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Mütter über ihr Leben mit behindertem Kind: "Wie anders sind wir eigentlich?"

Antje Kunstmann und Oda Albers haben beide ein Kind mit Behinderung, doch die Wahrnehmungen sind sehr unterschiedlich. Ein Gedankenaustausch zweier Mütter.

ANTJE:An den Moment, ab dem ich wusste, dass unsere Tochter behindert war, erinnere ich mich noch ziemlich genau. Es folgten weitere Diagnosen, aber als Erstes wurde festgestellt, dass Tula gehörlos zur Welt gekommen ist.

ODA: Wann war das?

Tula war gerade drei Monate alt. Es war ein Sommertag, heiß, schwül, später sollte es noch ein Gewitter geben. Die Ärztin legte ihre Hand auf mein Knie, als sie mir die Diagnose verkündete. "Ich weiß genau, wie Sie sich jetzt fühlen", sagte sie dann.

Und wie hast du dich gefühlt?

Ich weiß bis heute nicht, wie ich mich fühle. Mal so, mal so. Ich wusste damals nur, dass ich nach Hause wollte, meinen Freund anrufen, von der Diagnose berichten, die mir gerade eröffnet worden war, auf jeden Fall weg von dieser blonden Frau im weißen Kittel, die scheinbar Dinge wusste, die ich nicht wusste.

Und danach?

Ein paar Tage später hielt ich unsere Tochter im Arm und dachte, ich lass mir doch die Freude an meinem Kind nicht nehmen durch irgendein Testergebnis. Für mich ist dieses Kind perfekt. Und wie war das bei euch?

Ein paar Tage nach Jarons Geburt schrieb der Kinderarzt "schöner, prächtiger Knabe" recht altmodisch ins Untersuchungsheft. Stimmt, dachten wir und bestaunten ihn. Könnte man wirklich vor Glück platzen – es wäre uns passiert. Man, war das schön! War der schön! Mit zwei Wochen bekam Jaron dann Fieber, kam in die Klinik. Sie fanden: nichts. Fünf Tage später war klar: Er hatte eine schwere Entzündung des Hirns. "Wir wissen nicht, ob er das überlebt – und auch nicht wie", sagten die Ärzte auf der Intensivstation nun.

Und wie ging es dir?

Der Boden unter mir war wattig, mein Herz ein stechender Klumpen. Seitdem weiß ich erst, wie Angst sich anfühlt. Nach drei Wochen sagten sie: "Vielleicht erholt er sich, vielleicht wird er schwerbehindert. Alles Gute!"

Ihr wusstest also gar nicht, wie euer Leben weitergeht ...

Wir wussten nur ziemlich schnell, dass wir nun anders waren. Auf der Straße traf ich die Mütter aus der Geburtsvorbereitung. Sie strahlten und hatten so ihre Sorgen: Ob man Mädchen einen grünen Pucksack anziehen kann. Zu maskulin, oder? Lieber rosa? Unser Leben war kein rosaroter Pucksack. Stattdessen Hoffen und Bangen. Und Demut, dass unser prächtiger Knabe da ist. Lebt.

Solch dramatische Situationen kennen wir nicht. Unsere größte Herausforderung ist es – immer wieder neu –, Antworten zu finden auf die Frage: Wie kann dieses Kind trotz aller Handicaps und genau wie seine nichtbehinderten Geschwister seinen Weg gehen, seine Talente leben, sein Glück finden, und wie können wir Eltern dabei unterstützen?

"Eure ganz normalen Sorgen möchte ich haben", ich gebe zu, dass mir dieser Gedanke schon mal gekommen ist. Wenn zum Beispiel mal wieder auf dem Elternabend mit großer Ernsthaftigkeit diskutiert wurde, ob es in der KiTa zum Frühstück Milch mit 1,5 oder mit 3,5 Prozent Fettanteil geben soll. Heute sehe ich das entspannter – jeder hat oder macht sich eben seine eigenen Probleme – und bin dankbar, zumindest für uns zu wissen, was wirklich wichtig ist und was nicht.

"Dieser Wettbewerb unter Müttern, wer ist am schlimmsten dran"

Fühlst du dich Müttern, die auch Kinder mit Behinderungen haben, näher?

Manchmal tut der Austausch mit ihnen gut – das schon. Was mich wundert: Dass es auch unter ihnen oft kein "Wir" gibt. Das sei für sie gar keine echte Behinderung, sagte die Mutter eines schwer mehrfachbehinderten Kindes über Tula mal zu mir. In einem anderen Gespräch fiel, bezogen auf das Down-Syndrom, das Wort "Luxus-Behinderung".

Diesen "Wettbewerb", wer ist am schlimmsten dran, kenne ich auch.

Es ist halt das alte Lied von der mangelnden Solidarität unter Müttern, aber hier klingt es für mich besonders schräg. Erlebst du auch diese Unsicherheit da draußen: Darf man das eigentlich noch sagen, „behindert“? Oft werde ich gefragt: Was sagst du denn? Und tatsächlich fiel mir dieses Wort erst mal schwer, lange habe ich gerungen.

Was hast du stattdessen gesagt?

Anders. Besonders. Speziell. Autistisch ist er – das ist als Folge der Hirnentzündung geblieben. Und das ist eine Behinderung. Etwas hindert, behindert ihn, so zu sein und zu leben wie die meisten. Heute benutzt du das Wort also selbst? Ja, aber ich bestehe auf: Kind mit Behinderung. Mensch mit Behinderung. Nicht Behinderte. Denn es gibt ja nicht Menschen, Kinder, Vögel, Bäume und Behinderte. Es gibt Menschen mit Behinderung und ohne. Mein Sohn hat eine Behinderung, er ist ein Kind mit Behinderung. Was helfen würde, dieses Wort nicht so schwierig zu finden: es nicht als Schimpfwort zu benutzen. Es einfach denen zu lassen, die etwas behindert.

Wir haben anfangs sogar gezögert, einen Schwerbehindertenausweis zu beantragen. Weil er die Endgültigkeit dieses Wortes "Behinderung" offiziell macht, in nüchterne Zahlen (Grad der Behinderung: 100) und Buchstaben übersetzt (H für hilflos, Gl für gehörlos, G für erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit). Ärzte, Therapeuten, Pädagogen kreisen um diese Defizite. Manchmal führt das zu Spannungen: Für einige von ihnen ist unser Kind ein Mangelwesen und sie treten auf als Experten des Mangels, für uns ist der erste Experte für Tula immer sie selbst.

Was heißt das?

Dass wir sie fördern, aber nicht um jeden Preis. Wir haben andere Kinder – die sollen nicht zu kurz kommen –, und sie selbst darf eben auch ein ganz normales Kind sein, spielen, frei sein.

So sehe ich das auch. Ich zerre Jaron auch nicht zu jedem Experten, zu jeder Therapie. Trotzdem brauchen unsere Kinder größere Aufmerksamkeit ...

"Manchmal denke ich: Was gäbe ich, wenn's anders wäre."

Ja, das heißt auch nicht, dass ich jubiliere, wenn Tula mal wieder gestürzt ist, wie man ohne Fremdeinwirkung eigentlich nicht stürzen kann. Wenn sie hilflos schreit, weil die Lichtverhältnisse etwas schummriger werden, sodass sie nichts mehr sehen kann. Oder wenn sie brüllend auf dem Bürgersteig sitzt, weil ihr irgendetwas zu schnell oder zu sehr gegen ihren Willen geht. Das alles ist traurig, anstrengend, ärgerlich, und ich denke tatsächlich manchmal kurz, was gäbe ich, wenn's anders wäre ...

Ist es aber nicht.

Genau. Und im nächsten Moment weiß und fühle ich dann auch wieder, wie glücklich mein Freund und ich sind mit unseren Kindern, von denen jedes so umwerfend einzigartig ist – und eines von innen leuchtet, sobald es lächelt. Wie ein Licht, das alle ansteckt. Das kann nur Tula. Danke dafür.

Dieses Leuchten kenne ich auch. Und ein so unfassbares Gegacker, wenn Jaron schaukelt. So sehr, dass mal ein Mädchen neben uns sagte: "Papa, ich möchte auch so lachen können wie der Junge da." Es stimmt: Unsere Kinder können vieles nicht, was andere können ...

... aber sie können eben auch etwas, das kaum einer kann.

Und deswegen verdienen sie eine Hommage. Eine Hommage an die Besonderen, die Unverstellten. An die, die etwas behindert, so doof, so leistungsorientiert, so gleichgeschaltet zu sein wie wir. An die, die lachen, wenn man nicht lachen darf. Die, die mit den Füßen trampeln, wenn sie sich freuen. Die einen so doll umarmen, dass der Hals schief wird, aber das Herz am rechten Fleck haben. Die, die nicht reden können und doch alles sagen. Die, die uns beibringen, wie bedingungslose Liebe geht – und tiefste Verzweiflung. Niemand kann so an meinen Nerven sägen wie mein Sohn, wenn er Geräusche macht, um sich zu spüren. Gerade ist es ein lauter Pfiff. Er macht ihn etwa alle 30 Sekunden, Tic nennt man das. Der Pfiff geht durch mein Ohr ins Hirn, in meine Nerven und Glieder. Ich wusste nicht, welche Kraft und Geduld in mir steckt, was ich aushalten und leisten kann. Sogar: Danke dafür! "Diese Kinder sind eine Bereicherung – für die ganze Gesellschaft. Wir brauchen sie!", sagt auch Eva Jürgensen, die ich für die BRIGITTE interviewt habe. Sie ist Mutter der schon 20-jährigen Lea, die das Down Syndrom hat.

"Kinder mit Behinderung sind doch kein sozialer Weichspüler"

Bereicherung, das Wort finde ich schwierig. Für unsere Familie – jedes unserer Kinder macht mich "reicher", ich fände es unfair, eines herauszuheben – und für die Gesellschaft ebenso.

Warum?

Unsere Tochter war in einem "normalen" Kindergarten, sie geht im Zuge der Inklusion auf eine Regelschule. Von anderen Eltern erleben wir praktisch nur positive Reaktionen, von den Kindern sowieso. Dafür bin ich dankbar.

Und doch: "Wir finden es so wichtig, dass unsere Sophie Kontakt zu Behinderten hat, damit sie Toleranz lernt", höre ich oft, und manchmal nervt mich das: Tula ist doch kein sozialer Weichspüler! Schätzt sie bitte um ihrer selbst willen und nicht aus letztlich egoistischen Gründen, weil sie euch oder eure Kinder mit ihrer Behinderung "bereichert".

Und was ist eigentlich, wenn Behinderung nicht bereichert, sondern belastet?

Genau. Lassen wir diese Menschen dann nicht mehr mitmachen? Hören Toleranz und Inklusion dort auf, wo wir unsere eigenen Bedürfnisse und Wünsche vielleicht auch mal einschränken müssen? Wie viel sind denn "gleiche" Rechte wert, wenn immer nur die eine Seite sagt, was Gleichheit bedeutet und wie viel davon sie erträgt?

Ja, da herrscht eine Doppelmoral. Genauso wie beim zweiten großen Thema: der Pränataldiagnostik. Wir reden darüber, was wir alles in der Schwangerschaft untersuchen können. Schrägstrich: sollten. Und dann ja nicht bekommen müssen. Immer einfacher wird das. Prima? Wir vergessen dabei, dass wir nicht "was" abklären, sondern "wen".

Ärzte debattieren, was lebenswert ist, die Gesellschaft nickt ratlos, und dann wundern wir uns, dass es später in der KiTa, auf dem Spielplatz oder in der Schule mit der Inklusion nicht so läuft. Komisch!? Trotz Gleichstellungsbeauftragten, Eingliederungshelfern und vieler Rampen. Fällt denn niemandem auf, wie schizophren das ist? Drei Jahre vorher noch Grund für eine Abtreibung, nicht lebenswert, nun ein Mensch mit den gleichen Rechten?

Zumal nur knapp fünf Prozent aller Behinderungen angeboren sind. So sehr wir uns und anderen also Gesundheit wünschen – Krankheit, Schwäche, Behinderung gehören zum Leben dazu.

Info: Behinderte in Deutschland

Mehr als siebeneinhalb Millionen sogenannte Schwerbehinderte gibt es in Deutschland, das heißt, bei ihnen ist im Schwerbehindertenausweis ein Grad der Behinderung von mindestens 50 bis maximal 100 vermerkt. 173950 sind unter 18 – übrigens waren es in dieser Altersgruppe vor 30 Jahren noch etwa ein Drittel weniger. Jeder von ihnen, jede ihrer Familien ist anders. Das BRIGITTE-Dossier aus Ausgabe 5/2017, aus dem dieser Text stammt, zeigt ihr Leben: bereichert, belastet, einzigartig, besonders - ganz normal eben.

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Fallback-Bild
Ein Artikel aus BRIGITTE Heft 5/2017

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