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Magersüchtige Kinder: Was Eltern tun können

Magersüchtige Kinder: Nadine mit ihrer Mutter
© Ute Friederike Schernau / Brigitte
Nadine ist 16, als ihrer Mutter Elke Eckmann klar wird: Meine Tochter ist magersüchtig. Doch was kann man tun als Mutter, wenn das Kind keine Hilfe annehmen will? Die Geschichte eines langen Kampfes.

"Ich hatte solche Angst, dass sie verhungert"

"Wenn sie jetzt nicht in die Klinik kommt, wird sie sterben." Als der Arzt diesen Satz aussprach, zuckte ich innerlich zusammen – obwohl ich schon geahnt hatte, wie weit die Magersucht meiner Tochter Nadine fortgeschritten war. Plötzlich fühlte ich wieder diese Angst, die mich schon nach Nadines Geburt begleitet hat: Diese schreckliche Angst, dass mein Kind stirbt.

Nadine ist als Frühchen zur Welt gekommen, mit 730 Gramm, in der 29. Schwangerschaftswoche. Sie wirkte so zerbrechlich, dass ich Angst hatte, sie anzufassen. Wochenlang bangten mein Mann und ich um sie, jeden Morgen wachte ich auf und fragte mich als erstes, wie es ihr geht. Nach drei Monaten wurden wir aus dem Krankenhaus entlassen, alles war gut. Doch die Angst um sie blieb immer tief versteckt in mir drin.

Nadine entwickelte sich ganz normal, sie war ein intelligentes, freundliches Baby, Kleinkind und Schulkind – nur halt immer einen Kopf kleiner und deutlich dünner als Gleichaltrige. Sie wuchs behütet bei uns auf, in einem Dorf im Grünen, in dem jeder jeden kennt. Mein Mann und ich haben eine Tischlerei im Ort, und wenn ich dort arbeiten war, hat eine der beiden Omas auf sie aufgepasst. Ich habe viel mit ihr gesungen, gebastelt und geschmust, habe sie zum Ballett- und Musikunterricht begleitet, sie hatte eine ganz normale, glückliche Kindheit. Mittags aßen wir immer zusammen, Nadines Lieblingsgericht waren Nudeln mit Hackfleischsauce. Sie hat nie viel gegessen, aber es war nie ein Problemthema.

Magersüchtige Kinder: Was Eltern tun können
© Ute Friederike Schernau / Brigitte

Bis sie mit 16 anfing, lustlos auf dem Teller herumzustochern und nur noch Mini-Portionen schaffte. "Ich habe gerade keinen Hunger, ich esse später", hat sie oft gesagt. Nach dem Essen ging sie laufen. Anfangs habe ich mir noch keine Sorgen gemacht, ich dachte: "Naja, das ist bestimmt so ein Teenie-Spleen und nur eine Phase." Ich habe überhaupt nicht an Magersucht gedacht, denn Dünnseinwollen war nie ihr Thema gewesen, sie war ja eh schon immer untergewichtig, wog damals bei einer Größe von 1,53 Meter gerade mal 40 Kilo. Ich habe gesagt, was man als Mutter so sagt: "Mensch, Nadine, iss doch noch was!" – "Ich esse doch, Mama! Ich hab’ nur gerade nicht so viel Hunger", hat sie dann gesagt. Das habe ich anfangs akzeptiert. Ich konnte sie ja nicht zwingen.

Nach ein paar Monaten kam mir das alles langsam doch seltsam vor. Nadine aß zwar immer ein bisschen, mal ein kleines Brot oder eine Kartoffel oder ein paar Stückchen Gemüse, aber es war immer viel zu wenig. Sie hatte sich verändert, war blass, und ihr war ständig kalt. Sie war auch nicht mehr so freundlich wie früher, nörgelte viel und reagierte schnell gereizt, wenn ich etwas sagte. Und dann kam ich einmal ins Badezimmer, als sie sich gerade ausgezogen hatte. Und sah, wie furchtbar dünn sie geworden war. Ich wollte mit ihr sprechen: "Was ist los mit dir, Süße? Warum isst du nicht mehr richtig?" Aber sie blockte ab, meinte nur, dass sie doch immer etwas essen würde, nur halt nicht so viel, es sei ja auch nicht gesund, zu viel zu essen. "Ich will nicht dick werden", sagte sie.

In dem Moment habe ich realisiert, dass ihr Verhalten kein Spleen ist, der vorüber geht. Sondern dass sie eine Essstörung hat und professionelle Hilfe braucht.

Ich habe dann Bücher zum Thema gelesen, um es zu verstehen, und bin mit Nadine zu verschiedenen Ärzten und Psychologen gegangen. Sie kam widerwillig mit, aber sie kam mit. Und je mehr ich verstand, wie hartnäckig eine Magersucht ist, desto größer wurde meine Angst um Nadine. Wenn ich sie darauf ansprach, dass sie ihre Gesundheit zerstört, wurde sie aggressiv: "Hör auf, Mama, ich kann es nicht mehr hören! Es ist nicht so schlimm!" Das ist das Komplizierte an dieser Erkrankung: Magersüchtige haben eine völlig verzerrte Selbstwahrnehmung. Sie werden immer dünner und finden sich trotzdem zu dick.

Ich hätte ihr so gerne geholfen, aber ich musste akzeptieren, dass ich ihr nicht helfen kann, so lange sie es nicht will. Nadine war süchtig nach dem Verzicht, nach diesem Gefühl, sich zu kontrollieren. Und eine Suchterkrankung hört nicht einfach auf, weil Mama sich Sorgen macht und immer wieder "Bitte iss doch was!" sagt. Selbst als der Arzt meinte, sie müsse dringend in eine Klinik, weil sie sonst an Leberversagen sterben würde, hat Nadine noch gesagt: "Nein, da geh’ ich nicht hin. Ich schaff’ das alleine." Wieder so eine verzerrte Wahrnehmung. Alles nicht so schlimm? Doch, das war es. Rückblickend würde ich allen Müttern raten: Lasst euch gleich bei den allerersten Anzeichen, wenn euer Kind beim Essen komisch wird, beraten. Denn je länger ihr damit wartet, desto mehr Zeit verliert ihr am Ende, wenn die Magersucht dringend behandelt werden muss.

Mein Mann und ich haben unzählige Kliniken abtelefoniert, alle haben uns vertröstet: "Sie können Ihre Tochter gerne anmelden, aber die Wartezeit beträgt mindestens fünf Monate." Ich weiß noch genau, wie ich einmal verzweifelt in den Hörer schrie:

"Ich habe keine Zeit zum Warten. In fünf Monaten ist meine Tochter vielleicht schon tot!"

Mir ging es beschissen. Ich war total angespannt, konnte kaum noch schlafen. Ich hatte wirklich Angst, dass sie verhungert. Nadine war so kraft- und mutlos geworden! Sie ging zwar noch zu Schule, bereitete sich auf ihr Abi vor, aber manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie gar nicht mehr leben will.

Ich hatte schreckliche Schuldgefühle. Warum war meine Tochter magersüchtig geworden? Was hatte ich als Mutter falsch gemacht? Hatte ich wegen meiner Berufstätigkeit zu wenig Zeit mit ihr verbracht? Oder war es genau umgekehrt: Hatte ich sie zu gut behütet? Ich war keine Helikopter-Mama, die ständig um ihr Kind herumkreist, aber als Frühchen-Mutter hatte ich einen ausgeprägten Beschützerinstinkt – und Kinder spüren so etwas. Vielleicht war ihre Magersucht ein Kampf gegen die übermächtigen Großen, die ihr, der "Kleinen", nicht genug Eigenverantwortung zutrauten? Sie hatte mir erzählt, dass sie wegen ihrer Größe von Mitschülern nicht ernst genommen oder sogar gehänselt wurde. Wollte sie beweisen, wie stark sie war? Oder war ihr Perfektionismus schuld? Schon als Kind war sie sehr ehrgeizig gewesen, das hat sie von mir geerbt. Vielen Magersüchtigen gehe das so, hatte mir ein Arzt gesagt. Sie wollen alles perfekt machen und deshalb alles kontrollieren. Und weil sich das Leben nicht kontrollieren lässt, fangen sie an, ihre Nahrungsaufnahme zu regeln. War es das? War sie kontrollsüchtig, weil ihr in dieser wackeligen Was-kommt-nach-der-Schule-Zeit die Kontrolle fehlte? Letztlich haben wir keine Antwort gefunden auf die Frage, warum Nadine krank geworden ist.

Magersüchtige Kinder: Was Eltern tun können
© Ute Friederike Schernau / Brigitte

Es dauerte drei lange und verzweifelte Monate, bis wir für unsere Tochter einen Klinikplatz gefunden hatten, mittlerweile wog sie nicht mal mehr 30 Kilo, ein blasses, klappriges Kind, das nach ein paar Bissen nichts mehr runter bekam. Zum Glück willigte sie ein und ging freiwillig in die Klinik. Ich war erleichtert, dass ich einen Teil der Verantwortung nun erst mal abgeben konnte.

Vier Monate war Nadine in der Klinik, und irgendwie hat sie in dieser Zeit die Dramatik erkannt und einen neuen Ehrgeiz entwickelt: Sie wollte wieder gesund werden! Es gab dort Mädchen, die über Magensonden ernährt wurden, das hat sie ziemlich erschreckt. Es ist nämlich nicht so, dass man immer alles kontrollieren kann. Irgendwann verlieren Magersüchtige die Kontrolle, die sie doch so gerne haben wollen. Nadine hat dann gegessen, was man ihr vorgesetzt hat, so wurde sie langsam aufgepäppelt. Im Anschluss ging sie regelmäßig zu einem Psychotherapeuten. Es fiel ihr nicht leicht, den geordneten Klinikalltag hinter sich zu lassen und wieder zurück im Alltag zu sein. Man ist ja nach vier Monaten Klinik nicht plötzlich von der Magersucht geheilt. Doch mit Hilfe des Therapeuten und ihres starken Willens hat sie es in den nächsten Jahren geschafft, ihre Essstörung zu überwinden. Sie hat Abi gemacht, fing an zu studieren, ging ins Ausland, hat sich verliebt. Heute ist sie 26, verheiratet und berufstätig. Wir können wieder mit ihr zusammen am Tisch sitzen und ein schönes Essen genießen. Sie kocht mittlerweile auch gerne selbst, hat ein Mutmach-Kochbuch entwickelt, "Goodbye Magersucht" heißt es.

Ich bin stolz auf sie, dass sie ihre Magersucht überwunden hat. Es ist so eine komplizierte Krankheit, die oft total unterschätzt wird. Es wird immer vor Übergewicht gewarnt und gesagt, wie schädlich das ist. Aber wie lebensbedrohlich Untergewicht ist, wissen immer noch zu wenige.

Mit einem eigenen Kochbuch will Nadine Eckmann anderen helfen, wieder Freude am Essen zu finden, es heißt: "Goodbye Magersucht. Mein Kochbuch für ein neues Leben" (Trias Verlag)

"Das Denken des Kindes kreist fast nur um Essen"

Karin Lachenmeir hat täglich mit jungen Menschen zu tun, die an einer Essstörung leiden. Sie weiß, welches Verhalten Eltern alarmieren sollte – und was sie dann tun können

BRIGITTE MOM: Was sind Anzeichen für eine Magersucht? Wann sollten Eltern aufmerken, ohne sich und das Kind in Panik zu versetzen?

KARIN LACHENMEIR: Zu den rein diagnostischen Kriterien zählt, dass das Kind auffällig viel Gewicht verliert, weil es bewusst weniger isst oder mehr Energie durch intensive Bewegung verbraucht. Daneben gibt es Anzeichen, die Eltern schon früher auffallen können: Wenn Kinder ein zunehmendes Interesse an Kalorien und der Zusammensetzung der Nahrung zeigen. Wenn sie Mahlzeiten auslassen, weil sie angeblich keinen Hunger oder schon gegessen haben. Wenn sie sehr langsam und ritualisiert essen, also immer in einer bestimmten Reihenfolge oder alles in kleine Stücke schneiden. Gesunde Ernährung ist ihnen plötzlich sehr wichtig, sie verzichten komplett auf Süßigkeiten oder essen nur noch vegan. Manche treiben extrem viel Sport, lernen plötzlich sehr viel für die Schule und ziehen sich sozial zurück – sie vermeiden Treffen mit Freunden, weil die oft mit Essen verbunden sind. Viele reagieren schroff oder gereizt, wenn man sie auf ihr Essverhalten anspricht.

Oft denken Eltern sicherlich: Das ist eben die Pubertät, das geht vorbei.

Ja, das macht es schwierig, die Essstörung früh zu erkennen. Es ist typisch, dass sich Kinder in der Pubertät viel mit dem Aussehen beschäftigen und unzufrieden mit sich sind. Jeder einzelne dieser Hinweise kann harmlos sein – nicht jedes Kind, das sich vegan ernährt, hat eine Essstörung. Aber je mehr Faktoren auftauchen, umso mehr muss man gewarnt sein. Es sind Anzeichen dafür, dass das Denken der Kinder fast ausschließlich, um die Themen Essen, Figur und Gewicht kreist.

Wie reagiert man gut als Eltern?

Offen mit dem Kind reden, die Beobachtungen konkret formulieren. Also zum Beispiel sagen: "Mir ist aufgefallen, dass du viel weniger isst als früher und dass du bedrückt wirkst. Ich mache mir Sorgen um dich." Man kann auch direkt sagen, dass man eine Essstörung befürchtet und sich um die Gesundheit des Kindes sorgt. Wahrscheinlich wird das Kind zunächst alles abstreiten und herunterspielen, damit müssen Eltern rechnen. Sie sollten dann ihre Hilfe anbieten und ihr Kind weiter beobachten.

Und wann muss man handeln?

Gefährlich wird es, wenn der Körper angegriffen wird – und das passiert schnell bei einer Essstörung. Er wird nicht nur geschwächt, auch die Hirnreifung kann beeinträchtigt werden. Je länger eine Magersucht besteht, desto größer ist die Gefahr, dass es zu Entwicklungsstörungen kommt, die nur schwer umkehrbar sind. Darum dürfen Eltern nicht zu lange warten. Wenn das Gewicht stark und schnell sinkt, sollten sie mit dem Kind über die Gefahren sprechen und gleich ärztliche Hilfe suchen.

An wen wende ich mich am besten?

Der Hausarzt ist sicher zunächst der kürzeste Weg, auch weil er die Familie bereits kennt. Allerdings sind nicht alle Hausärzte mit dem Störungsbild ausreichend vertraut. Es kann daher sinnvoll sein, sich unterstützend in einer Fachberatungsstelle Hilfe zu holen. Adressen in der Nähe findet man etwa auf der Homepage des Bundesverbands für Essstörungen (BFE) (bundesfachverbandessstoerungen.de).

Wie unterstütze ich mein Kind?

Es gibt zwei Verhaltenstypen, die sich bei uns in der Therapie als förderlich herausgestellt haben. Wir nennen sie den "Delfin" und den "Bernhardiner". Der Delfin lotst das Kind in die richtige Richtung, stupst es immer mal wieder an, ohne allzu strikte Vorgaben zu machen. Bezieht das Kind mit ein, fragt, was es selbst tun will, um gesund zu werden. Der Bernhardiner wiederum ist sehr ruhig, gelassen und beharrlich. Er geht Schritt für Schritt vor und gibt dem Kind damit Sicherheit. Er sagt klar, was die nächsten Pläne sind und bespricht, warum sie sinnvoll sind.

Eltern von Magersüchtigen quälen oft Schuldgefühle. Sie fragen: "Was habe ich falsch gemacht?" Wie gehen Sie in Ihrer Klinik damit um?

Wir erarbeiten zusammen mit der Familie ein Erklärungsmodell. Eine Essstörung hat nie die eine Ursache. Es ist ein Mosaik aus unterschiedlichen Bausteinen. Dazu gehören Faktoren wie unser gesellschaftliches Schönheits- ideal, familiäre Kommunikationsmuster, bestimmte Persönlichkeitsmerkmale der Kinder. Aber wir wissen mittlerweile auch, dass das Risiko, eine Essstörung zu entwickeln, vererbt werden kann. Der Einfluss genetischer Faktoren auf die Essstörung beträgt nach heutigen Schätzungen mindestens 50 Prozent. Diese Tatsache erklären wir den Eltern, auch um sie zu entlasten und es ihnen zu erleichtern, den Blick nach vorne zu richten.

Können Eltern einer Essstörung bei ihrem Kind vorbeugen?

Ein wichtiger Schutzfaktor ist ein gesundes Selbstwertgefühl. Eltern können ihre Kinder darin bestärken, nicht aus dem Aussehen, sondern aus anderen Quellen ihr Selbstbewusstsein zu ziehen: Was kann ich gut? Bin ich lustig? Eine gute Freundin? Es ist gut, soziale Kompetenzen zu fördern, sie zu unterstützen, dass sie für Dinge einstehen, auch mal Nein sagen können. Und Eltern sollten vorleben, dass es wichtig ist, gut für sich zu sorgen. Statt sich immer nur aufzuopfern und zu überfordern, sollten sie sich selbst auch Auszeiten nehmen und sich etwas Gutes tun. So lernen Kinder: Es ist okay, auf die eigenen Bedürfnisse zu achten.

Dr. Karin Lachenmeir ist Psychologische Psychotherapeutin und leitet das Therapie-Centrum für Essstörungen (TCE)bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in München (tce-essstoerungen.de).

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BRIGITTE MOM 01/2020

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