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Meine Tochter, lass mich noch eine Weile deine Hand halten

Meine Tochter, lass mich noch eine Weile deine Hand halten
© Hero Images/Corbis
Eine Begegnung in der U-Bahn führt Bloggerin Alu Kitzerow vor Augen, wie schnell die Zeit vergeht. Lest hier ihren berührenden Brief an ihre Tochter.

Heute Morgen stand ich in der U-Bahn hinter einer älteren Dame. Ihr weißes, gewelltes Haar ging ihr über die Schultern und sie las ein Buch. Schick gekleidet in einem schwarzen Mantel mit roten Schuhen stand sie mit beiden Beinen fest vor mir.

Mein Kind, wirst du so sein wenn du älter bist? Werde ich noch da sein und meine schrumpeligen Finger die deinen berühren? Wirst du mit beiden Beinen und wallendem Haar in der U-Bahn stehen und deinen Weg gehen?

So oft stelle ich mir dich als Erwachsene vor. Ich glaub sehr oft, die zarten Züge deiner Großmutter in dir zu erkennen.

Wirst du deine Haare immer noch lang tragen wie jetzt und meist offen? Werden deine feinen Gesichtszüge den kindlichen Charme verlieren? Wie wird es sein, zwischen uns, wenn du erwachsen bist? Werden wir uns oft sehen und uns vom Alltag erzählen, oder wirst du weit weg sein, innen drin?

Ich sehe dich an, während du schläfst und vergesse in diesen Momenten all die kleinen Streitigkeiten des Alltags. Die schweren Zeiten, sie kommen erst noch, sagt man mir. Deine Stimme, wenn du mit mir diskutierst. Dein Willen, der sich in kleinen Gemeinheiten äußert. Ich kann dich in diesen Momenten trotzdem noch sehen, deine Augen blitzen wie meine und ich lächle dich dann einfach an. Oftmals beginnen wir dann gemeinsam zu lachen und nehmen uns so den Schreck aus den Gliedern.

Lass es uns so halten, lass uns das Lachen und unsere Liebe immer eine Verbindung schaffen, auch in den Momenten, wenn du mich für die schrecklichste Mutter und ich dich für die streitbarste Tochter halte.

Lass uns daran denken, wie wir mit zwei Jahren so viel Zeit in der Klinik verbrachten und wie ich deinen kleinen Körper an mich schmiegte. Lass uns innehalten in diesen Momenten, die mir zeigen, wie groß du geworden bist und die mich stolz machen und mich zum Weinen bringen.

Mein großes Kind mit dem festen Willen und dem feinen Gesicht.

Wie wirst du sein wenn du erwachsen und älter bist als ich jetzt? Wirst du dann in der U-Bahn Platz machen für eine alte Frau und lächeln? Wirst du selbst Familie haben, eigene Töchter und Söhne, die dich immer wieder selbst in Frage stellen?

Ich fahre noch einige Stationen mit der schönen Dame vor mir und halte inne.

Auf dem Nachhauseweg nehme ich deine Hand, und du lässt sie mich heute halten. Ich erzähle dir von meiner Begegnung und du drückst meine Hand und sagst:

"Wer weiß schon, ob es dann noch die U-Bahn gibt, Mama", und vielleicht ist genau das die einzige Frage, die wir uns heute stellen sollten.

Text von Anne-Luise Kitzerow-Manthey, ursprünglich erschienen auf grossekoepfe.blogspot.de.

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