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BRIGITTE-Kolumne "Kopfkarussel" Nicht nur Erwachsene sind mütend: Unsere Kinder sind es auch!

Kopfkarussel: Kind lehnt gegen die Wand
© Fizkes / Shutterstock
Heute Video-Konferenzen, morgen Präsenzunterricht – und dann doch wieder Schule im eigenen Kinderzimmer: Unsere Kinder sind mütend. Sie sind erschöpft vom Spagat zwischen ständig wechselnden Regeln und Umständen, in denen sie gerade aufwachsen. Und sie sind wütend, weil sie auf so vieles verzichten müssen, was vorher selbstverständlich war. Spricht nur kaum eine*r drüber, findet unsere Autorin, die selbst Mutter ist.

Ich nehme mir drei Sekunden und frage die große Suchmaschine mit den bunten Buchstaben nach den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf unsere Kinder – die Ergebnisliste stimmt mich nachdenklich: Wohin sich mein Blick auch wendet, kreisen die Themen entweder um Eltern, die sich täglich neuen Herausforderungen im Pandemiealltag stellen müssen, Politiker*innen, die sich nicht einigen können, oder Lehrkräfte, die auf die Barrikaden gehen. Ganz gleich, wie individuell die Probleme der Menschen gerade sind, eines haben sie alle gemeinsam: Sie sind mütend. Aber was ist eigentlich mit unseren Kindern? Die dürfen nach über einem Jahr Corona mindestens genauso mütend sein!

Kinder müssen besonders viel aushalten in Zeiten der Corona-Pandemie

Umgeben von Büchern, Zettelchaos, einem angeknabberten Müsliriegel und ein paar Stiften, sitzt ein Junge – zwölf, vielleicht dreizehn Jahre alt – der Kopf versteckt sich im Rundhalsausschnitt seines bunten Pullovers. Dieses Bild, über das ich auf Instagram stolperte, spricht Bände: Der Junge braucht dringend eine Pause. Einerseits erschrecken mich derartige Aufnahmen, weil ich fröhliche Kinder auf blumigen Wiesen und matschigen Fußballplätzen lieber mag. Ohne Abstands- und Kontaktregeln.

Gleichzeitig denke ich mir: Die Pandemie ist nun mal da und wir können ganz schön stolz darauf sein, was unsere Kinder in diesen Zeiten alles wuppen! Sie müssen auf Sportverein und Geburtstagspartys verzichten, auf Praktika, Bildungsreisen und Familienurlaub. Den Schulstoff erarbeiten sie sich überwiegend allein, während sie in ihrer Freizeit in digitalen Lerngruppen für Klausuren und Buchvorstellungen üben. Dabei müssen sie sich selbst beibringen, auf welche Softskills es bei einer Präsentation ankommt – und nicht selten sind es YouTube-Videos, die ihnen dabei helfen. Digital können sie nämlich. Aber das Lernen vorm Bildschirm ist auch anstrengend und Kinder brauchen digitale Balance.

Lernen in der Pandemie bedeutet ein Maximum an digitaler Konfrontation. Wenn ich darüber nachdenke, wie sehr mir der Kopf nach der 8. Stunde Französisch im stickigen Klassenzimmer meiner alten Schule geraucht hat, dann mag ich mir gar nicht vorstellen, wie sich der 13-jährige Sohn meiner Nachbarin nach acht Stunden digitaler Dröhnung am Computer fühlt. Er hat allen Grund, mütend zu sein.

Die Digitalisierung öffnet Türen – doch der digitale Dauerrausch ist belastend

So ein Schultag war schon immer anstrengend. Für die einen mehr, für die anderen weniger – froh waren wir alle gleichermaßen, wenn die Glocke zum Schulschluss ein letztes Mal läutete. Daran hat sich auch mit Corona nichts geändert. Am Unterrichtskonzept und den digitalen Möglichkeiten schon: Als ich in der 9. Klasse war, bekamen wir "Computer" als Schulfach. Fortan durften wir eine Stunde pro Woche im neuartigen Computerraum verbringen.

Während die Hälfte der Schüler*innen damit beschäftigt war, in den Suchmaschinen nach Genitalien zu suchen, haben die anderen vergeblich versucht, eine Verbindung mit dem Internet herzustellen. Da das Hochfahren der Rechner schon zehn Minuten in Anspruch nahm, war die Stunde fast wieder vorüber, bevor sie überhaupt angefangen hatte. Das war’s auch schon mit der digitalen Medienerziehung. 

Es sind nicht nur Schulkinder, denen die Situation viel abverlangt

Während die älteren Schulkinder ihr altes Leben vermissen und sich mit ihrem neuen Schulalltag arrangieren, erlebten tausende Schulanfänger*innen ihre Einschulung mitten in der Pandemie. Die Kleinen kennen Schule nicht anders. Was die Großen da gerade so sehr vermissen, verstehen sie kaum. Diese unterschiedlichen Anforderungen in den Jahrgängen, vom Schulanfang bis zum -abschluss, verlangen unseren Kindern seit über einem Jahr ein gewaltiges Spektrum an Kompetenzen ab.

Sie erleben Kitaeingewöhnungen, in denen sie ohne ein Lächeln der Erzieher*innen eine Bindung aufbauen müssen, weil die Münder der neuen Bezugspersonen sich unter einer FFP2-Schutzmaske verstecken. Und sind wir mal so richtig ehrlich: Eine Kitaeingewöhnung in Zeiten der Corona-Pandemie ist ja schon Luxus. Die meisten Kleinkinder, die ich kenne, waren seit Beginn dieses Jahres keine zehn Tage im Kindergarten oder in der Tagespflege – schon gar nicht beim Babyschwimmen, in der Krabbelgruppe oder mit Mama oder Papa beim Kinderturnen.

Kinder sind auf unsere Unterstützung angewiesen – auch im Umgang mit dem Internet

Ich frage mich, wie wäre es für mich als Kind der 90er Jahre gewesen, eine Pandemie zu erleben? Ich stelle mir vor, wie ich als Teenager alleine vor einem Haufen Matheaufgaben gesessen hätte, ohne Computer, Google und YouTube – Nur Pythagoras und ich. Horrorszenario! Wahrscheinlich hätte ich den halben Tag mit meiner Freundin telefoniert, Festnetz versteht sich, mir buntes Kaugummi im Kiosk nebenan besorgt, wäre Inliner gefahren – und am Ende des Tages ziemlich unzufrieden mit meinem Discman ins Bett gefallen. Ich hätte allen Grund dazu gehabt, mütend zu sein, auch ohne digitalen Vollrausch.

Kinder- und Jugendpsychologen erleben einen regelrechten Ansturm auf Therapieplätze, weil die Heranwachsenden zunehmend unter den Kontaktbeschränkungen und dem enormen Druck leiden. Und die Erwachsenen? Die hörte ich dieser Tage sagen, dass mit Smartphones und Internet ja zum Glück alles so einfach ist. Das ist leicht gesagt und entspricht nicht der Realität.

Nachhilfeprogramm vom Bund soll Wissenslücken der Schüler*innen schließen

Bis zu 25 Prozent aller schulpflichtigen Kinder haben laut Bildungsministerin Karliczek wegen der Corona-Pandemie Wissenslücken. Diese sollen durch ein Nachhilfeprogramm geschlossen werden. Das Angebot startet im Herbst 2021. Bis dahin vergeht ein weiteres halbes Jahr – die Wissenslücken haben also genügend Zeit weiter zu wachsen.

Hinzu kommen die individuellen Umstände und Ängste, mit denen die Kinder fertigwerden müssen: Wie lange wird die Pandemie noch andauern? Wird überhaupt alles wieder so wie früher? Was, wenn ich einen geliebten Menschen verliere oder selbst erkranke? 

Der digitale Fortschritt bietet uns zweifelsohne hervorragende Möglichkeiten, doch die negativen Folgen der sozialen Isolation bleiben die gleichen. Es interessiert die Gefühlswelt nämlich nicht, dass diese chaotischen Zustände im Jahr 2021 existieren und nicht 1999. Schon gar nicht, ob die Kinder ein Smartphone in den Händen halten oder mit den Fingern an der Schnur des Festnetztelefons herumspielen, während sie ihrem Ärger versuchen Luft zu machen.

Wir können stolz sein auf unsere Kinder

Und obwohl das Alltagschaos für alle immer konfuser wird, machen die Kleinsten weiterhin jeden Tag Fortschritte. Sie entwickeln sich zu Kleinkindern, die ihre Welt kennenlernen wollen und unser Leben in dieser anstrengenden Zeit bunter machen. Wir können stolz sein auf all die kleinen Entdecker*innen, die sich von der Pandemie nicht unterkriegen lassen und uns täglich daran erinnern, uns mehr an den kleinen Dingen zu erfreuen und unsere Blicke auf das Wesentliche zu richten – genauso auf all die mütenden Kids da draußen, die trotz Leistungsdruck und ständig jammernden Erwachsenen (!) immer noch ein Lächeln auf den Lippen haben. Wir dürfen nicht vergessen, wie sehr sie uns gerade brauchen.

Brigitte

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