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Judith Grümmer Ein Hörbuch als Geschenk nach dem Tod

Familienhörbuch: Kind umarmt seine Mutter im Sonnenschein
© LumineImages / Adobe Stock
Was sie sammelt: Liebesgeschichten ans Leben. Wer sie ihr erzählt: Eltern, die bald sterben werden. Für wen sie es tut: die Familien, die zurückbleiben.

Wer zu Judith Grümmer kommt, will reden. Über den Geschmack von Hubbabubba und wie es sich anfühlte, als Kind eine Kaugummi-Blase hinzubekommen. Über Reisen, das erste Mal Händchenhalten, den Kuss, der alles veränderte. "Und immer", sagt Judith Grümmer, "beschreiben die Menschen die Liebe, die sie erfüllte, als sie Eltern wurden."

Die Frauen und Männer, mit denen sie spricht, sind todkrank und wissen, dass sie bald sterben werden. Doch sie wollen ihren Kindern ihre Geschichten mitgeben. "Aufgrund ihrer lebensverkürzenden Diagnose werden sie viele Dinge aber nicht persönlich erzählen können", sagt Grümmer. Früher hat die 65-Jährige als freie Hörfunkjournalistin für Medien wie WDR und Deutschlandfunk gearbeitet. Heute nimmt sie die Lebensgeschichten der erkrankten Eltern auf und macht daraus Hörbücher von bis zu zwölf Stunden Länge. Die helfen den Angehörigen später, die Erinnerung zu bewahren, und manchmal auch zu verstehen, wer Mama oder Papa eigentlich waren. "Die vertraute Stimme der Eltern ist für uns emotional wichtig, wir kennen sie seit dem Mutterleib. Trotzdem vergessen wir ihren Klang und ihren besonderen Tonfall sehr schnell", sagt Grümmer.

"Das Familienhörbuch" hat die Mutter dreier Söhne ihr 2017 initiiertes Projekt genannt. Sie war damals gerade in Rente gegangen, absolvierte eine Fortbildung im Bereich Palliativ-Care und konzentrierte sich dann auf die Idee, die sie während ihrer Zeit beim Rundfunk entwickelt hatte. Grümmer war dort schon immer die Frau für die schweren menschlichen Schicksale gewesen. Bereits als junge Journalistin hatte sie sich auf medizinische Themen spezialisiert, wurde auf die Palliativstation geschickt, zu krebskranken Kindern. "Ich hatte keine Berührungsängste." Dass Tod und Sterben für sie so früh ein Thema waren, hat auch mit ihrer Biografie zu tun. Ihre erste große Liebe starb, als sie 18 war. "Dieser Schmerz hätte mich lebensängstlich machen können. Stattdessen hat die Erfahrung meinen Blick für all das Schöne geschärft."

Ein großes Bedürfnis über die eigene Biografie zu reden

Als sie 2014 an einem Forschungsprojekt der Universitätsklinik Köln mitarbeitete, interviewte sie Palliativ-Patient:innen zum Thema "Was ist wichtig im Leben?" und stellte dabei fest, wie groß das Bedürfnis der Interviewten war, über ihre gesamte Biografie zu reden. Grümmer kontaktierte darauf den damaligen Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin und bekam Unterstützung für die Idee der Familienhörbücher.

Das Projekt wird nun wissenschaftlich von den Unikliniken Bonn und Heidelberg begleitet, auch um zu erforschen, wie sich die Hörbücher auf die Trauerarbeit in den Familien auswirken.

Eine Stiftung sorgte in den ersten drei Jahren für die Finanzierung. Seitdem wird die als gemeinnützig anerkannte GmbH durch Spenden finanziert. "Die Hörbücher sind für die betroffenen Familien kostenfrei", sagt Grümmer. "Um die Arbeit meiner Mitarbeiter und die technische Umsetzung zu realisieren, suche ich ständig nach Sponsoren, die uns unterstützen." 65 Audiografen und Sounddesignerinnen gehören inzwischen zu ihrem Team, die einen führen die Interviews, die anderen schneiden und produzieren das Material. Grümmer selbst führt die Geschäfte und nach wie vor auch viele der Interviews. Bis heute hat das Team an die 300 Aufnahmen umgesetzt.

Das Hören soll ein Geschenk sein – keine Belastung

Die meisten ihrer Mitarbeitenden werden als Selbstständige auf Stundenbasis entlohnt. Alle Audiograf:innen müssen eine Ausbildung inklusive psychologischer Schulung durchlaufen und Vorerfahrung im Führen von Interviews mitbringen. "So ein Gespräch erfordert neben Einfühlungsvermögen auch ein Bewusstsein dafür, wie man heikle Themen für die Kinder anspricht", sagt Grümmer. "Das Hören soll schließlich ein Geschenk und keine Belastung sein."

Idealerweise dauert die Zusammenarbeit zwischen Patient:in und Audiograf:in etwa drei Tage und findet in einem geschützten Raum statt. Das kann eine gemütliche Ferienwohnung sein oder ein schönes Hotelzimmer, organisiert von Grümmers Team. Manchmal verschlechtert sich der Zustand der Erkrankten aber derart schnell, dass die Aufnahmen im Krankenhaus gemacht werden müssen. Grümmer begleitete kürzlich einen jungen Vater, der plötzlich auf die Palliativstation musste und unbedingt sein Hörbuch fertigstellen wollte. Als Grümmer dort ankam, war die bereits versammelte Familie wie in einer Schockstarre. Aber dann verteilte der todkranke Mann Aufgaben: "Hol mal das Fotoalbum, das brauche ich für meine Erinnerung. Besorg mal das alte Mix-Tape und die olle Blockflöte." Und plötzlich wurde aus dem Warten auf den Tod ein gemeinsames Erinnern an gute Zeiten und frühere Erlebnisse. Der Mann habe all seine Kräfte mobilisiert und sein Hörbuch fertiggestellt, sagt Grümmer.

Es ist auch bei ihm keine Sterbensgeschichte geworden, das sind die Familienhörbücher nie. Viele Betroffene blickten nicht auf das abgeerntete Feld, sondern auf die vollen Scheunen. "Die Hörbücher sind keine Abgesänge auf Vergangenes", sagt Grümmer. "Es sind Zukunftsgeschenke für die Kinder. Das sind alles Liebesgeschichten ans Leben."

Brigitte

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