Anzeige

Kur für Mama "Viele Mütter sind nicht mehr handlungsfähig"

Kur für Mama: Mutter genervt, Familie im Hintergrund
© SDI Productions / Getty Images
"Mach doch eine Kur!" Das ist ein gut gemeinter Rat, doch die Wartezeiten sind lang. Dabei, sagt Yvonne Bovermann vom Müttergenesungswerk, waren Frauen mit Kindern noch nie so überlastet.

BRIGITTE: Frau Bovermann, Sie haben unlängst Alarm geschlagen, weil die Kur-Anfragen beim Müttergenesungswerk nach oben schnellen. Ist das ein Nachholeffekt aus den Pandemie-Jahren?

Yvonne Bovermann: Nicht nur, da kommt vieles zusammen. Die Zahl der Mütter, Väter und pflegenden Angehörigen, die bei ihrer Krankenkasse eine Kur beantragen, weil sie aus medizinischer Sicht völlig überlastet sind, ist im Vergleich zu 2019 ganz erheblich gestiegen. In unseren 73 Kliniken können wir jährlich zwar 50 000 Eltern und 70 000 Kinder aufnehmen. Dennoch muss man momentan mit Wartezeiten von bis zu einem Jahr rechnen. Das ist schlimm, denn speziell für die Mütter gilt: Sie kommen viel überforderter zu uns als in der Zeit vor der Pandemie – verunsichert, dünnhäutig, ängstlich.

Woran merken Sie das?

Ihnen ist die totale Erschöpfung ins Gesicht geschrieben. Man sieht es auch auf den Fotos, die in einigen Kliniken bei der Ankunft für die Patient:innen-Akte gemacht werden. Viele Frauen sind gar nicht mehr handlungsfähig und sehnen sich nur noch danach, für eine Weile nicht mehr funktionieren zu müssen.

Was überfordert Eltern zurzeit am meisten?

Wir sehen die Belastungen, die Menschen aushalten müssen, ja immer im Nachhall. Wer jetzt kommt, ist von Corona gezeichnet, durch die Erkrankung an Long Covid oder die langen Phasen mit Homeoffice, Homeschooling, Haushalt, nicht zu vergessen: die Sorge für die alten Eltern. Auch ganz viele Beamtinnen und Lehrerinnen brauchen aktuell Beratung und Hilfe – Berufsgruppen also, die mit vielen Anforderungen und großer Unsicherheit konfrontiert waren. Das scheint doch nachzuwirken.

Die meisten Mütter, die zu Ihnen kommen, sind erwerbstätig?

Fast alle. Aufgrund der ungleichen Einkommen gilt jedoch zu Hause: Wer kocht, putzt, bügelt, kauft ein, kümmert sich um Schularbeiten und Hund? Die Mütter natürlich. Das führt oft zu Konflikten. Wir merken, dass es in viel mehr Beziehungen kriselt als vor Corona.

Welche Erkrankungen behandeln Sie in Ihren Kliniken am häufigsten?

Überlastung und Burn-out-Symptome, oft begleitet von psychosomatischen Leiden: Asthma, Haut- und Rückenprobleme, Tinnitus und Magen-Darm. Seit der Pandemie haben wir es auch vermehrt zu tun mit den Folgen von Bewegungsmangel und falscher Ernährung, viele haben ziemlich zugenommen. Für unsere Kurangebote zu diesem Thema interessieren sich aber nur wenige – wegzukommen von dem, was man gern isst, fällt schwer.

Wie sieht eigentlich ein typischer Kurtag aus?

Kuren sind ja kein Urlaub, sondern eine Kombination aus Therapie und Erholung. Daher ist ein typischer Tag ein Puzzle aus Gruppen- und Einzelbehandlungen, psychotherapeutischen Gesprächen und Körpertherapien. Massagen sind sehr beliebt. Weil sie so unmittelbar guttun. Dazu empfehlen wir begleitende Maßnahmen – wenig Handy, wenig Fernsehen –, auch das dient der Erholung und dem Kraftschöpfen.

Auch reine Mütter-Kuren sind natürlich sinnvoll, doch dazu entschließen sich nur zehn Prozent der Frauen. Denn was nutzt eine Auszeit ohne Nachwuchs, wenn die Mütter mit ihren Gedanken dauernd daheim sind aus Sorge, was da abläuft? Außerdem kann so eine Mutter-Kind-Kur wichtig sein, um eine belastete Beziehung zu verbessern. Eine Frau mit suchtkrankem Partner lernte beispielsweise in den drei Wochen bei uns, mit ihrer Tochter offener über dieses belastende Problem zu reden, bisher hatte sie immer versucht, es vor ihr zu verbergen. Tatsächlich haben die beiden nun ein vertrauteres Verhältnis. Auch die Väter kommen übrigens fast immer mit ihren Kindern.

Obwohl bei uns das gesamte gesellschaftliche Spektrum vertreten ist – Kassiererinnen, Handwerker, Professorinnen, Manager –, ist bei fast allen Müttern ein Thema ganz oben: mangelnde Anerkennung, zu Hause und im Job. Die Väter leiden dagegen oft unter mangelnder Familienzeit. 80 Prozent von ihnen sind Hauptverdiener und arbeiten 40 Wochenstunden und mehr, runterschrauben ist selten möglich. Ein Vater erzählte, seine Chefin habe ihn für ein Weichei gehalten, als er eine Vater-Kind-Vorsorge beantragen wollte.

Tatsächlich kommen im Moment zum großen Teil Frauen, die gefährlich tief in einer Krankheit stecken. Und wir versuchen, eine Chronifizierung zu verhindern. Dafür wurde die "Therapeutische Kette" geschaffen: Vor und nach den Klinikaufenthalten können sie sich in unserem Netz von Beratungsstellen Beistand und Rat holen. Und wir setzen alles daran, durch ein Nachsorgeprogramm ambulante Anschlusstherapien sicherzustellen.

Die Rahmenbedingungen, die die Familien belasten, können wir natürlich nicht ändern. Aber wenn eine Mutter nach der Kur anfängt, ihre Bedürfnisse zu äußern, Grenzen zu setzen und die überfordernden familiären Strukturen zu verändern – dann ist das schon sehr toll.

Yvonne Bovermann

Yvonne Bovermann ist gelernte Hebamme und leitet seit Oktober 2021 das Müttergenesungswerk. Die Stiftung wurde 1950 von Elly Heuss-Knapp, Frau des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss, gegründet. Sie finanziert mit Spenden Maßnahmen für bedürftige Eltern und ihre Kinder sowie pflegende Angehörige. Getragen wird sie von verschiedenen Sozialverbänden wie der Arbeiterwohlfahrt, der Caritas und dem DRK.

Brigitte

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel