umgezogen. Ich bin nicht mehr auf der Flucht. Meine erste Tochter hat eine Lernbehinderung, ging auf Förderschulen und hatte große emotionale und soziale Probleme. Sie hat Kinder bekommen, die in Pflegefamilien leben. So geht meine Problematik in die nächste Generation, vielleicht in die übernächste. Meine zweite Tochter ist schulisch und beruflich erfolgreich. Sie machte ein Einser-Abitur und ist eine gute Musikerin. Ich bin mit ihr sehr, sehr glücklich geworden.

Ein Artikel aus der BRIGITTE 26/2015

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