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Eltern, bringt den Kindern das Schwänzen bei!

Eltern, bringt den Kindern das Schwänzen bei!
© Mendez/Corbis
Warum klagen heute schon Kinder, "im Stress" zu sein? Weil wir Eltern es ihnen vorleben, meint MOM-Autor Till Raether. Er plädiert dafür, öfter mal zu schludern und gnädig mit sich selbst sein.

Manchmal erschrecke ich,

wenn mir klar wird, was für Wörter die Kinder von mir gelernt haben. Es war keine gute Idee von mir, ein Schulhofgerücht beim Abendbrot als "Scheißhausparole" zu bezeichnen, das Wort hat den Kindern viel zu gut gefallen. Ich bin auch nicht glücklich darüber, dass das kleinere Kind mit einem alten Lieblingsausdruck von mir meine Aufforderung, es möge sich vorm Fernsehen schon den Schlafanzug anziehen und die Zähne putzen, als "gehirnamputiert" bezeichnet. Dies sind aus Kindermund schreckliche Wörter, deren militärischer bzw. pseudochirurgischer Ursprung nicht in die Familie passt, wie ich sie mir vorgestellt habe. Das schlimmste Wort aber, das meine Kinder von mir gelernt haben, ist "Stress". Ich erinnere mich noch, wie müde und traurig das größere Kind war, als es noch mehrere Dinge zu tun hatte und keine Zeit zum Rausgehen. Und als ich fragte, was denn jetzt schon wieder los sei und warum ich mir "ständig" dieses Gewimmere anhören müsse, antwortete es: "Papa, ich bin einfach total im Stress."

"Kindsein ist heute anstrengender denn je."

Es gibt eine doppelte und dreifache Lehre daraus. Die erste ist, dass die Anforderungen an Kinder heute viel zu hoch sind, der Druck, unter dem Kinder stehen, ist größer als je zuvor. Ich habe das immer bezweifelt und wollte das Gegenteil beweisen, aber alle Expertinnen und Experten, die ich interviewte, beharrten darauf: Kindsein ist heute anstrengender denn je. Stressiger, wie mein Kind sagen würde. Weil die Kinder unter einem enormen Leistungsdruck stehen, der alle Bereiche des Lebens beherrscht, und dem man sich so gut wie nicht entziehen kann. Vor allem nicht als Kind.

Klar, die Schule ist ein Teil davon, aber bei Weitem nicht der entscheidende: Die Experten sagen, dass die Eltern diesen Druck unbewusst an die Kinder weitergeben. Und das war die zweite Lehre aus dem Schreck, ein neunjähriges Kind über Stress reden zu hören: Nicht nur das Wort, sondern vor allem den Zustand hat es von mir gelernt, es sieht, wie sehr die Eltern unter Zeit-, Leistungs- oder Erfolgsdruck stehen und denkt, das ist normal, so ist das Leben.

Und die dritte Lehre ist: Das muss aufhören. Aber dem Kind sagen, "Du musst nicht gestresst sein", bringt nichts, im Gegenteil, das Kind wird denken, "Mist, jetzt muss ich ungestresst sein", und weil ihm das nicht gelingt, wird es noch gestresster sein. Gehirnamputiert, ich weiß, aber Kinder sind auch nur Menschen.

Nein, die Arbeit, möglichst wenig von unserem Stress an die Kinder weiterzugeben, müssen wir uns schon selbst machen. Glücklicherweise ist das ein recht einfaches Erziehungsprinzip. Früher habe ich gedacht, wenn ich mich drei viertel erkältet und halb unmotiviert gefühlt habe, nein, um Gottes willen, reiß dich zusammen, du musst zur Arbeit gehen. Um mich dann am Frühstückstisch vor Frau und Kindern als Märtyrer zu inszenieren und bei der Arbeit sinnlos rumzuschniefen und die Kolleginnen anzustecken. Inzwischen weiß ich, dass ich dadurch zu allem Überfluss auch noch den Kindern ein schlechtes Beispiel war (seht, man muss um jeden Preis leistungsbereit sein, euer armer Vater ist es ja auch). Es ist so eine Erleichterung. Nicht nur kann ich den Tag auf dem Sofa verbringen, vor allem sehen die Kinder: So geht's auch.

"Heute erkläre ich kurz, dass Irren menschlich sei und jeder mal was vergesse."

Wenn dem großen Kind abends um halb neun im Bett einfällt, dass es noch Mathe hätte machen müssen, habe ich früher meine Energie darein investiert, ihm eine Viertelstunde lang laut zu erklären, wozu es Aufgabenhefte gebe, und "Wo ist deins überhaupt?", und dann noch eine, um ein Zeitmanagement zu planen, mit dem Mathe morgen noch vorm Frühstück gemacht werden kann. Heute erkläre ich kurz, dass Irren menschlich sei und jeder mal was vergesse. Wenn das Kind dann trotzdem noch mal aufsteht und sich an den Tisch setzt, liegt das zumindest nicht an mir.

Till Raether (45) weiß, dass er sich hier auf dünnes Eis begibt: Auch die BRIGITTE MOM-Kolleginnen haben schon auf einen Text gewartet, während der Herr einen Ausflug mit den Kindern machte...
Till Raether (45) weiß, dass er sich hier auf dünnes Eis begibt: Auch die BRIGITTE MOM-Kolleginnen haben schon auf einen Text gewartet, während der Herr einen Ausflug mit den Kindern machte...
© Christina Körte

Okay, schwieriger ist für mich, dann nicht selbst noch am Sonntagnachmittag statt Ausflug einen Text zu schreiben, den ich eigentlich Freitagfrüh hätte abgeben müssen. Das kostet mich drei Minuten eine Wahnsinnsüberwindung, beschert mir aber einen schönen Sonntag und das herrliche Gefühl, ein gutes Vorbild zu sein.

Ich weiß nicht, ob meine Tochter später die vielen Tanzstunden zu würdigen wissen wird, zu denen wir sie oft gegen ihren Willen geschleppt haben (weil Kinder ja lernen müssen, auch mal was durchzuhalten). Aber ich glaube, an den Tag, als wir auf dem Hinweg feststellten, dass wir beide keine Lust auf Tanzen hatten und stattdessen lieber Kuchen essen gegangen sind, wird sie sich gern erinnern. Kinder müssen Schwänzen lernen. Um zu erfahren, dass es erlaubt ist, sich dem Leistungsdruck zu entziehen. Ihnen das vorzuleben, gehört vielleicht zu den schönsten Seiten des Elternseins überhaupt.

Text: Till Raether Ein Artikel aus BRIGITTE MOM Heft 4/2014

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