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Warum ich jetzt viel seltener "Nein" zu meinem Kind sage

Was passiert, wenn man 24 Stunden lang alle Fragen des Kindes mit "Ja" beantwortet? Ein Selbstversuch mit überraschenden Folgen.

Es ist ja so: Auf gefühlt 90 Prozent der Fragen unserer Kinder antworten wir mit "Nein". Spaß macht das nicht. Aber es muss ja sein. Oder? Was passiert denn, wenn wir einfach mal alles abnicken statt verbieten? Gerät dann alles außer Kontrolle? MOM-Redakteurin Michèle Rothenberg hat den Selbstversuch mit ihrer Tochter (5) gewagt.

6:13 Uhr: "Mama! MAMAAA, wach auf!"

"Hä? Hmhm, nee, lass mich – ach MIST, ich darf ja nicht ... Jaja, ist gut, ich mach schon."
Toll. Sonntagmorgen und ich stehe um 6:30 Uhr in der Küche und koche Kakao. Vielleicht will sie ja einen Film schauen oder ein Hörspiel gucken, während wir noch ein bisschen dösen ...

6:50 Uhr: "Mama! Trinkt ihr den Kaffee heute bei mir im Zimmer?"

"Äh, aber wo denn, da sind ja gar nicht genug Stühle und kein Tisch ..."

Netter Versuch, aber keine Hürde für unsere fünfjährige Gastgeberin. Den Kaffee trinken wir schließlich mit Teddy und Tiger auf einer Picknickdecke. Eigentlich ganz gemütlich.

08:21 Uhr: "Wollen wir Topfschlagen spielen?"

"Wie kommst du denn jetzt darauf? Vorm Frühstück? Mit Süßigkeiten? Ja, na gut."
Ich rutsche auf meinen 38 Jahre alten Knien auf dem Boden herum, während das Kind vor Glück juchzt. Und ich dachte, sie würde während des Selbstversuchs vor allem fernsehen wollen. Ich bin so naiv.

09:36 Uhr: "Und jetzt spielen wir Zirkus, Mama!"

"Ich würde lieber frühstücken. Kein Hunger? Okay, kann ich das Publikum sein? DER CLOWN?? Uff."

Wo nehmen Kinder diese Energie her? Und warum sind Erwachsene so träge? Können wir nicht den gleichen Spieltrieb haben? Oder würden wir dann alle verhungern? Der ungewohnte Tagesablauf bringt mich ins Grübeln, während ich seiltanzend Elefantengeräusche mache. Wir lachen viel.

11:23 Uhr: Kann ich Honig mit dem Löffel essen? "

"Jaja, und Nutella auch, klar."

Endlich sitzen wir am Tisch. Also der Mann und ich sitzen, vom Kind ist wenig zu sehen. Erst unterhält sie sich mit einer Katze am Fenster, dann klebt sie sich eine Perle ans Ohr, am Ende isst sie ihr Brot im Bett, weil sie "so müde" ist. Kein Wunder.

14:03 Uhr: "Ich will heute in den Central Park!"

"Oh, nicht auf den Spielplatz? Ja, also – gern!"

Da, ein Wunsch nach meinem Geschmack! Der "Central Park" ist ein Hamburger Beach Club und normalerweise sehen unsere Besuche so aus: Ich sitze im Liegestuhl, während die Tochter mit den anderen Kindern spielt. Doch heute ist nichts normal. Erst darf ich die mitgebrachten Mandalas ausmalen, dann lasse ich mich bis zum Bauch im Sand einbuddeln. Immerhin: Ein paar Hipster gucken anerkennend, während ich den Sand aus den Schuhen kippe. Lustige Muddi. Harr harr.

16:25 Uhr: "Kann ich noch ein Eiiis?"

"Klar. Ist ja erst das vierte heute." 

Ich schaue zu, wie das Kind in Winterstiefeln (es sind 20 Grad) zur Eistruhe rennt. Ihren Lolli wirft sie achtlos in den Müll. Ich trinke den dritten Kaffee und bekomme Kopfweh. 

18:41 Uhr: "Ich will aber noch nicht nach Hause!!"

"Nein? Aber dann kannst du noch 'Yakari' gucken und ich mache Pfannkuchen ..."

Langsam merkt die Tochter, dass sie heute der King ist und wird zur Despotin. Ich schubse mechanisch die Schaukel. Das Kopfweh nimmt zu. Ob das Migräne ist? Es dauert eine Stunde, bis ich sie ohne Nein-Sagen zum Gehen bewegt habe.

20:39 Uhr: "Wollen wir Anna und Elsa spielen?"

"Och. Bist du gar nicht müde?"

Natürlich nicht. Den „Tatort“ kann ich vergessen. Stattdessen schicke ich Eisblitze durchs Wohnzimmer, flechte Zöpfe und singe über Sehnsucht und Liebe: "Ich bin frei, endlich frei... "

22:07 Uhr: "Ich hab Hunger! Kann ich ein Schokomüsli?"

"Jetzt noch? Du hast doch eben Kekse ... Ja-ha, okay."

Ich frage Google, wie viel Zucker ein Kind vertragen kann und stelle die Kotzschüssel neben das Bett. Das berauschte Kind wirft zum dritten Mal das "Mensch ärgere dich nicht"-Feld um.

23:28 Uhr: "Mama, schläfst du heute bei mir?"

"Jaja. Wie, jetzt, sofort? ECHT? Das ist gut. Sehr gut. Bauch kraulen mach ich auch. So gut? Ich dich auch. Sehr."

Was habe ich durch dieses Experiment gelernt?


Vier erstaunliche Dinge hat mich dieser Selbstversuch gelehrt:

  1. Keine der Fragen hat mein Kind ernsthaft gefährdet. Ich hatte fest damit gerechnet, dass die Fünfjährige sich mit ihren Wünschen spätestens nach drei Stunden in akute Lebensgefahr bringt. Ist nicht passiert. Sie war so sehr mit Spaßhaben beschäftigt, dass sie gar nicht auf die Idee kam, ein Lagerfeuer anzuzünden oder den Zirkus um eine Messer-Werf-Nummer zu erweitern. Das Kind ist viel kompetenter, als ich dachte.
  2. Fast alle Wünsche hatten das Ziel, Zeit mit mir zu verbringen. Diese Erkenntnis hat mich etwas beschämt. Sie führte mir vor Augen, dass meine vielen "Neins" sie oft gar nicht vor Schlimmem bewahren, sondern von schönen Erlebnissen abhalten – und zwar mit mir. Und sehr oft lehne ich einfach nur reflexhaft ab, weil ich zu faul bin oder glaube, dass etwas anderes gerade viel dringender ist. Aber wenn man mal ehrlich nachdenkt, gibt es oft keine echten Gründe, die dagegen sprechen. Künftig werde ich mich daher möglichst oft erstmal fragen: Ja, warum eigentlich nicht?
  3. Wer öfter "Ja" sagt, hat mehr Spaß! Es lohnt sich wirklich, den Kindern ab und zu das Ruder in die Hand zu geben – auch für uns. Es reißt nicht nur aus dem alltäglichen Trott – man bekommt auch neue Perspektiven, sei es, weil man unter dem Hochbett frühstückt oder durch das Bummeln einen schönen neuen Nachhauseweg entdeckt.
  4. Trotzdem: In dieser Dosis würde ich es keine Woche überleben. Und die Zähne meines Kindes vermutlich auch nicht. Aber es gibt ja zum Glück Kompromisse.

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